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Kein „türkischer Frühling“ – aber ein Ende des „türkischen Modells“?

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Kein „türkischer Frühling“ – aber ein Ende des „türkischen Modells“?

Von Gerd Schönwälder, Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE)

vom 24.06.2013

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Kein „türkischer Frühling“ – aber ein Ende des „türkischen Modells“?

Bonn, 24.06.2013. Die harte Reaktion der türki- schen Regierung auf die derzeitige Protestwelle unterminiert den Ruf der Türkei als regionale De- mokratie und damit ihre Fähigkeit, auf andere, weniger demokratische Staaten in ihrer Nachbar- schaft einzuwirken.

In den vergangenen Jahren ist die Türkei zu einem Modell für andere Staaten geworden, besonders seit der Revolten im Nahen Osten, die als Arabi- scher Frühling bekannt wurden. Der beachtliche wirtschaftliche Aufstieg, die erfolgreiche Zäh- mung der Generäle, die die türkische Politik solan- ge dominiert hatten, und die offenbare Fähigkeit, westlich geprägte Demokratie mit politischem Islam zu versöhnen, werden als Errungenschaften wahrgenommen, die sich andere gerne zum Vor- bild nehmen sollten.

Ihr neu gewonnenes Prestige verschaffte der Tür- kei zweifellos erheblichen neuen Einfluss in ihrer Region. Zum ersten Mal seit vielen Jahren war die Türkei in der Lage, aus ihrem osmanischen Schat- ten zu treten und ihre Beziehungen zu den Nach- barstaaten auf eine neue Grundlage zu stellen. Ihre

„Null-Problem“-Außenpolitik ebnete den Weg für die regionale Expansion der türkischen Wirtschaft und polierte zugleich das neue Image der Türkei als ein modernes, tolerantes und geistig offenes Land auf, das bereit war, seine eigenen Herausfor- derungen anzunehmen. (Das Kurdenproblem wie auch die Behandlung von Journalisten kommen in den Sinn: Die Türkei hat derzeit mehr inhaftierte Journalisten als der Iran oder China). Vielleicht am wichtigsten war der Demonstrationseffekt der Transformation des Landes, der es zu einem Leuchtturm für all jene im Nahen Osten machte, die für ihre eigenen Länder ähnliche Veränderun- gen anstrebten.

Die unbeholfene Reaktion der Regierung auf die aktuelle Protestwelle stellt all diese Errungen- schaften in Frage. Was als lokale Demonstration gegen die Umwandlung eines öffentlichen Parks in ein Einkaufszentrum begann, ist schnell zu einer landesweiten Revolte gegen die regierende Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) gewor- den. In einer breiten sozialen Bewegung, die viele Grenzen überschreitet – obschon überwiegend von jüngeren, gut ausgebildeten und säkularen Städtern gespeist – finden sich Türken zusammen,

um ihren Dissens gegenüber der zunehmend au- tokratischen Führung des türkischen Ministerprä- sidenten Recep Tayyip Erdoğan und einem Politik- stil zu äußern, den sie als polarisierend, anmaßend und paternalistisch wahrnehmen. Über die jüngs- ten Enttäuschungen hinaus – über ein neues Ge- setz, das den Verkauf von Alkohol einschränkt, Stadtentwicklungsvorhaben, die historisch ge- wachsene Stadtzentren zerstört haben oder die Neigung des Regimes, kontroverse Figuren der türkischen Geschichte zu glorifizieren – signalisie- ren die derzeitigen Proteste auch eine wachsende Kluft zwischen den Gruppen der türkischen Bevöl- kerung, die traditionellen und religiösen Idealen verpflichtet bleiben und anderen, säkulareren und moderneren Gruppen, von denen viele von den jüngsten Veränderungen profitiert haben und die nun mehr Mitsprache einfordern.

Diejenigen, die einen „türkischen Frühling“ her- aufziehen sehen, gehen an der Tatsache vorbei, dass die offensichtlichen Ähnlichkeiten zwischen Taksim- und Tahrir-Platz oberflächlich sind. Die Türkei bleibt ein demokratischer Staat, trotz seiner Unzulänglichkeiten und ungelösten Probleme.

