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Rudolf Lehmann, ein bürgerlicher Historiker und Archivar am Rande der DDR

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VERÖFFENTLICHUNGEN DES

BRANDENBURGISCHEN LANDESHAUPTARCHIVS

Rudolf Lehmann,

ein bürgerlicher Historiker und

Archivar am Rande der DDR

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VERÖFFENTLICHUNGEN DES

BRANDENBURGISCHEN LANDESHAUPTARCHIVS Begründet von Friedrich Beck

Herausgegeben von Klaus Neitmann

Band 70

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Rudolf Lehmann,

ein bürgerlicher Historiker und Archivar

am Rande der DDR

Michael Gockel (Hrsg.)

BWV | BERLINER WISSENSCHAFTS-VERLAG

Tagebücher 1945–1964

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bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtes ist unzulässig und strafbar.

Hinweis: Sämtliche Angaben in diesem Fachbuch/wissenschaftlichen Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung und Kontrolle ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren oder des Verlags aus dem Inhalt dieses Werkes ist ausgeschlossen.

Transkription des Tagebuchausschnitts auf dem Cover: S. 398–399.

© 2018 BWV | BERLINER WISSENSCHAFTS-VERLAG GmbH, Markgrafenstraße 12–14, 10969 Berlin,

E-Mail: bwv@bwv-verlag.de, Internet: http://www.bwv-verlag.de Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen

Printed in Germany.

ISBN Print: 978-3-8305-3745-8 ISBN E-Book: 978-3-8305-2234-8

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort VII

Klaus Neitmann Zur Einführung:

Rudolf Lehmanns archiv- und geschichtswissenschaftliche Forschung für Brandenburg 1945/49–1964. Vom Gelingen und Scheitern eines bürger-

lichen Landesarchivars und Landeshistorikers in der frühen DDR XV Klaus Neitmann

Vorbemerkung zur Edition XXXIX

Zur Einrichtung der Edition XLI

Danksagung XLII

Tagebücher 1945–1964

1945 1

1946 32

1948 33

1949 35

1950 65

1951 107

1952 146

1953 178

1954 211

1955 239

1956 270

1957 314

1958 363

1959 423

1960 458

1961 488

1962 494

1963 518

1964 529

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Anhang 1: Verzeichnis der in den Tagebüchern genannten Lektüre 531

Anhang 2: Bibliographie Rudolf Lehmanns 539

Personenregister 565

Abbildungsverzeichnis 577

Abbildungen 581

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Vorwort

Rudolf Lehmann (1891–1984) zählt mit seinem geschichts- und archivwissenschaftli- chen Werk zu den eindrucksvollsten Gestalten der deutschen Landesgeschichtsforschung des 20. Jahrhunderts. Daß er in seinem langen Leben seine wissenschaftliche Arbeit, die mit dem Heidelberger Studium einsetzte und bis kurz vor seinem Tod andauerte, aus- schließlich der Geschichte seiner Heimat, der Niederlausitz, gewidmet hat, unterscheidet ihn nicht von den meisten Landeshistorikern, für die Gleiches oder Ähnliches gilt. Aber die Intensität und die Ausdauer, mit der er „seine“ Landschaft untersucht hat, und die Er- gebnisse, die er dabei erreicht hat, sind außerordentlich und weit überdurchschnittlich, sind geradezu bewundernswert. Mit seinen zahlreichen Veröff entlichungen ist er in allen Gattungen der landesgeschichtlichen Literatur vertreten, die Spannbreite reicht von der Regio nalbibliographie, der archivischen Beständeübersicht, dem Ortslexikon über die Quellen edition, den ein besonderes Thema behandelnden Aufsatz und die weiter ausgrei- fende Monographie bis zur Gesamtdarstellung. Anders ausgedrückt: Lehmann war mit archivischen wie mit historischen Aufgabenstellungen vertraut, er verfertigte Hilfsmit- tel der Forschung, er befaßte sich mit kleinteiligen Analysen ebenso wie mit großzügi- gen Überblicken, und seine Publikationen umspannten ein ganzes Jahrtausend, von den Anfängen des Markgraftums Niederlausitz im 10. Jahrhundert und seiner Vorgeschichte bis zu seiner eigenen selbst erlebten Zeitgeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhun- derts. Die Bemühungen der modernen Geschichtswissenschaft um die Erforschung der Niederlausitz, eines kleinen Territoriums im mitteldeutschen Osten des Alten Reiches, setzten erst am Ende des 19. Jahrhunderts ein, und der sächsische Landesarchivar Wol- demar Lippert, Lehmanns „Mentor“ in dessen Frühzeit, legte in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts mit seinen Aufsätzen und vor allem mit seinen Quelleneditionen wichtige Grundlagen für das Mittelalter. Lehmann knüpfte an Lippert und an andere äl- tere Vorgänger und gleichzeitige Begleiter an, aber er übertraf sie alle merklich durch die Weite und Tiefe seines Zugriff s auf seinen Gegenstand. Für eine Gesamtdarstellung ganz ungewöhnlich, aber für ihn umso bezeichnender, beruht seine „Geschichte des Mark- graftums Niederlausitz“ (1937) in großen Teilen auf der eigenen Sichtung und Auswer- tung archivalischer Quellen und bietet weit mehr als eine Zusammenfassung vorhandener Literatur; dabei vermeidet er es, in den Details einzelner Urkunden- und Aktenzeugnisse zu versinken, sondern es gelingt ihm, mit einer einsichtigen Konzeption eine klar geglie- derte und auf das Wesentliche und Allgemeine konzentrierte und zugleich mit beispiel- hafter Anschauung angereicherte Schilderung der niederlausitzer Vergangenheit vorzule- gen. Wenn am Ende seines Lebens die Niederlausitz als eine der am besten erforschten deutschen Länder galt, verdankte sie einen solchen Ruf in erster Linie seinem außerge- wöhnlichen Werk, auf das auch heute noch, mehr als drei Jahrzehnte nach seinem Tod, die gegenwärtigen Generationen unweigerlich zurückgreifen, wenn sie sich ihre eigenen Wege zu bahnen suchen.

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Lehmanns Leistung verdient umso größere Anerkennung, als sie nicht unter behüteten und ungestörten äußeren Lebensverhältnissen zustande kam, sondern einem „unruhi- gen“ Berufs- und Lebensweg mit mancherlei Kanten und Brüchen abgerungen war. Der ursprüngliche, bereits während der Erarbeitung der Dissertation im Ersten Weltkrieg ge- faßte Berufswunsch, der Eintritt in den Archivdienst, konnte in der schwierigen Nach- kriegszeit nicht verwirklicht werden, und auch der stattdessen ergriff ene Lehrerberuf führte erst nach Überwindung einiger Hürden und Unsicherheiten im 35. Lebensjahr zu einer festen Dauererstellung an einem Gymnasium in seiner Heimatstadt Senftenberg.

Wer damals geglaubt hätte, Lehmann wäre nach seinen vorangegangenen erfolgverspre- chenden Beiträgen zur niederlausitzer Geschichte nun unter dem Druck der schulischen Verpfl ichtungen der Wissenschaft verloren gegangen, hätte sich schwer getäuscht. Denn unbemerkt von seiner vorgesetzten Schulbehörde und neben dem anstrengenden Schul- alltag packte er umfangreiche, anspruchsvolle Aufgaben an, unter denen hier nur die be- reits erwähnte niederlausitzer Geschichte wie das Urkundenbuch des Klosters Dobrilugk angeführt seien, und darüber hinaus führte er mit manchen fähigen Mitstreitern in der Landschaft die Niederlausitzer Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde, den re- gionalen Geschichtsverein, als dessen Vorsitzender wie als Herausgeber von dessen Zeit- schrift (seit 1930) und damit überhaupt die niederlausitzer Landesgeschichtsforschung zur höchsten Blüte.

Der deutsche Zusammenbruch von 1945 bedeutete für Lehmann einen tiefen Einschnitt, einen unerwarteten Bruch. Durch die im Rahmen der sog. Entnazifi zierung vollzogene Entlassung aus dem Schuldienst verlor er nicht nur persönlich seine sichere berufl iche Existenz, sondern die von der sowjetischen Besatzungsmacht verfügte Aufl ösung des Ver- einswesens beraubte die niederlausitzer Historiker ihres organisatorischen Mittelpunktes und ihrer Wirkungsmöglichkeiten. Dem ersten Leiter der Staatlichen Archivverwaltung der DDR, dem ehemaligen Potsdamer Reichsarchivar Otto Korfes, verdankte es Lehmann überraschenderweise, daß er im Rahmen der Neuordnung des staatlichen Archivwesens am 1. November 1949 zum Leiter des Landesarchivs Lübben berufen wurde und gewis- sermaßen mit weit mehr als einem Vierteljahrhundert „Verspätung“ die einst ersehnte ar- chivische und wissenschaftliche Position erlangte. In dieser Stellung erlebte er ein knap- pes Jahrzehnt lang in der Frühzeit der DDR Höhen und Tiefen eines brandenburgischen Landesarchivs und der brandenburgischen Landesgeschichtsforschung, beobachtete er die allgemeine Entwicklung des ersten „Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Bo- den“ und erfuhr am eigenen Leibe in seiner Tätigkeit die Möglichkeiten, die die DDR einem „bürgerlichen“, aus bewährten wissenschaftlichen Traditionen stammenden Lan- deshistoriker und Archivar einräumte, und die Grenzen, die sie ihm aufzeigte. Zu seinen vorrangigen Aufgaben in Lübben und in der Niederlausitz gehörten der Ausbau des eige- nen Landesarchivs, die Erfassung und Sicherung herrenlosen Archivgutes in der Land- schaft, vor allem der adligen Herrschafts-, Guts- und Familienarchive, die Erschließung der vorgefundenen wie der neu übernommenen Archivalien. Über seine archivarischen Felder hinaus bemühte sich Lehmann um die Wiederbelebung der niederlausitzer und brandenburgischen Landesgeschichtsforschung, indem er am Landesarchiv Lübben wie

