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The Hague & Paris & New York: Mouton 1981. XV, 360 S.

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Helga Andre sen

Rezension von: Weigl, Egon: Neuropsychology and neurolinguistics.

Selected papers. -

The Hague & Paris & New York: Mouton 1981. XV, 360 S.

(= Janua Linguarum Series Maior. 78).

0. Einen Sammelband mit Schriften Egon Weigls zur Neuropsychologie und Neurolinguistik für eine linguistische Zeitschrift (als Linguistin) zu rezensieren, verstehe ich als die Aufgabe, die Grundgedanken seines wissenschaftlichen Wer- kes zu skizzieren mit dem Blick darauf, wo sie für linguistische Arbeit von beson- derem Interesse sein dürften. Eine Auseinandersetzung mit Weigls theoretischen Positionen unter Berücksichtigung anderer neuropsychologischer und -lingui- stischer Ansätze kann nicht geleistet werden, da ein solches Vorhaben den Rah- men einer Rezension sprengen würde. Jedoch halte ich es für sinnvoll, im An- schluß an die Darstellung inhaltliche Punkte zur Diskussion zu stellen, die mir für eine linguistische Rezeption der Schriften Weigls beachtenswert erscheinen.

1. Der vorliegende Band, der zwei Jahre nach dem Tode Weigls erschienen ist, enthält eine Auswahl von Beiträgen, die zuerst in verschiedenen linguistischen und neuropsychologischen Zeitschriften publiziert worden sind. Die Auswahl besorgte der Autor noch selbst. Er verfolgte damit - nach eigener Aussage - das Ziel, seinen persönlichen Beitrag - und den seiner Koautoren - zur neuropsy- chologischen und neurolinguistischen Forschung leichter zugänglich zu machen und zu dokumentieren. Damit verbindet sich sein Anliegen, zur Etablierung der noch jungen wissenschaftlichen Disziplin „Neuropsychologie" und der Neuro- linguistik als eines Teils davon beizutragen und künftige Entwicklungsperspekti- ven zu entwerfen.

Insbesondere die drei Arbeiten im ersten Abschnitt des Buches haben pro- grammatischen Charakter. Weigl formuliert dort einen systematischen Aufriß des Faches und einen Katalog offener Fragen, die in Zukunft - auf den bisher erarbeiteten Fundamenten neuropsychologischer Forschung aufbauend - in Angriff genommen werden sollten. Der Zusammenarbeit mit der Linguistik mißt er dafür große Bedeutung bei. Das wird nicht zuletzt dadurch unterstri- chen, daß der gemeinsam mit Manfred Bierwisch verfaßte Aufsatz „Neuropsy-

Zeitschrift für Sprachwissenschaft 2,2 (1983), 243-250

© Vandenhoeck & Ruprecht, 83 ISSN 0721-9067

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chology and linguistics: topics of common research" (1970) in diesen ersten Teil des Sammelbandes aufgenommen worden ist.

Abgesehen von der Dissertation aus dem Jahre 1927 („On the psychology of so-called processes of abstraction") stammen die Beiträge aus der Zeitspanne von 1960 bis zum Tode Weigls. Sie sind nicht chronologisch, sondern thematisch angeordnet. Die Orientierung darüber fallt leicht, da es dem Autor in seiner Einleitung gelingt, sowohl seinen wissenschaftlichen Werdegang, als auch seine theoretische Position, sowie schließlich die Kriterien der Auswahl und Anord- nung der Beiträge anschaulich darzustellen. Die Verbindung von biografischen Daten und wissenschaftlicher Entwicklung wird dabei besonders deutlich. Die auffallende „Lücke" der wissenschaftlichen Produktion zwischen der Disserta- tion von 1927 und den anderen, nach 1960 entstandenen Beiträgen geht darauf zurück, daß Weigl während der Zeit des NS-Staates nach Rumänien emigrierte, dort später als Widerstandskämpfer im Gefängnis saß und sich nach dem Kriege zunächst überwiegend mit praktisch-pädagogischen Aufgaben befaßte. Erst En- de der 50-ger Jahrer konnte er seinen früheren neuropsychologischen Interessen wieder nachgehen. 1961 ging Weigl von Rumänien nach Berlin an die Akademie der Wissenschaften der DDR.

Die abgedruckten Arbeiten lassen erkennen, daß Weigl sich zunehmend inten- siv mit linguistischen und sprachtheoretischen Problemen befaßt hat. Er arbeite- te mit der Arbeitsstelle für strukturelle Grammatik zusammen und dort insbe- sondere mit Manfred Bierwisch (der ein Vorwort für den Sammelband verfaßt hat).