Doch die harte, fast hysterische Reaktion des Re- gimes auf die Proteste – darunter Vorwürfe der Einmischung von Ausländern – wirft einige beun- ruhigende Fragen auf, vor allem wenn sie nicht einfach einem zunehmend autokratischen Führer zugeschrieben werden kann, der den Kontakt mit der sich verändernden Realität in seinem Land verloren hat. Signalisiert sie eine Verhärtung des Regimes und eine abnehmende Bereitschaft, sich mit Widerspruch auseinanderzusetzen? Wenn dem so ist, würde die Türkei rückwärtsgehen und sich unter den Ländern einreihen, in denen die Demokratie verkümmert und unterentwickelt bleibt. Oder ist die Vitalität der Proteste ein Indiz für eine wachsende und zunehmend selbstbe- wusste Zivilgesellschaft in der Türkei, nicht unähn- lich der in westlichen Demokratien? Wenn dies zutrifft, wären die aktuellen Turbulenzen nur die Wachstumsschmerzen auf dem Weg zu einer vollwertigen Demokratie.

Von der Antwort auf diese Fragen hängt viel ab, für die Türkei selbst und für ihre Region. Arabische Herrscher werden sorgfältig beobachten, ob die Modell-Demokratie der Türkei ihr Versprechen

© Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE), Die aktuelle Kolumne, 24.06.2013 www.die-gdi.de | www.facebook.com/DIE.Bonn | https://plus.google.com/

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einlöst und die Anliegen der Protestierenden fried- lich aufnehmen und kanalisieren kann. Wenn nicht, könnten sie folgern, dass Repression ge- genüber einem langwierigen und häufig chaoti- schen Prozess des Aufbaus demokratischer Insti- tutionen vorzuziehen ist. Für die Bevölkerungen dieser Länder wird das Verhalten des türkischen Staates ein Indikator sein, was sie von ihren Regie- rungen erwarten können. Wenn die Proteste in der Türkei erfolglos bleiben, könnten sie den Schluss ziehen, dass das Drängen auf Wandel mit friedli- chen Mitteln zwecklos ist und sich stattdessen für gewalttätigere Streitformen entscheiden.

Zu einer solchen Polarisierung beizutragen, kann nicht im Interesse der Türkei sein. Dem Land wäre mehr gedient, wenn gezeigt werden könnte, dass sein System funktioniert, dass friedlicher Protest Teil einer lebendigen Demokratie ist und dass die erzielten Ergebnisse letztlich denen jedes autoritä- ren Systems überlegen sind. Tatsächlich könnte die Türkei aktiver sein, andere zu demokratische- ren Regierungsformen anzuhalten. Sie sollte nicht länger nur darauf hoffen, dass ihr Erfolg auf die umliegenden Länder abfärbt, sondern eine aktive- re Rolle spielen und ihnen helfen, eigene demokra- tische Systeme aufzubauen. Dies würde sicher der Sicherheit, Stabilität und Prosperität der Türkei nützen. Und es würde die Statur der Türkei als auf- strebende Macht in seiner Region stärken – einer Statur, die sich nicht länger auf rohe Gewalt stützt,

sondern auf Überzeugungskraft, praktische Hilfe, sofern gewünscht, und die Demonstrationseffekte seines erfolgreichen Regierungsmodells. Die Ar- mee zur Niederschlagung der Proteste zu schi- cken, wie der stellvertretende türkische Minister- präsident Bülent Arınç gedroht hat, würde das gegenteilige Signal aussenden. Ein gefährliches Unterfangen wäre es, die Armee wieder zum Schlichter der türkischen Politik zu machen.

Auch andere müssen ein Interesse am Erfolg der Türkei haben, namentlich Europa. Diejenigen, die in den jüngsten Schwierigkeiten einen weiteren Beleg dafür sehen, dass die Türkei niemals in der Lage sein wird, der Europäischen Union beizutre- ten, liegen falsch. Doch zunächst muss die Türkei den eigenen, noch unvollständigen Demokratisie- rungsprozess vorantreiben und Wege finden, mit Widerspruch friedlich umzugehen und unter- schiedliche Ansprüche einer zunehmend komple- xen und vernehmbaren Zivilgesellschaft zu artiku- lieren und auszuhandeln. Durch ihre exzessive und unverhältnismäßige Reaktion auf die Proteste im Gezi-Park hat die Erdoğan-Regierung deutlich gemacht, dass sie nicht bereit ist, diesen weiteren Schritt zu gehen – zumindest nicht im Augenblick.

Die Europäische Union sollte darauf bestehen, dass sie dies tut.

Die Ausführungen reflektieren die persönlichen Auffassungen des Autors.

© Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE), Die aktuelle Kolumne, 24.06.2013 www.die-gdi.de | www.facebook.com/DIE.Bonn | https://plus.google.com/

Gerd Schönwälder, PhD Gastwissenschaftler Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE)

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