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IX Vorwort

am Brandenburgischen Landeshauptarchiv in Potsdam 1954 und 1957 mit interessierten und befreundeten Fachkollegen Arbeitsgemeinschaften zur Bearbeitung landesgeschicht- licher Vorhaben, vornehmlich von Projekten der Grundlagenforschung, schuf. Aber dabei war er nicht bereit, seine eigenen wissenschaftlichen Überzeugungen und die Grundsätze seiner wissenschaftlichen Arbeitsweise der staatlicherseits verordneten und zunehmend angemahnten Doktrin des marxistischen Geschichtsmaterialismus zu opfern, und so ge- riet er in den letztlich unausweichlichen Konfl ikt mit der Staatlichen Archivverwaltung, nachdem er wiederholt eigene Manuskripte wegen der schwierigen Publikations- und Zensurbedingungen der DDR in Westdeutschland veröff entlicht hatte. Da er die Vorga- ben der Archivverwaltung für seine wissenschaftlichen Veröff entlichungen nicht hinzu- nehmen bereit war, mußte er zum 31. Januar 1958 aus dem Archivdienst ausscheiden. Die bestehenden engen Kontakte zu West-Berliner und westdeutschen Historikern und histo- rischen Gesellschaften drohten freilich nach dem Berliner Mauerbau am 13. August 1961 entscheidend eingeschränkt und zugleich wegen der weitgehenden Schließung des Lan- desarchivs Lübben seine Arbeitsbedingungen in der Niederlausitz merklich verschlechtert zu werden, so daß er sich schließlich schweren Herzens zur Umsiedlung in die Bundes- republik entschloß. Ende Mai 1964 übersiedelte er nach Marburg, wo ihm die von dem Mediävisten Walter Schlesinger geleiteten „Forschungsstelle für geschichtliche Landes- kunde Mitteldeutschlands“ (kurz: Mitteldeutsche Forschungsstelle, im Hessischen Lan- desamt für geschichtliche Landeskunde) fortan die Heimstatt für seine Forschungen bot.

In den ihm verbleibenden zwei Jahrzehnten führte er vor allem die in den 50er und frü- hen 60er Jahren begonnenen Vorhaben weiter, vollendete sie und rundete damit ein lan- desgeschichtliches Lebenswerk ab, das ohne viel Übertreibung als einzigartig bewertet werden darf.

Wie die vorstehende Skizzierung andeutet, haben wir es mit einem Landeshistoriker und Landesarchivar zu tun, der sieben Jahrzehnte lang mit seltener Ausdauer, Konsequenz und Kraft den in früher Jugend gefaßten Entschluß, die Erforschung und Darstellung der Vergangenheit seiner niederlausitzer Heimat angesichts des vorgefundenen betrüblichen Forschungsstandes mit aller eigenen Energie maßgeblich zu fördern und auf wesentlich verbreiterte Grundlagen zu stellen, nachgefolgt ist und ihn mit seinen zahlreichen und gewichtigen Veröff entlichungen in erstaunlichem Ausmaß umgesetzt hat. Dieses Ergeb- nis verstand sich nicht von selbst, denn die deutschen Umbrüche und Katastrophen des 20. Jahrhunderts haben in Lehmanns Dasein ihre tiefen Spuren hinterlassen und einen ge- radlinigen Weg verhindert, haben ihn mehrfach vor existentielle Herausforderungen ge- stellt. Er ist dabei unbeirrt seinen wissenschaftlichen Grundsätzen treu geblieben und hat sich nicht aus opportunistischen Erwägungen verbogen, auch wenn sich daraus unange- nehme Folgerungen ergaben. Sein Schicksal verdient, weil seine wissenschaftlichen Be- strebungen so sehr in die allgemein- und wissenschaftspolitischen Entwicklungen seiner Zeit verwoben sind, die Aufmerksamkeit des Historiographen, der sich um die Geschichte der deutschen und brandenburgischen (Landes-)Geschichtswissenschaft kümmert und die Entstehung und die Entstehungsbedingungen ihrer Arbeiten und Werke untersucht. Leh- mann ist bislang noch nicht Gegenstand von derartigen Ansätzen geworden, die vorlie-

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gende Literatur beschränkt sich weitgehend auf die nach seinem Tode erschienenen Nach- rufe und die nach dem Untergang der DDR publizierten Würdigungen. Dieser Umstand ist zu bedauern, weil die Quellenlage durchaus günstig ist. Lehmanns reichhaltiger wis- senschaftlicher Nachlaß, früher in der Mitteldeutschen Forschungsstelle in Marburg, jetzt im Brandenburgischen Landeshauptarchiv in Potsdam, steht zur Benutzung seit langem zur Verfügung. Er selbst hat sein Leben im Rückblick in zwei 1968 und 1970 als Privat- druck in kleinem Kreise verbreiteten Erinnerungen geschildert. Der bedeutendere Band,

„Lebensweg und Arbeitsgang. Rückblicke eines Niederlausitzers“ (1970), beruht dabei vor allem auf den Tagebüchern, die er über Jahrzehnte hinweg geführt hat und von denen hier eine Auswahl vorgelegt wird.

Der Begriff „Tagebuch“ ist für Lehmanns Aufzeichnungen über das Erlebte und Beob- achtete insofern nicht ganz wörtlich zu nehmen, als er nicht kontinuierlich für jeden Tag in seinen kleinen Kladden einen Eintrag gefertigt hat. Abhängig von der Dichte und der Bedeutung des Geschehens, fi nden wir ausführliche Notizen zu Vorgängen, die sich tat- sächlich an einem einzigen Tag abgespielt haben, wie zusammenfassende Bemerkungen zu Vorgängen, die sich über zwei und mehr Tagen oder gar über eine Woche und länger erstreckt haben. Diese Diff erenzierung kann freilich vernachlässigt werden, weil er seine Beschreibung durchgängig unmittelbar nach dem angegebenen Zeitpunkt oder Zeitraum abgefaßt hat, sie den Ereignissen also unmittelbar nachfolgt und damit zugleich unter ih- rem Eindruck steht. Anders als die Jahre oder Jahrzehnte nach den Geschehnissen ent- standenen und in deren Kenntnis zurückblickenden Lebenserinnerungen spiegeln die Ta- gebücher das jeweilige aktuelle Ereignis und Lehmanns dazugehörige aktuelle Refl exion wider. Ihre Schilderungen sind daher subjektiver, zumal sie nie für einen künftigen Leser niedergeschrieben wurden, aber sie sind gerade in diesem Charakter umso aufschlußrei- cher für den Historiker. Gelegentlich ist zu bemerken, daß Lehmanns Urteile über Perso- nen und Vorgänge schwanken, je nach der neuesten Erfahrung, die er machte, und sein Urteil ist zudem abhängig von den gut oder schlecht begründeten Informationen, die er erlangen konnte. Aber die Persönlichkeit off enbart sich gerade in ihrer unmittelbaren Be- troff enheit und mit ihren inneren Überlegungen und Erwägungen vor dem Tagebuch leser in einer Intensität, die in anderen Quellengattungen schwerlich zu erreichen ist. Leh- manns Stil ist nüchtern und sachlich in dem Sinne, daß es ihm einzig und allein darauf ankommt, das Erfahrene knapp und in seinen wesentlichen Zügen für und vor sich selbst festzuhalten, ohne jeglichen literarischen Ehrgeiz. Aber, so wird der Leser urteilen dürfen, sein Bericht verdient es, wegen seiner Inhalte einem breiteren Interessentenkreis vorge- legt zu werden. Es steht zwar eine einzige Person im Mittelpunkt, aber sie wirkt mit ihrer archivischen und landeshistorischen Arbeit in einem weiteren öff entlichen Umfeld, und dadurch werden tiefe, unverstellte Einblicke in die Bedingungen und Voraussetzungen geschichtswissenschaftlicher Betätigung im frühen SED-Staat gewährt, wie sie in dieser Deutlichkeit in offi ziellen Akten nicht aufscheinen. Hierin liegt der eigentliche, besondere Reiz der Tagebücher. Sie zeigen einen „bürgerlichen“ Archivar und Historiker, der nach den von ihm als richtig anerkannten Grundsätzen seine Aufgaben anpackt und bewältigt, der dank seines ungebrochenen Einsatzes in der Bearbeitung seines Archivgutes wie in

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XI Vorwort

der historischen Erforschung seiner Landschaft seine Erfolge erzielt, der dabei aber auf die ihm von der DDR gesetzten Grenzen stößt und sich den ihm auferlegten Vorgaben nicht beugt. Lehmanns Tagebücher liefern gerade in ihren absichtslosen Darstellungen ein Lehrstück darüber, wie ein in den großen Traditionen der deutschen Geschichtswis- senschaft aufgewachsener Forscher sich den Zumutungen der SED-Wissenschaftspolitik entzog, und sie belegen, aus welchen Kraftquellen sich ein solcher unbedingter Selbst- behauptungswille speiste. Darüber hinaus beleuchten die Tagebücher zentrale Maßnah- men der SED zur rücksichtslosen Durchsetzung ihres Machtanspruches und die Krisen, denen ihr Staat dadurch ausgesetzt war, und erklären, warum ein „Bürgerlicher“ wie Lehmann sich von einer solchen Politik zur Herstellung einer kommunistischen Dikta- tur nur abgestoßen fühlen konnte. Der Kampf der SED gegen die Evangelische Kirche und ihre „Junge Gemeinde“, der Volksaufstand am 17. Juni 1953, die Zwangskollekti- vierung der Landwirtschaft 1960, die wiederholten fadenscheinigen „Wahlen“, die „Re- publikfl ucht“ von Zehn- und Hunderttausenden von DDR-Bürgern im Allgemeinen, von einzelnen Berufskollegen im Besonderen in den Westen, der Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961, überhaupt die wechselnden Stimmungslagen der Bevölkerung, die poli- tischen Hoff nungen und Enttäuschungen in den Wechselfällen der deutschland- und welt- politischen Lagen – all diese Vorgänge und Geschehnisse tauchen in seinen Tagebüchern auf und erhellen das „Innenleben“ der DDR aus der Sicht eines scharf beobachtenden und urteilenden bürgerlichen Oppositionellen. Nicht unerwähnt soll bleiben, daß die getreu- lich vermerkte Literaturlektüre seinen weiten Bildungshorizont off enbart.