Die Kooperation mit Linguisten und die eigene gründliche Einarbeitung in linguistische Methoden und Theorien wirkt sich auf zweifache Weise aus: zum einen so, daß die neuropsychologischen Experimente mit aphasischen Patienten sorgfaltig auf linguistische Parameter hin überprüft und entsprechend kontrol- liert werden; zum anderen in der Weise, daß Weigl die Ergebnisse seiner empiri- schen Studien unter Bezug auf die generative Sprachtheorie interpretiert. In den letzten Jahren seines Lebens hat Weigl sich besonders intensiv mit der Erfor- schung semantischer Felder und der Schriftsprache unter besonderer Berück- sichtigung ihrer Beziehungen zur Lautsprache befaßt (s.u.).

2. Weigl definiert Neuropsychologie als „the science of the relationship between the brain, as the material basis, and the higher psychic functions, the psychic behavior of man and of animals (by way of comparison)" (20). Neuropsycholo- gie bedeutet danach den Versuch, eine Verbindung zwischen medizinischer Hirn- forschung (Anatomie, Histologie, Physiologie, Biochemie des Gehirns) und psy- chologischer Forschung (Wahrnehmung, Gedächtnis, Denken, Handeln, Spre- chen) herzustellen, und zwar auf der Grundlage spezifischer Fragestellungen, empirischer Methoden und theoretischer Modelle und nicht etwa nur als eine

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Addition von Forschungsergebnissen aus den beiden genannten „etablierten"

Disziplinen.

Neuropsychologie befaßt sich nach Weigls Verständnis nicht nur mit Proble- men der Pathologie, sondern generell mit der theoretischen Modellierung von Hirnfunktionen als der materiellen Basis psychischer Prozesse.

Er ordnet seinen eigenen Ansatz ein in die Entwicklungslinie sowjetischer Psychologen und Neuropsychologen, die mit Wygotski beginnt und sich fort- setzt über N.A. Bernstein, P.K. Anochin, A.N. Leontjew bis zu A.R. Luria.

Insbesondere zwischen Lurias und Weigls Arbeiten bestehen zahlreiche Verbin- dungen.

Grundlegend für diesen theoretischen Ansatz ist das Verständnis vom Gehirn als eines funktionellen Systems, welches sich in Teilsysteme gliedert, die einer- seits in Verbindung miteinander die Funktionsfahigkeit des Gesamtsystems ge- währleisten, andererseits jedoch relativ autonom existieren. Die Annahme der Komplexität der interfunktionellen Verbindungen wm/der relativen Autonomie der einzelnen Funktionen ist charakteristisch für die Theorie Weigls (und Lu- rias). Die Komplexität sprachlicher Funktionen besteht darin, daß isolierbare Fähigkeiten wie das auditive Wortverstehen ihrerseits wieder zerlegt werden können in ein Inventar von Komponenten, in diesem Fall von der adäquaten akustischen Rezeption über verschiedene Dekodierungsprozesse (z.B. Ent- schlüsselung der phonematischen und semantischen Struktur) bis zur semanti- schen Interpretation. Die einzelnen Komponenten sind auch an anderen verba- len Teilsystemen beteiligt, so daß ein Netz interfunktioneller Verbindungen an- genommen werden muß.

Andererseits zwingt eine Reihe von Beobachtungen dazu, relative Autonomie für verschiedene sprachliche Ebenen, Funktionen und Komponenten zu postu- lieren. Bei vielen Patienten sind nur einzelne Teilsysteme von den aphasischen Störungen betroffen bei weitgehend ungestörtem Funktionieren der anderen.

Das deutet daraufhin, daß die Teilsysteme nicht als bloße Summe der beteiligten Komponenten verstanden werden dürfen, daß sie sich vielmehr zwar aus diesen Komponenten zusammensetzen, jedoch relativ autonom, als funktionale (Teil)Einheiten arbeiten. Denn andernfalls müßten entweder alle oder gar keine der sprachlichen Funktionen, die gleiche Komponenten aufweisen, gestört sein.

Die relative Autonomie ist nach Weigl ein Produkt der Ontogenese von Spra- che und Denken und bildet sich im Zuge der Automatisierung von Handlungen heraus.

Eine andere, damit zusammenhängende Annahme über zerebrale Funktionen hat Luria in dem von Weigl aufgenommenen Begriff der „dynamischen Lokali- sation" zusammengefaßt, worunter die Fähigkeit des Kortex zu verstehen ist, zur Erfüllung ein- und derselben Aufgabe Systeme unterschiedlicher morpho- funktionaler Strukturen zu aktivieren. Damit wird eine strikte Lokalisationsleh- re, nach der einzelne psychische Funktionen auf bestimmte Hirnregionen proji- ziert werden können, abgelehnt zugunsten der Vorstellung, daß die zerebralen

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Korrelate in funktionalen Systemen zu suchen sind, die zwar Rindenzonen zuge- ordnet werden können, für die jedoch auf einer Mikrostrukturebene keine ein- deutigen Entsprechungen zwischen psychischen Leistungen und materieller Ba- sis angegeben werden können.