Die Geschichte des Landesarchivars und Landeshistorikers Rudolf Lehmann ist direkt und indirekt ein gewichtiges Stück Geschichte des Brandenburgischen Landeshauptar- chivs. Lehmanns Lübbener Landesarchiv war dem Potsdamer Landeshauptarchiv unter- stellt, seine Bestrebungen zur Wiederbelebung der brandenburgischen Landesgeschichts- forschung führten zur Landesgeschichtlichen Forschungsstelle am Landeshauptarchiv und zu einem Forschungsprogramm mit dem Historischen Ortslexikon für Branden- burg und der Bibliographie zur Geschichte der Mark Brandenburg im Mittelpunkt, das jahrzehntelang, auch lange nach Lehmanns Rückzug aus der Forschungsstelle, die For- schungstätigkeit des Potsdamer Hauses bestimmte und dessen Ergebnisse in etlichen Bänden seiner Schriftenreihe publiziert wurde. Daß Lehmanns Initiative die damalige junge Archivarsgeneration in der Potsdamer Orangerie auf die Bahn landesgeschichtli- cher Grundlagenforschung stieß, hatte eine lange Nachwirkung, indem aus dem nach- drücklichen Wirken der Beteiligten ein Zentrum brandenburgischer Landesgeschichts- forschung erwuchs (auch wenn es sich in DDR-Zeiten so nicht benannte). Die Beziehung Lehmanns zum Landeshauptarchiv und seinem Direktor Friedrich Beck blieb freilich nicht ungetrübt, als letzterer nach dem amtlichen Ausscheiden des ersteren die histori- schen Bestände des Lübbener Archivs nach Potsdam überführte, eine Maßnahme, unter der Lehmann schwer gelitten hat, weil sie gerade sein archivisches Werk in seiner Heimat in Frage stellte. Die Sichten der beiden waren im Hinblick auf die Zukunft der branden- burgischen Archivorganisation zu unterschiedlich, ja gegensätzlich, so daß der Konfl ikt in die tatsächliche Aufl ösung des Lübbener Landesarchivs mündete. Lehmanns archivi-

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sche Ergebnisse blieben freilich in der Weise erhalten, daß seine Übernahmen und Er- schließungen von Archivbeständen bis auf den heutigen Tag in Potsdam den Benutzern zugutekommen.

So sehr sich das Brandenburgische Landeshauptarchiv Lehmann und seiner wissenschaft- lichen Lebensleistung verpfl ichtet fühlt, so wäre doch die vorliegende Edition seiner Ta- gebücher nicht ohne den Willen und den Einsatz ihres Bearbeiters zustande gekommen.

Dr. Michael Gockel, ein Schüler Walter Schlesingers in Marburg und Mitarbeiter der er- wähnten Mitteldeutschen Forschungsstelle, hat Rudolf Lehmann in dessen Marburger Zeit kennengelernt und ihn seit den frühen 1970er Jahren in seinen letzten großen Arbei- ten bis hin zum Historischen Ortslexikon für die Niederlausitz unterstützt. Nach seinem Tode hat er seinen Nachlaß verzeichnet, dabei auch die Tagebücher in näheren Augen- schein genommen und ihre historische Aussagekraft erkannt. Unter diesen Umständen war er mit Lehmanns Leben und seinem Werk seit langem eng vertraut, und sein knapp 20seitiger Beitrag über Rudolf Lehmann in dem Sammelband „Lebensbilder brandenbur- gischer Archivare und Historiker“ (hg. v. Friedrich Beck, Klaus Neitmann, Berlin-Bran- denburg 2013, S. 135–152) bietet derzeit die beste Einführung in den Landeshistoriker und Archivar Lehmann.

Als Michael Gockel vor Jahren nach der Überführung des Lehmannschen Nachlasses nach Potsdam eine Kostprobe der zunächst von dessen Witwe und später von ihm selbst angefertigten Abschriften von Tagebuchauszügen dem Unterzeichnenden vorlegte, ver- mochte sich dieser der Anziehungskraft und dem Gehalt des Textes nicht zu entziehen.

Lehmanns Aufzeichnungen off enbaren sein Innenleben ebenso wie seine Beziehungen zu seiner wissenschaftlichen Außenwelt, und sie ermöglichen in ihrer Subjektivität und in ihrer Nähe zu den auftauchenden Personen und berichteten Vorgängen Einsichten in das brandenburgische Archivwesen und die brandenburgischen Landesgeschichtsforschung der ersten zwanzig Nachkriegsjahre, die einem die scheinbar objektiviertere Darstellungs- weise offi zieller staatlicher Dienstakten nicht gewähren. Bearbeiter und Unterzeichnender waren sich nach ihrer grundsätzlichen Einigung auf eine Tagebuchedition darin einig, daß wegen des Umfanges der vorliegenden Tagebuchkladden nur eine Auswahl in Betracht kommen konnte, und sie entschieden sich dafür, Lehmanns Lebensphase vom Kriegsende im Mai 1945 bis zu seiner Übersiedlung nach Marburg im Mai 1964 zu berücksichtigen, weil er innerhalb dieses Zeitraumes insbesondere als Leiter des Landesarchivs Lübben die größte wissenschaftliche Wirkung ausgeübt und seine Tätigkeit in dieser Funktion mit all ihren Begleitumständen am deutlichsten die inneren Verhältnisse der DDR be- leuchtet. Allein den Tagebuchtext abzudrucken, hätte zur Nutzbarmachung der Quelle für die historiographische und DDR-Forschung wegen der vielen auftauchenden Namen und Vorgänge, die aus der Erinnerung der Heutigen längst entschwunden sind, nicht ausge- reicht, und so hat Michael Gockel nach der Vervollständigung und Kollationierung der Tagebuchabschrift sehr viel Arbeit in die Sachkommentierung gesteckt, damit der Leser mit den zusätzlichen Informationen des Herausgebers den Text hinreichend verstehen und deuten kann. Dabei ist er von Prof. Dr. Friedrich Beck, den ehemaligen Direktor des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, in der Klärung von Namen und Sachverhalten

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XIII Vorwort

merklich unterstützt worden. Personenregister und Bibliographie sind ebenfalls von Mi- chael Gockel beigesteuert worden. Ihm ist besonders dafür zu danken, daß er der Anre- gung zur Tagebuchedition, ohne zu zögern, gefolgt ist, daß er sie mit viel Sorgfalt und Genauigkeit über die Jahre hinweg betrieben und schließlich noch mit Geduld die vom unterzeichnende Reihenherausgeber verursachten Verzögerungen ertragen hat. Dieser hat schließlich den Aufsatz über „Rudolf Lehmanns archiv- und geschichtswissenschaftli- che Forschung für Brandenburg 1945/49–1964“ verfaßt, der bewußt als „Einführung“ in die Tagebuchedition konzipiert ist: Er soll nicht eine umfassende Auswertung des Tage- buches für die historiographische Forschung einschließlich einer Einordnung Lehmanns in sein Forschungsumfeld bieten, sondern er will nur an Hand von einigen Leitgedanken Schneisen durch die vielfältigen Tagebucheintragungen schlagen und erste Überlegungen zu ihrer Interpretation vortragen, um dem Leser eine bessere Orientierung zu verschaff en, ohne ihm eine umfassende Deutung aufdrängen zu wollen.

Möge die vorliegende Edition zu einem vertieften Verständnis des Landeshistorikers und Landesarchivars Rudolf Lehmann beitragen, der sich in der Geschichte der brandenburgi- schen und deutschen Landesgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts einen unüberseh- baren Platz erworben hat, und möge sie die gegenwärtigen und künftigen Historiker und Archivare dazu ermuntern, auf seinen Spuren mit ihren eigenen Ideen und Vorstellungen die Erforschung der niederlausitzer Landesgeschichte fortzuführen.

Potsdam, im September 2018 Prof. Dr. Klaus Neitmann

Direktor des Brandenburgischen Landeshauptarchivs

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Zur Einführung:

Rudolf Lehmanns archiv- und geschichtswissenschaftliche Forschung für Brandenburg 1945/49–1964

Vom Gelingen und Scheitern eines bürgerlichen Landesarchivars und Landeshistorikers in der frühen DDR

Von Klaus Neitmann

„Die Wissenschaft muß, um zu bestehen, frei und unabhängig sein in Fragestellung und Auff assung“, vermerkte Rudolf Lehmann in seinem Tagebuch unter dem 26. April 1958 (siehe unten S. 384), knapp drei Monate, nachdem er aus seiner amtlichen Stellung als Leiter des Landesarchivs Lübben erzwungen ausgeschieden war, in der er die allgemein- und wissenschaftspolitische Begrenzung und Gängelung der historischen Forschung in der DDR in Bezug auf ihre Themen, Wertungen und Veröff entlichungen oft genug am eigenen Leibe erfahren hatte. Aber obwohl er wegen seiner eigenen Überzeugungen schwer unter den diktatorischen Bedingungen des SED-Staates litt, waren die langen 1950er Jahre, hier verstanden als die Zeit von seiner Einstellung im Landesarchiv Lüb- ben am 1. November 1949 bis spätestens zu seiner Übersiedlung nach Marburg Ende Mai 1964, wohl die wissenschaftlich produktivste Zeit seines Lebens. Sicherlich war er schon zwischen 1918 und 1945 mit großen Werken zur Geschichte seiner niederlausit- zer Heimat hervorgetreten, hatte bereits in außergewöhnlicher Weise die gesamte Spann- breite landesgeschichtlicher Arbeit umfaßt, von seiner grundlegenden „Bibliographie zur Geschichte der Niederlausitz“ (1928) über eine umfangreiche Quellenedition, das „Ur- kundenbuch des Klosters Dobrilugk und seiner Besitzungen“ (1941/42) mit einer her- ausragenden Überlieferung, bis zu einer ebenso zeitlich und sachlich weitausgreifenden wie in Vielfalt, Verarbeitung und Deutung des Stoff es tief eindringenden Gesamtdarstel- lung, der „Geschichte des Markgraftums Niederlausitz“ (1937). Und als Vorsitzender der Niederlausitzer Gesellschaft für Geschichte und Landeskunde (1930–1945) und Heraus- geber ihrer Zeitschrift, der „Niederlausitzer Mitteilungen“, hatte er sich zugleich mit be- achtlichem Erfolg wissenschaftsorganisatorisch betätigt. Aber während er bis zum Ende des II. Weltkrieges seine Untersuchungen nur nebenberufl ich, neben seiner hauptberufl i- chen Gymnasiallehrertätigkeit in Senftenberg, hatte verfolgen können, beförderte ihn die Berufung an das Landesarchiv Lübben in eine Position, in der er sich mit ganzem Nach- druck und vollem Einsatz auf seine archiv- und geschichtswissenschaftlichen Aufgaben konzentrieren konnte, in der er in seinem Alltag archivische und landesgeschichtliche Aufgaben aufs engste miteinander verknüpfte und ihre einzelnen wesentlichen Teile stu- fenweise in dichter Folge aneinanderreihte. Zugleich eröff neten ihm seine Leitungsstel- lung und seine dadurch angebahnten oder verstärkten Verbindungen zu anderen Gesell- schaften und Kollegen des Faches neue Wirkungsfelder. Die Marburger Jahre ab 1964 waren großenteils damit ausgefüllt, in Lübben entwickelte, angepackte und mehr oder minder weit geförderte Vorhaben fortzusetzen und zu vollenden. Die gewichtigen da-

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mals veröff entlichten Ergebnisse wie die schmale Darstellung „Die Herrschaften in der Niederlausitz. Untersuchung zur Entstehung und Geschichte“ (1966) – die Anfang 1959 konzipiert und im Frühjahr 1963 fertiggestellt wurde (S. 432) –, das „Urkundeninven- tar zur Geschichte der Niederlausitz bis 1400“ (1968) – das Anfang 1961 vorgenommen wurde, bereits ein Jahr später bis 1378 gediehen war (S. 522–524) und bis zum Frühjahr 1964 dem Abschluß nahegebracht wurde –, und die Fortsetzung, die dreiteilige Edition verschiedenartiger spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher „Quellen zur Geschichte der Niederlausitz“ (1972–1979) – deren einzelne Teile zumeist in ihren Grundstöcken zwischen der frühen Nachkriegszeit und den frühen 1960er erarbeitet wurden – und das zweibändige „Historische Ortslexikon für die Niederlausitz“ (1979) – dessen Anfänge im Jahr 1956 liegen – gehen alle auf die 1950er und frühen 1960er Jahre zurück, sind in dieser Lebensphase entworfen, beschlossen, begonnen, vorangetrieben oder gar schon nahezu vollendet worden.

Im Rückblick kommt es einem so vor, als habe sich Lehmanns geballte wissenschaftliche Energie dadurch entladen, daß sie in der Betreuung des Landesarchivs und in der Mitwir- kung in und in der Leitung landesgeschichtlicher Gremien in einem zuvor unbekannten Ausmaß auf bedeutende Herausforderungen stieß, sich ihnen unter vollem Einsatz stellte und sie überzeugend löste. Die archivarische Tätigkeit, die zu ergreifen ihm am Anfang seines Berufslebens nach dem I. Weltkrieg nicht gelungen war, fi el ihm jetzt nach Jahren der berufl ichen Unsicherheit wegen seiner Entlassung aus dem Schuldienst 1946 unerwar- teterweise zu, und die ihm so gewährte Lebenschance nutzte er sozusagen in vollen Zü- gen. Die Verse, die er am 10. November 1949 in sein Tagebuch eintrug (S. 60), zeugen von seiner beglückenden Empfi ndung, daß er jetzt eine seinen wissenschaftlichen Neigungen voll und ganz entsprechende Arbeitsstätte gefunden und in ihr nach neuen wissenschaftli- chen Zielen streben könne:

„Ich kann von neuem schaff en in meiner Herbsteszeit, … Nun winken wieder Ziele, Nun bin ich wieder frei.“

Allen nachfolgenden erheblichen Schwierigkeiten zum Trotz kehrte das Gefühl der inne- ren Erfüllung, das sich in diesen Worten off enbart, in Lehmanns Tagebuchnotizen der fol- genden Jahre mehrfach wieder, und es verließ ihn nicht die Überzeugung, daß ihn seine Tätigkeit vollständig zu seiner Befriedigung beanspruchte. Zwar schlichen sich auch im- mer wieder Zweifel ein, ob er seine Position wegen der seinen eigenen Prinzipien zu- widerlaufenden Anforderungen der SED an Archivwesen und Geschichtsforschung auf Dauer werde bewahren können, und die Befürchtung schwand nicht, daß er eines Tages beiseite geschoben werden könnte. Aber er blieb wider untergründige Sorge Jahr für Jahr im Amt. Und daß sich seine landesgeschichtlichen Erkenntnisse der DDR-Geschichtspo- litik nicht einfügten, beeinträchtigte lange Zeit nicht seine geradezu leidenschaftlichen Bestrebungen, da er bereit war, konsequent und ohne Abweichungen seinen eigenen Weg unter Übergehung der von anderen geäußerten Bedenken zu beschreiten.

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XVII Zur Einführung

Daß im Herbst 1949 im Land Brandenburg neben dem Landesarchiv Brandenburg (ab 1951: Brandenburgisches Landeshauptarchiv) in Potsdam das Landesarchiv Lübben auf Lehmanns Anregung gegenüber Otto Korfes, dem ersten Leiter der Staatlichen Archiv- verwaltung der DDR, als „lebendes Archiv“ für die Übernahme von Archivgut aus den niederlausitzischen Kreisen eingerichtet wurde (10.10.1949), war darin begründet, daß Martin Spahn im Auftrag der Kommunalstände des Markgraftums Niederlausitz in der Zwischenkriegszeit aus ihrer Altregistratur – der auch bereits im 19. Jahrhundert (Teil-) Überlieferungen frühneuzeitlicher landesherrlicher Behörden angegliedert worden wa- ren – durch seine Ordnungs- und Erschließungsarbeiten überhaupt erst ein nach archivi- schen Fachprinzipien gestaltetes Archiv geschaff en und 1939 in einem Beständeübersicht und Findbuch miteinander kombinierenden Band („Inventar des Ständischen Archivs in Lübben“) dem Publikum vorgestellt hatte. Dieses Archiv suchte nach 1945, da sein bis- heriger Träger durch die Kriegsfolgen untergegangen war, nach einer neuen verwaltungs- organisatorischen Zuordnung. Lehmann konnte doppelt beglückt sein, darüber, daß das Haus, dessen Bestände er seit langem aus eigener intensiver Benutzung für seine nieder- lausitzer Studien bestens kannte, in seiner Existenz gesichert wurde und daß er selbst seine verantwortliche Leitung übernahm. Dabei hatte er sich als erstes mit den verheerenden ar- chivischen Folgen des deutschen Zusammenbruchs vom Mai 1945 und des gesellschaft- lichen Umbruchs in der Sowjetischen Besatzungszone auseinanderzusetzen, die beide am Lübbener Archiv wie überhaupt an den Archiven der Landschaft nicht spurlos vorüber- gegangen waren. Stahns Ständisches Archiv war während der Zerstörung der Stadt Lüb- ben in den Kämpfen Ende April 1945 nur knapp der Vernichtung entgangen, hatte aber schwer unter den chaotischen Verhältnissen der ersten Nachkriegszeit gelitten und war von ihm noch nicht wieder vollständig in seinen alten Zustand zurückversetzt worden. An der Spitze der Arbeiten standen daher für Lehmann die funktionsgerechte Einrichtung und Gestaltung des Landesarchivs in seiner überkommenen Unterkunft, dem ehemaligen Stän- dischen Landhaus, also im einzelnen die Bereitstellung der erforderlichen Arbeitsmittel und Arbeitsräumlichkeiten, insbesondere die Überprüfung der vorhandenen Bestände der Stände und der landesherrlichen Behörden des Markgraftums Niederlausitz sowie der De- posita auf Vollständigkeit, die Wiederherstellung der Ordnung, nötigenfalls ihre Neuver- zeichnung und Signierung sowie ihre Neuaufstellung im Magazin, und auch die wertvolle Bibliothek der Stände bedurfte der Neuaufstellung und eines neuen Zettelkataloges (15.–

18.11.1949). In Erwin Seemel erwuchs ihm bald für alle archivischen Arbeiten ein tatkräf- tiger Mitarbeiter. Stahns Leistungen für die Ordnung und Erschließung lieferten zwar die Grundlage für die Erfassung des überkommenen Archivgutes, bedurften aber nach den Wirren des Kriegsendes der Kontrolle und in vielerlei Fällen der Ergänzung.

Da das Landesarchiv Lübben nicht als abgeschlossenes, allein aus den Beständen der untergegangenen Stände und landesherrlichen Behörden des Markgraftums Niederlau- sitz bestehendes „historisches“ Archiv, sondern als „lebendes“ Archiv mit der Pfl icht zur Übernahme neuen Archivgutes anderer staatlicher und nicht-staatlicher Bestandsbildner in den niederlausitzischen Kreisen konzipiert war, kümmerte sich Lehmann von Anfang seines Lübbener Einsatzes an vornehmlich um das Archivgut, das durch die Umwälzung

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der gesellschaftlichen Ordnung herrenlos geworden war und wegen eines jahrelang feh- lenden brandenburgischen Provinzial- bzw. Landesarchivs unbeaufsichtigt und unbetreut verloren zu gehen drohte. Besonders gefährdet waren die zahlreichen adeligen Guts- und Herrschaftsarchive nach der Enteignung und Vertreibung ihrer Eigentümer, da sie viel- fach dem Zugriff unbefugter und unkundiger Personen off enstanden und, in ihrem Wert unerkannt, dem Untergang geweiht waren. In manchen Fällen vermochte Lehmann in den Jahren 1950 bis 1953 auf seinen Rundreisen durch seinen Archivsprengel nur noch be- scheidene Reste zu sichern, in anderen Fällen gelang ihm die Übernahme quantitativ und qualitativ hochwertiger Überlieferungen wie die der Standesherrschaften Lieberose (der Grafen von der Schulenburg), Lübbenau (der Grafen von Lynar), Sonnewalde (der Grafen von Solms-Sonnewalde) und Straupitz (der Herren von Houwald). Enttäuschung über die eingetretenen erheblichen Verluste und Freude über das gerettete und gesicherte Schrift- gut mit seinen Schätzen lagen zuweilen dicht nebeneinander wie etwa während des Besu- ches in Straupitz im März 1950. Die Böden des Schlosses waren geleert, so daß die dortige Suche nach alten Akten nur „Schnitzel“ und ein „Restheft mit Gedichten von [Ernst von]

Houwald“ (S. 70) zutage förderte und die Vernichtung der Urkunden und Familienpapiere vermutet wurde, während im Erdgeschoß des Rentamtes zahlreiche Gutswirtschaftsak- ten und mehrere Bände des literarischen Briefwechsels Houwalds, darunter ein Brief mit eigenhändiger Unterschrift Goethes und ein Brief seiner Schwiegertochter an Houwald, aufgefunden wurden; im Ergebnis wurden 35 oder 36 Pakete Straupitzer Akten nach Lüb- ben abtransportiert (S. 70; vgl. auch R. Lehmann, Die Niederlausitz in den Tagen des Klassizismus, der Romantik und des Biedermeier, 1958, S. 163). In Lübbenau ermittelte Lehmann auf dem Schloßboden Massen von Akten des Rentamtes aus dem 18.–20. Jahr- hundert, Wirtschafts- und Rechnungsbücher sowie Akten zu Kirchen- und Schulsachen.

Besonders erfreut war er darüber, daß er im März 1953 den Grafen Wilhelm von Lynar dazu bewegen konnte, ihm die umfangreichen Unterlagen der Gräfi n Kielmannsegge, ei- ner geschiedenen Gräfi n Lynar, zu überlassen. Der Rundgang durch das Lieberoser Schloß off enbarte ansehnliche Reste des Herrschaftsarchivs seit dem 16. Jahrhundert, am Ende der ersten Sichtung im Mai 1950 wurden die Akten in 33 Bündel zusammengetragen, im Juni weitere Akten im Umfang von 60 Zentnern nach Lübben überführt. Das in Sallgast vorgefundene gut geordnete Schloßarchiv wurde nach Absprache mit dem Bürgermeis- ter ins Landesarchiv verbracht. In anderen Fällen konnte Lehmann allenfalls noch „küm- merliche Reste“ adliger Herrschaftsarchive feststellen, so in Branitz auf dem ehemaligen Pücklerschen Besitz, von wo er über 100 Pergamenturkunden übernahm (16.–20.4.1951), so in Groß Leuthen, wo die Akten von der Feuerwehr aus dem Schloß herausgeholt und verbrannt worden waren, so im benachbarten Wintdorf, aber immerhin stellte er im Kreis- kulturamt Cottbus ca. 25 Pakete Akten aus den Gütern Leuthen-Wintdorf, Briesen und Werben fest (2.4.1951). In Neuzelle waren die meisten Akten 1945 auf dem Stiftshof ver- brannt worden, nur wenige Rechnungsbände des 19. Jahrhunderts, wenige ältere Unterla- gen und Karten waren davon verschont geblieben.

Der Einlagerung der Archivalien in Lübben schloß sich ohne längere Unterbrechung ihre Erschließung an. Es ging Lehmann um die rasche Benutzbarmachung der Neuzugänge

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XIX Zur Einführung

bzw. überhaupt aller Bestände seines Hauses, was er dadurch erreichte, daß er sich zu- meist mit ihrer einfachen Verzeichnung begnügte. Er selbst konzentrierte sich in der ersten Hälfte der 1950er Jahre auf die Ordnung und Verzeichnung der übernommenen Guts-, Herrschafts- und Familienarchive bis hin zur Findbucherstellung, wobei er vorrangig viel Zeit und Arbeit für die Urkunden, Akten und Karten der genannten Standesherrschaften verwandte. Die Herrschaft Lübbenau beanspruchte ihn in den Jahren 1951 und 1952 et- liche Monate lang, dabei galt sein besonderes Augenmerk der Regestierung des ansehn- lichen Urkundenbestandes. Bei der Herrschaft Straupitz hatte er „einen wüsten Haufen“

Akten zu bewältigen (15.–31.10.1951, S. 141). Die Bearbeitung von Gutsarchivresten war insofern schwierig, als sie großenteils aus zahlreichen Einzelschriftstücken verschie- denster Art bestanden. Bis Mitte der 1950er Jahre vermochte Lehmann (handschriftliche) Findbücher zu zahlreichen Gutsarchiven fertigzustellen. Im Bereich des nicht-staatlichen Archivgutes trat seiner Sicherung der Adelsarchive seine Betreuung der Stadtarchive zur Seite. Im Rahmen von Bestrebungen der Staatlichen Archivverwaltung suchte er über die Jahre hinweg durch Besuche und Belehrungen vor Ort ebenso wie durch Veranstaltungen und Vorträge niederlausitzische und brandenburgische Stadtarchive fachlich anzuleiten und die Qualität ihrer Arbeit zu fördern. Kommunales Archivgut wurde nur ausnahms- weise für das Landesarchiv gewonnen; so wurden 1951/52 beachtliche Altregistraturen der Städte Lieberose und Lübbenau nach Lübben überführt, und 1954 wurde der bedeutende Urkundenbestand der Stadt Luckau übernommen, weil es vor Ort an einer geeigneten Kraft für einen fachkundigen Umgang fehlte. Als der Archivsprengel des Landesarchivs von der Staatlichen Archivverwaltung auf die 1952 dem Bezirk Cottbus verbleibenden niederlausitzer Kreise festgelegt worden war, stießen mehrfache Vorstöße Lehmanns zur Überführung verschiedener staatlicher und kommunaler Bestände niederlausitzer Lokal- und Regionalbehörden aus dem Landeshauptarchiv in Potsdam nach Lübben zur Abrun- dung des Lübbener Bestandsprofi les bei den Potsdamer Direktoren auf keinen Widerhall.

Seine angestrengte archivische Arbeit versetzte Lehmann in die Lage, bereits nach einem guten halben Jahrzehnt seiner Tätigkeit für das Landesarchiv den logisch nächsten Schritt im archivischen Arbeitsprozeß zu tun, nämlich nach der Neuerfassung der alten und der Übernahme der neuen Bestände und ihrer Erschließung vom Sommer 1955 bis Anfang 1957 mit Unterbrechungen eine Beständeübersicht zu erarbeiten. In ihr wurden die einzel- nen Bestandsbildner in ihrer Geschichte skizziert, ausführlich die Geschicke ihrer archi- valischen Hinterlassenschaft geschildert und der vorhandene Bestand durch die Zusam- menstellung der Aktengruppen und ihrer Gliederung eingehender zur ersten genaueren Orientierung des Benutzers vorgestellt. Während Lehmann sich für die ständische Über- lieferung auf das Archivinventar Stahns von 1939 und für die landesherrliche Überliefe- rung auf vorhandene ältere Findhilfsmittel stützen konnte, beruhte die Beschreibung der Herrschafts-, Guts- und Familienarchive – die den umfangreichsten Abschnitt ausmacht –, der Stadt- und sonstigen Archive unterschiedlicher Provenienzen, der Karten und Pläne sowie der Sammlungen sowie der archivischen Hilfsmittel auf den Ergebnissen seiner Wirksamkeit (und der Seemels). Die 1958 erschienene „Übersicht über die Bestände des Landesarchivs Lübben / NL.“ bezeugt, wie es Lehmann verstanden hatte, auf der Grund-

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lage des Ständischen Archivs und unter dessen erheblicher Erweiterung innerhalb eines knappen Jahrzehnts ein äußerlich bescheidenes, aber innerlich gehaltvolles Landesarchiv mit eigener Tektonik und guter Erschließung zu gestalten. Er war sich der Eigenart sei- nes kleinen auf Grund unzureichender Zuständigkeitsabgrenzung gebildeten „Vielheitsar- chivs“ mit seiner Mischung aus organisch erwachsenen Provenienzbeständen und zahlrei- chen Archivresten und Sammlungen bewußt, bezog aber aus dieser Erkenntnis umso mehr den Antrieb zur Intensivierung der archivwissenschaftlichen Analyse, zur Schaff ung zu- sätzlicher Hilfsmittel für die erweiterte Erfassung der Inhalte (S. 270). „Sind so dem Ar- chiv verhältnismäßig enge Grenzen seiner äußeren Wirksamkeit gezogen, so bleibt ihm um so mehr die Möglichkeit und Verpfl ichtung, seine Bestände immer weiter und vertief- ter für die Benutzung und insbesondere für die weitere Erforschung der Landschaft und ihrer wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse zu erschließen, wo- bei auch die Frage nach der Geschichte der sorbischen Minderheit mitspricht“ (S. 4 der Beständeübersicht).

Die archivarischen Arbeiten Lehmanns schufen, wie dieses Zitat bereits andeutet, die grundlegenden Voraussetzungen für seine editorischen und darstellerischen Vorhaben, weil sie großenteils oder sogar ausschließlich auf den Zeugnissen des Landesarchivs be- ruhten und weil er insbesondere auf der Grundlage von dessen Zugängen neue landes- geschichtliche Fragestellungen aufzugreifen und neue Forschungsergebnisse zu erzielen beabsichtigte. Seine Tagebücher belegen wiederholt, daß auf die archivische Übernahme und Erschließung einer Überlieferung, wenn sie gehaltvollen Stoff beinhaltete und für eine anregende historische Fragestellung verwertbar erschien, ohne nennenswerte zeitliche Un- terbrechung die historische Auswertung, die Bearbeitung einer klar umrissenen geschicht- lichen Thematik, folgte. Aus seiner Ordnung und Verzeichnung der Lübbener Bestände erwuchsen im unmittelbaren Anschluß eine Edition, die „Quellen zur Lage der Privatbau- ern in der Niederlausitz im Zeitalter des Absolutismus“ (1957), und eine um erhebliche editorische Anteile angereicherte monographische Darstellung, „Die Niederlausitz in den Tagen des Klassizismus, der Romantik und des Biedermeier“ (1958). Beide Werke schöpf- ten in erheblichen Teilen oder gar vorrangig aus ausgewählten Adelsarchiven, die erst kurz zuvor ins Landesarchiv überführt und erschlossen worden waren. Die Arbeiten am erstge- nannten Werk nahm Lehmann im Juni 1952 auf, und nach ihrer Beendigung im Juli 1955 hatte er auf (späteren) 300 (Druck-)Seiten 132 Quellentexte aus dem Zeitraum 1650 bis 1821 zusammengetragen, auszugsweise oder vollständig abgedruckt und durch Kopfre- gesten, Quellennachweise, knappe Erläuterungen, ein Personen- und Ortsregister sowie ein Wort- und Sachverzeichnis für die Benutzung aufbereitet. Die Dokumente stammten etwa zu gleichen Anteilen aus der landesherrlichen, ständischen und gutsherrlichen Über- lieferung, genauer gesagt, vornehmlich aus den kreisbezogenen Prozeßakten der Ober- amtsregierung, aus der Aktengruppe Untertanen-Sachen der Stände und aus den Herr- schafts- und Gutsarchiven Briesen, Lieberose, Lübbenau, Pretschen, Scado, Sonnewalde, Straupitz, Vetschau, Wintdorf-Leuthen. Die Berücksichtigung zahlreicher Bestandsbildner verfolgte dabei den Zweck, dem Gegenstand aus verschiedenartigen Perspektiven nahe zu treten, also die verschiedenen Handelnden wie die Untertanen und die Herren, die Stände,

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XXI Zur Einführung

den Landesherrn und seine Oberamtsregierung zu Worte kommen zu lassen, die verschie- denen sachliche Vorgänge, die die Kontroversen der Parteien betrafen wie beispielsweise die Steuerleistungen, die Dienstverpfl ichtungen, Viehhaltung, Hutung und Holzbeschaf- fung, zu erhellen und die Formen, in denen die Auseinandersetzungen ausgetragen wur- den wie Bittschriften, Beschwerden, Urteile und Entscheide, Mandate, Landtagsschlüsse, Urbare und Rezesse, zu beleuchten.

Zur Abfassung des zweitgenannten Werkes über die Niederlausitz in den Jahrzehnten um 1800 entschloß sich Lehmann im Januar 1951 auf Grund seines Studiums des literari- schen Briefwechsels des Dichters Ernst von Houwald, den er im März 1950 in Straupitz gesichert und der ihn sogleich zu einer weitausgreifenden Untersuchung über das kultu- relle Leben in der Niederlausitz um 1800 inspiriert hatte. Seine Schilderung gewinnt ih- ren Rang vor allem aus seinen inhaltsreichen Funden in den Herrschaftsarchiven der Fa- milie von Houwald auf Straupitz und der Grafen zu Lynar auf Lübbenau, unter denen der Schriftwechsel des Standesherren Carl Heinrich Ferdinand von Houwald mit Karl Fried- rich Schinkel über den klassizistischen Neubau der Kirche in Straupitz und die ausge- dehnte Korrespondenz des genannten Dichters Ernst von Houwald mit Dutzenden von bekannten und unbekannten Persönlichkeiten aus der deutschsprachigen Literatur-, Thea- ter- und Verlagswelt in Berlin, Dresden, Weimar, Wien und anderswo wie etwa Friedrich de la Motte Fouqué, Carl von Brühl und Joseph Schreyvogel herausragen. Die Darstel- lung wird ergänzt durch den zumeist vollständigen Abdruck vieler Briefe Schinkels und von Houwalds Briefpartnern, die vom intellektuellen Gedankenaustausch über die anste- henden kulturellen Themen, Aufgaben und Probleme zeugen. Die Monographie ist weit- gehend aus ungedruckten Archivalien des Landesarchivs Lübben, neben den Adelsarchi- ven vornehmlich aus den Beständen des Konsistoriums und der Stände der Niederlausitz, sowie aus zeitgenössischen Drucksachen und Schrifttum erarbeitet und verrät in etlichen Anmerkungen Lehmanns umfassende archivische Bestandskenntnisse und seine damit verbundene Findigkeit zur Ermittlung eines verstreuten, entlegenen und versteckten Quel- lenstoff s. Seine derartigen Fähigkeiten haben es ihm erst ermöglicht, die gesellschaftli- chen und kulturellen Zustände der Niederlausitz in einem Zeitraum von deutlich mehr als einem halben Jahrhundert mit einer Fülle von speziellen und allgemeinen Beobachtungen und anschaulichen Beispielen in einer Breite und Tiefe zu beschreiben, die den Leser im- mer wieder in Erstaunen versetzt.

Unter Lehmanns archivischen Aktivitäten bleibe nicht unerwähnt, daß er wiederholt und in dichter Folge kleine Archiv- bzw. Archivalienausstellungen des Landesarchivs in seinen Räumlichkeiten unter wechselndem Publikumszuspruch zeigte, in denen zu unterschiedli- chen Themen ausgewählte wertvolle oder typische Dokumente aus seinen Beständen ins- besondere zur beispielhaften Einführung in die archivalische Überlieferung und die Viel- falt ihrer Gattungen von der Urkunde über Amtsbücher, Akten, Karten, Pläne und Bilder dargeboten wurden. Überzeugt vom Wert historischer Bildung, suchte er so in einer brei- teren Öff entlichkeit ein Verständnis und einen Sinn für die Grundlage der historischen Er- kenntnis, die schriftlichen Quellen in ihrer originalen Verfassung, zu wecken.

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Von Lehmanns archivischen und archivwissenschaftlichen Aufgaben führte ein direk- ter Weg zu seinen (landes-)historischen Forschungen, verstand es sich doch für ihn von selbst, daß die vom Archivar geschaff enen Grundlagen den Bemühungen des Historikers um die Beschreibung der Vergangenheit zu dienen hatten, daß die Ergebnisse des ersteren mündeten in den Themenstellungen und Untersuchungen des letzteren. Dabei galten seine Bemühungen um die Landesgeschichtsforschung nicht nur den eigenen Werken, sondern er suchte sie darüber hinaus, befördert durch seine Möglichkeiten als Landesarchivleiter, dadurch zu inspirieren, daß er Kreise gleichgesinnter Fachgenossen in lockerer Organisa- tionsform um sich herum versammelte und in diesem Rahmen sowohl Vorhaben einzelner als auch insbesondere größere, langfristige Unternehmungen der historischen Grundlagen- forschung anregte und deren Durchführung begleitete. Zwei derartige Initiativen ergriff er in der Mitte der 1950er Jahre, die erste, frühere für den engeren Bereich der Niederlausitz, die zweite, spätere für den größeren Bereich der Mark bzw. Provinz Brandenburg. Zuerst gründete er für die Niederlausitz nach vorangegangenen, erstmals im September 1953 mit der Staatlichen Archivverwaltung angestellten Erörterungen die „Arbeitsgemeinschaft für geschichtliche Landeskunde“ am Landesarchiv Lübben. Sie vereinte eine kleine Runde von ca. zehn Fachkollegen – sowohl Mitarbeitern des Landesarchivs als auch Angehö- rige verschiedener historischer Fachdisziplinen aus wissenschaftlichen Einrichtungen der Niederlausitz und Sachsens mit Interessen an der niederlausitzer Landesgeschichte und Volkskunde –, die nach einer Vorbesprechung Ende März 1954 ab Juni 1954 regelmäßig, zumeist vierteljährlich, zusammentraten und die dabei über ihre verschiedenen individuel- len Themen und Thesen referierten und diskutierten. Die Staatliche Archivverwaltung be- scheinigte ihm, daß sein Vorhaben unter den Staatsarchiven der DDR einmalig dastand. In gewisser Weise knüpfte Lehmann an die Tätigkeit seiner 1945 erloschenen Niederlausitzer Gesellschaft für Geschichte und Landeskunde an insofern, als er nun erneut, wenn auch in anderem organisatorischem Rahmen, für seine Heimatlandschaft Forschungskapazitäten zu bündeln und Forschungsinitiativen anzuregen trachtete, nachdem die Geschichts- und Heimatvereine nach 1945 nicht wieder zugelassen worden waren.

Von größerem Gewicht und größerer Reichweite waren Lehmanns Versuche um die Wie- derbelebung der brandenburgischen Landesgeschichtsforschung, mit denen er zum ersten Mal mit seinen eigenen wissenschaftsorganisatorischen Bestrebungen über die Niederlau- sitz hinausgriff . Die beiden älteren, wesentlichen Träger der landesgeschichtlichen For- schungsarbeit in Brandenburg, der „Verein für Geschichte der Mark Brandenburg“ und die

„Historische Kommission für die Provinz Brandenburg und die Reichshauptstadt Berlin“

bzw. die „Historische Kommission der Provinz Mark Brandenburg“, hatten 1945 zu beste- hen aufgehört, als ihre bisherigen öff entlichen Förderer im Neuaufbau der Verwaltung un- tergegangen waren und die Besatzungsmächte die bisherigen Vereine verboten hatten; da- mit waren auch die von ihnen herausgegebenen Veröff entlichungsorte – Zeitschriften wie Schriftenreihen – zum Erliegen gekommen. Zehn Jahre nach Kriegsende entbehrten die brandenburgischen Landeshistoriker in Ost wie in West immer noch des festeren organisa- torischen Zusammenschlusses ebenso wie amtlicher Unterstützung, ein Zustand, den Leh- mann zu überwinden suchte, indem er zunächst an die förmliche Wiederbegründung einer

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XXIII Zur Einführung

Historischen Kommission dachte. Er erfreute sich dabei der nachdrücklichen und tatkräf- tigen Unterstützung seines unmittelbaren Vorgesetzten Friedrich Beck, des (1954 kommis- sarisch, 1956 endgültig berufenen) Direktors des Brandenburgischen Landeshauptarchivs.

Beck wie seine führenden wissenschaftlichen Mitarbeiter dieser Jahre, Lieselott Enders an der Spitze, gehörten der jungen, in den ersten archivarischen Ausbildungskursen der DDR am Potsdamer Institut für Archivwissenschaft seit 1951 ausgebildeten Generation an, und sie waren von dem Ehrgeiz beseelt, ihr neues, erst 1949 gegründetes Haus nach dem Vor- bild der älteren Landes(haupt)archive auch zu einer landesgeschichtlichen Forschungs- stätte mit Publikationsprogramm und -reihe auszugestalten. Becks jugendlicher Impuls und Lehmanns reife Erfahrungen verbanden sich miteinander, auf der Grundlage, daß beide trotz ihrer Herkunft aus unterschiedlichen wissenschaftlichen und wissenschaftspo- litischen Welten in ihren zentralen landeshistorischen Anliegen und in ihren allgemeinen Einschätzungen miteinander harmonierten. „Beck ist sehr vernünftig, hat sich ein klares Urteil bewahrt und besitzt vorzügliche Umgangsformen. Wir unterhielten uns fast drei Stunden, sprachen auch über die allgemeinen politischen Aspekte und waren im wesent- lichen der gleichen Meinung,“ notierte Lehmann in sein Tagebuch nach ihrer Zusammen- kunft am 10. Januar 1956 (S. 270).

In kleiner Runde legte Lehmann auf einer Besprechung im Landesarchiv Lübben im Mai 1956 seine Überlegungen zu einem organisatorischen und inhaltlichen Neuansatz vor, nachdem er bereits im Februar Beck gegenüber die Neugründung einer Historischen Kom- mission angeregt hatte, ohne sich seines Erfolges gewiß zu sein, aber seine Initiative zeugt von seinem gewachsenen Selbstbewußtsein: Er gedachte nicht, sich auf seine archivari- schen Arbeiten für die Niederlausitz zu beschränken, sondern er wollte darüber hinaus die brandenburgische Landesgeschichtsforschung durch den Zusammenschluß der Fach- leute und durch ein von ihnen verabschiedetes Forschungsprofi l aus ihrer seit den Kriegs- zeiten andauernden „Schockstarre“ befreien. Aus seinen und Becks Absichten erwuchs schließlich die „Landesgeschichtliche Forschungsstelle für Brandenburg“, die sich im Fe- bruar 1957 auf einer Sitzung im Brandenburgischen Landeshauptarchiv konstituierte. Für die von ihr geplanten Vorhaben sollten sowohl dessen Mitarbeiter als auch ihm verbun- dene Archivare und Historiker gewonnen werden. Lehmanns weitgespanntes Programm knüpfte bewußt an die Planungen der beiden Historischen Kommissionen der Zwischen- kriegszeit an, denen er selbst angehört und in deren Rahmen er gearbeitet und publiziert hatte. Er übernahm von ihnen einige damals begonnene oder auch nur erwogene Projekte, fügte neue hinzu, verband die zunächst vorrangig vorgesehenen Quellenausgaben mit fer- nerhin gewünschten Darstellungen. Die neun beabsichtigten Vorhaben zielten vornehm- lich auf archivische und landesgeschichtliche Hilfsmittel und Nachschlagewerke sowie auf Editionen ab. Unter ihnen erschien sowohl in Lehmanns Entwurf von 1956 als auch in der Beschlußfassung von 1957 das „Historische Ortslexikon für Brandenburg“. Lehmann nahm damit einen Plan wieder auf, der aus Erwägungen der zweiten Historischen Kom- mission von 1943 mit ihrer stärkeren heimatkundlichen, regional- und ortsgeschichtlichen Orientierung stammte, der aber unter den Kriegsbedingungen über die bloße Ankündigung hinaus nicht gediehen war. Er arbeitete selbst seit 1956 an einem Historischen Ortslexikon

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für die Niederlausitz, sichtete insbesondere die Bestände seines Landesarchivs Lübben für dessen Belange und wertete sie für ein von ihm entworfenes 10-Punkte-Schema aus, in dem die maßgeblichen inhaltlichen Gesichtspunkte bzw. Auswahlkriterien bezeichnet wa- ren. Sein Projekt war aber als Teil des umfassenderen Historischen Ortslexikons für Bran- denburg gedacht, dessen Inangriff nahme endgültig im Februar 1957 beschlossen wurde.

Die märkischen Kreise sollten von zwei Archivaren bearbeitet werden, von der Potsda- mer Archivarin Lieselott Enders und dem (Ost-)Berliner Archivar Klaus Schwarz, die ihre Tätigkeit für die zunächst ausgewählten Kreise, West- und Ostprignitz bzw. Templin, Prenzlau und Angermünde (Uckermark), sogleich aufnahmen. In seiner Anlage folgte das Brandenburger Ortslexikon der von Karlheinz Blaschke für Sachsen entwickelten histo- risch-statistischer Methode der Materialaufbereitung und -präsentation, verarbeitete je- doch im Gegensatz zu ihm mit einer umfassenderen und diff erenzierteren Gliederung eine ungleich größere Stoff fülle. Aus dem breiten Zugriff ergab sich unmittelbar, daß das Ge- biet der ehemaligen Provinz Brandenburg abschnittweise, aber vollständig bearbeitet wer- den sollte; ausgehend von den 1815–1945/52 bestehenden Kreisen gedachte man sich an den spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen historischen Landschaften zu orientieren.

Rückblickend betrachtet erscheinen die Gründung der Landesgeschichtlichen Forschungs- stelle und die Ingangsetzung der von ihr beschlossenen Vorhaben geradezu als Peripetie in Lehmanns landesgeschichtlichem Einsatz in der frühen DDR. Als im Sommer 1956 in den vorbereitenden Überlegungen Bedenken wegen konkurrierender Planungen zur Grün- dung landesgeschichtlicher Kommission sowohl in West-Berlin am Friedrich-Meinecke- Institut der Freien Universität Berlin wie auch in Ost-Berlin an der Deutschen Akademie der Wissenschaften auftauchten, gab Lehmann zwar die eigene Kommissionsgründung rasch auf, aber nicht die eigene Forschungsinitiative, denn er setzte auf die Kraft der ei- genen Leistung, mit der er sich in die Absichten der anderen einzubringen und sie für sich zu gewinnen hoff te: „Auf Becks Frage, wie ich nun weiter denke, erklärte ich, daß wir von uns aus die Sache weitertreiben müßten, damit wir uns als Forschungsstelle sofort zur Verfügung stellen könnten, wenn es soweit ist. Wir sollten uns über die Personen ei- nig sein, wir sollten am besten schon in der Lage sein, etwas an Arbeiten anzubieten oder doch als in Bearbeitung stehend in Aussicht zu stellen“ (S. 286). Lehmanns Bemerkungen zielten auf eine Kommission für Landesgeschichte, die damals innerhalb des Instituts für Geschichte an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin geschaff en werden sollte; ihm schwebten als deren Unterbau Forschungsstellen in den einzelnen ehemaligen Ländern vor, wie eben die brandenburgische. Lehmann und Beck wurden in die geplante neue Kommission einbezogen, die gegen Lehmann vorgebrachten Bedenken wegen sei- ner noch zu erörternden Publikationen in Westdeutschland wurden ausgeräumt. Lehmanns Taktik ging auf, denn seine beiden im Manuskript seit längerem abgeschlossenen Editio- nen wurden von der Kommission sogleich, nachdem er sie ihr angeboten hatte, angenom- men und zugleich als deren Publikation wie als Publikation der brandenburgischen For- schungsstelle 1957 und 1958 vom Akademie-Verlag herausgebracht: die bereits erwähnten

„Quellen zur Lage der Privatbauern in der Niederlausitz im Zeitalter des Absolutismus“

und „Die Urkunden des Stadtarchivs Luckau in Regesten“, ein Werk zu einem der bedeu-

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XXV Zur Einführung

tendsten und umfangreichsten Urkundenbestände aus der Niederlausitz, an dem er bereits seit 1942 gearbeitet und das er nach Vollendung von Register und Einleitung im Manu- skript im wesentlichen im November 1950 abgeschlossen hatte. Aber Lehmanns Skepsis, die er der Akademie-Kommission von vornherein entgegengebracht hatte, sollte sich als berechtigt erweisen. Er hatte ihre Wirksamkeit bezweifelt, weil ihr weder eigenes Perso- nal noch vor allem eigene Mittel, noch nicht einmal für Werkverträge, zur Verfügung stan- den, so daß sie über keine eigene Handlungsfreiheit verfügte und gänzlich vom Willen der Akademie-Leitung abhing. Die von ihr Ende der 1950er Jahre weit vorangetriebenen Vor- bereitungen für die Herausgabe einer landesgeschichtlichen Zeitschrift, für deren erstes Heft die Beiträge bereits zusammengetragen waren, versandeten, die Zeitschrift hat nie das Licht der Welt erblickt – ein Symptom dafür, daß eine traditionelle landesgeschicht- liche Kommission mit einem bürgerlichen Archivar wie dem Dresdener Archivdirektor Hellmut Kretzschmar als Vorsitzendem nicht mehr zum Profi l der dominierenden marxis- tischen Geschichtswissenschaft der DDR paßte. Wenig später wurde ihr gewissermaßen offi ziell das Ende bescheinigt: 1961 verkündete Max Steinmetz in Görlitz das Programm der marxistischen „Regionalgeschichte“ im bewußten Gegensatz zur überholten bürger- lichen „Landesgeschichte“, diese Regionalgeschichte blieb fortan Leitbild der DDR-Ge- schichtswissenschaft für den Bereich zwischen National- und Lokalgeschichte.

Zu dieser Zeit hatte Lehmann längst erfahren müssen, daß die maßgebliche DDR-Stelle, in seinem Fall die Staatliche Archivverwaltung ihm nicht mehr die aus seiner Sicht unver- zichtbare wissenschaftliche Freiheit einzuräumen gewillt war. Daß die SED der Bevölke- rung ihres Staates keine politische Freiheit zugestand, daß sie im Zuge ihrer Machterobe- rung und Machtbehauptung nach 1945 die niedergerungene braune Diktatur durch eine rote Diktatur ersetzte, hatte Lehmann bewußt erlebt, und so begegnete er der politischen Ordnung der DDR, also der uneingeschränkten Dominanz der Staatspartei SED über das Land und seine Menschen, von Anfang an mit tiefster Abneigung. Die kommunistische Herrschaft war nach seinen Beobachtungen der politischen Vorgänge in der großen Welt ebenso wie nach seinen Erfahrungen in seinem kleinen persönlichen Umfeld nichts ande- res als „Tyrannei“, als „Zwang und Terror“ (18.–23.6.1962, S. 508). Sie verurteilte ihre Bürger durch ihre Eingriff e in elementare menschliche Rechte wie die Reisefreiheit zu einem „Kerkerdasein“ (1.–6.6.1959, S. 446) bzw. sperrte sie „in eine Art Zuchthaus“ ein (27.1.1962). Sie übte ihnen gegenüber „reine Willkür“ aus, indem im Bedarfsfall Op- ponenten Recht und Rechtsstaat faktisch verweigert und sie durch politische Verdächti- gungen mundtot gemacht wurden (13.4.1960, S. 471 f.). Lehmann konnte sich in seinem Urteil immer wieder bestätigt fühlen, wenn die SED sich erneut anschickte, eine von ihr identifi zierte gegnerische Gruppe einzuschüchtern und zu unterdrücken und ihr eigenes Gesellschaftsmodell rücksichtslos durchzusetzen. Er litt unter der Teilung Deutschlands, er hoff te auf dessen Wiedervereinigung, ohne mit voranschreitender Zeit an sie oder je- denfalls an ihre baldige Verwirklichung noch zu glauben, weil ihm klar war, daß die SED die unverzichtbare Voraussetzung, die Selbstbestimmung des Volkes in freien Wahlen, niemals erfüllen werde. Die tatsächlich stattfi ndenden „Wahlen“ vermochte er wegen der damit verbundenen Manipulationen zur Verfälschung der wahren Volksmeinung, wegen

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der fehlenden echten politischen Alternativen nur mit Verachtung und Sarkasmus zu stra- fen. Zum 17. Oktober 1954 vermerkte er (S. 237): „ ‚Wahltag‘. In Wirklichkeit war‘s eine Farce, keine Wahl, nur Zustimmung‘“. Zum Juni 1957 heißt es (S. 328): „Z. Zt. arbeiten die derzeitigen Machthaber wieder mit stärkeren Terrormethoden. Zunächst das ‚Wahl‘- Theater am 23. [Juni], wo die bereits feststehenden Kandidaten für Stadt und Kreis ‚ge- wählt‘ werden mußten. 99,5 % für, was vorher schon so gut wie feststand. Viel übersteigen läßt sich das künftig, wenn ja sog. Wahlen stattfi nden, nicht mehr.“

Aufmerksam registrierte Lehmann Jahr für Jahr die statistischen Zahlen über die Zehntau- sende und Hunderttausende von Menschen, die die DDR unter dem politischen und sozia- len Druck verließen, für den er zweimal selbst in seiner Nähe, in seinem kirchlichen und seinem landwirtschaftlichen Umfeld, Anschauungsmaterial erhielt. Im Frühjahr 1953 be- obachtete er das Vorgehen der SED gegen die christliche „Junge Gemeinde“, der Jugend- organisation der Evangelischen Kirche: „Nun geht der Kampf schon einige Wochen ge- gen die Kirche, die sie [sc. die SED] in der jungen Gemeinde zu treff en sucht, indem sie diese als verbrecherische Bande diff amiert. Furchtbar triff t dieses Vorgehen Schüler der Oberschule. Sie werden einfach aus der Schule gewiesen, wenn sie nicht ihre Zugehörig- keit zur jungen Gemeinde aufgeben. Etwa acht bis zehn traf dieses Los an der hiesigen [Senftenberger] Schule. Und dann zwingt man die Jungen und Mädchen noch zu Erklärun- gen, die das Wesen und Tun in der geistlichen Vereinigung als verbrecherisch bezeichnen“

(S. 187). Voller Entsetzen nahm er im März 1960 in den Berichten seiner Vertrauensper- sonen, darunter des Cottbuser Superintendenten, die Zwangskollektivierung der Landes- wirtschaft wahr: „Superintendent Schüler erzählte mir von den furchtbaren Vorkommnis- sen bei dem scheußlichen Bauernlegen in der Gegend, das jetzt in allen Bezirken brutal betrieben wird, um die noch freien Bauern in die Kolchose zu zwingen. Wie ich schon in Lübben hörte, liegen Männer und Frauen völlig zusammengebrochen unter den unaufhör- lichen Nötigungen und Zwangsmaßnahmen dieser Schergenrudel! In großen Trupps rückt man in die Dörfer, Funktionäre, Polizei und andere Helfersknechte mit Lautsprecher- und Scheinwerferwagen, dringt in die Bauernhäuser ein und zwingt die armen Leute durch fortgesetztes Aufsieeinreden und Drohen. Wie mir Schüler erzählte, sind 3 Selbstmordver- suche vorgekommen, weil sich die Leute nicht mehr zu helfen wußten. Andere fl üchteten nach Berlin. Aus der ganzen Zone sind es schon mehrere Tausend. Finsteres Mittelalter“

(S. 464). Lehmann litt geradezu auf Grund persönlicher Bekanntschaft und Gespräche mit dem Bauern Henzke aus Brieske, der sich ungeachtet aller Drohungen nicht dem Eintritt in die LPG zu beugen gedachte: „Hier ein Mann, der gesonnen ist, usque in martyrium zu gehen“ (S. 470).

So sehr Lehmann von solchen allgemeinpolitischen Vorgängen in seinen Erwartungen und Hoff nungen enttäuscht und niedergedrückt wurde, sie betrafen ihn zunächst nicht unmittelbar in seiner persönlichen und berufl ichen Existenz, in seiner archivischen und landesgeschichtlichen Arbeit. Sein Eintritt in den Archivdienst 1949 beruhte auf der un- ausgesprochenen Voraussetzung, daß er in seiner Lübbener Klause unbehelligt seinen fachwissenschaftlichen Aufgaben werde nachgehen können. Und einige Jahre lang schien sich diese Hoff nung zu erfüllen, wie Lehmann sich selbst bescheinigte, wenn er zu Beginn

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XXVII Zur Einführung

eines neuen Jahres halb erstaunt und halb erfreut feststellte, immer noch im Archivdienst zu stehen. Der letztlich doch unausweichliche Konfl ikt zwischen ihm und dem DDR-Staat bahnte sich dadurch an, daß die SED in den 1950er Jahren zunehmend in den Bereich der Wissenschaft eindrang, sie unter ihre feste Kontrolle zu bringen trachtete und dazu ihre ideologischen Vorgaben für die Wissenschaftler zu den allein verbindlichen erklärte. Mit dem sog. SED-Geschichtsbeschluß von 1955 wurden die Historiker dazu verpfl ichtet, ihre Forschungsarbeiten auf der Grundlage und gemäß den Grundsätzen des Historischen Materialismus zu betreiben, und daraus folgten unmittelbar bestimmte Themenschwer- punkte, bestimmte Interpretationsmuster und bestimmte Werturteile, mit denen Lehmann sich nicht einverstanden erklären konnte, weil sie sich nicht mit seinen eigenen, aus seiner intensiven Quellenarbeit gewonnenen Erkenntnissen vertrugen. Der „Alleinvertretungs- anspruch“ der marxistischen Geschichtswissenschaft auf die „richtige“ Erkenntnis und Deutung der Vergangenheit war freilich schon zuvor deutlich genug von einzelnen ihrer Vertreter verkündet worden. Als der Hallenser Historiker Leo Stern auf dem Weimarer Ar- chivkongreß im Mai 1952 die Gegenwartsaufgaben der deutschen Geschichtsforschung allein vom „fortschrittlichen“ = marxistischen Standpunkt aus darstellte und dabei alle be- deutenden deutschen Historiker der Vergangenheit ab Ranke „köpfte“, staunte Lehmann über dessen fehlende Einsicht, „daß es e i n e alleinverbindliche Anschauung in der Ge- schichtswissenschaft gar nicht geben kann“ (S. 156). Er beobachtete an Wissenschaftlern aus seinem näheren Umfeld und an ihren Äußerungen, „wie sehr die Leute gefesselt sind durch das Dogma, das sie nicht freiläßt“ (10.8.1958, S. 400). Und er fühlte sich selbst in seinen wissenschaftlichen Rahmenbedingungen angesprochen, als er in den Erinnerun- gen des großen Philologen Ulrich von Wilamowitz-Möllendorf von den Universitäten vor 1810 las, daß sie „an ein politisches Credo gebunden wurden, schlimmer als einst an ein kirchliches“, und fügte hinzu: „So ist es nun heute bei uns und noch schlimmer, als Wila- mowitz- Möllendorf ahnen konnte“ (10.10.1958, S. 406).

Lehmann hat nie in seinen öff entlichen mündlichen und schriftlichen Darlegungen ver- leugnet, daß er nicht nach der materialistischen Geschichtsmethode arbeiteten und sich nicht zu ihr bekehren werde. Selbst wenn er Themen aufgriff und untersuchte, die der mar- xistischen Geschichtswissenschaft am Herzen lagen wie etwa die Wirtschaftsgeschichte oder die Lage der bäuerlichen Bevölkerung – oder auch der Forschungsstelle die Dar- stellung eines der herrschenden Meinung willkommenen Themas empfahl (27.2.1957, S. 316) –, verstand er sich keinesfalls dazu, in diesen Feldern die marxistischen Leitbe- griff e, Terminologie und Wertungen zu übernehmen. Er wehrte sich in einer öff entlichen Diskussion im Cottbuser Kulturbund zu seinem Vortrag über heimatgeschichtliche Arbeit dagegen, daß, wie von einem Diskutanten gefordert, das gutsherrlich-bäuerliche Verhält- nis „vom Standpunkt der materialistischen Geschichtsschreibung aus behandelt werden“

müsse; er hielt dagegen, daß die Forschung nach der Wahrheit streben müsse und nicht von vorgefaßter Meinung ausgehen dürfe „und daß man bei richtigem Vorgehen sowohl von der bürgerlichen Geschichtsforschung aus wie von der materialistischen zum gleichen Ergebnis gelangen müßte“ (13.11.1953, S. 207). Im Hinblick auf den üblichen Tenor der SED-nahen Geschichtswissenschaft bemerkte er im Vorwort zu seiner Edition über die

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