3. Die Grundannahmen Weigls über ein Modell funktionaler Hirnstrukturen finden Bestätigung und sind weiter ausgearbeitet worden durch die Entwicklung der sog. Deblockierungsmethode, die sich mit dem Namen Weigls verbindet und sich in der Aphasietherapie weitgehend durchgesetzt hat. Entsprechend der Be- deutung für sein Werk nehmen Darstellung und theoretische Diskussion der experimentellen Ergebnisse, die Weigl und seine Mitarbeiter/innen bei der Ent- wicklung und Anwendung dieser Methode erhielten, in dem vorliegenden Band breiten Raum ein.

Den Ausgangspunkt bildete zunächst die therapeutische Beobachtung, daß es eine Art Übertragungseffekt gibt, indem sich die Aktivierung intakter psychi- scher Funktionen positiv auswirkt auf die Aktivierung gestörter Leistungen.

Patienten sind danach in der Lage, einen verbalen Stimulus über einen „eigent- lich" bei ihnen blockierten Kanal zu perzipieren bzw. produzieren, wenn dieser Stimulus unmittelbar vorher über einen intakten Kanal ein- bzw. ausgegeben worden ist.

Der Sammelband dokumentiert, wie Weigl und seine Mitarbeiter/innen die Deblockierungsmethode im Laufe der Jahre systematisierten. Dabei lassen sich drei Aspekte unterscheiden: Erstens wurden die verschiedenen psychischen Teil- funktionen detailliert analysiert durch Zerlegung in Komponenten. Zweitens wurde das Stimulusmaterial nach linguistischen (vor allem semantischen) Krite- rien ausgewählt und aufgebaut. Drittens wurde die methodische Durchführung der Deblockierung verbessert, insbesondere durch die Einführung der sog. Ket- tendeblockierung, die mehrere intakte und gestörte Funktionen hintereinander schaltet, was den therapeutischen Effekt deutlich erhöht.

Die Deblockierungsmethode veranschaulicht die Interdependenz zwischen dem Zusammenwirken der verschiedenen Teilsysteme zu einem Ganzen und der relativen Autonomie der Teile besonders gut. Die Reaktivierung gestörter Funk- tionen „mithilfe" der intakten setzt einen funktionalen Zusammenhang zwi- schen den verschiedenen Bereichen verbaler Fähigkeiten voraus. Andererseits ist die Möglichkeit isolierter Störungen ein Indiz für deren relative Autonomie.

Die Deblockierungsmethode baut also genau auf der Interdependenz der beiden Prinzipien auf. Ebenfalls wird bei ihr das Prinzip der „dynamischen Lokalisa- tion" wirksam, indem die gestörten Funktionen von anderen, nicht lädierten Gehirnzellen „übernommen" werden.

Es ist ein Verdienst Weigls, im Zuge der Ausarbeitung der Deblockierungsme-

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thode eine detaillierte Analyse der Komponenten der verschiedenen lautsprach- lichen und schriftsprachlichen Funktionen geleistet zu haben.1

Die Komponentenanalyse führte zu der Entdeckung, daß aphasische Störun- gen nicht allein auf Blockierung der De- und Enkodierungsprozesse zurückge- hen, daß es vielmehr Fälle gibt, bei denen die sog. Transkodierungen (das sind die Umschaltprozesse zwischen einzelnen Komponenten) betroffen sind. Diese Schlußfolgerung ergibt sich zwingend daraus, daß man für einige Patienten nachweisen konnte, daß sowohl die Input- als auch die Outputkomponenten einer gestörten Funktion intakt sein mußten, da sie am Zustandekommen ande- rer erhalten gebliebener sprachlicher Funktionen ebenfalls beteiligt sind. Die Blockierung muß demnach in den Umschaltprozessen zwischen den beiden in- takten Komponenten liegen. Diese Erkenntnis dürfte für das Verständnis sprachlicher Produktion und Perzeption von Bedeutung sein. Ihrer Herausar- beitung sind mehrere Beiträge in dem Sammelband gewidmet.

4. Psycholinguistisch interpretiert Weigl den Erfolg der Deblockierungsmethode so, daß aphasische Störungen überwiegend nicht auf eine Auslöschung sprachli- chen Wissens zurückgehen, daß vielmehr einzelne Kanäle zur Aktivierung dieses Wissens „blockiert" sind. Die Therapie hat daher die Aufgabe, den Zugang zu den erhaltenen Wissensstrukturen wieder zu „bahnen", und nicht, verloren ge- gangenes sprachliches Wissen neu aufzubauen. Zwar hält Weigl es nicht für grundsätzlich unmöglich, daß sprachliches Wissen zerstört wird; denn die An- nahme, daß psychische Funktionen eine materielle Basis im Gehirn haben, im- pliziert, daß mit der Vernichtung dieser Basis auch die psychischen Strukturen ausgelöscht werden. Nur erfordere das weitaus tiefer gehende Zerstörungen der Hirnstrukturen, als es bei den meisten aphasischen Patienten der Fall sei.

Weigl interpretiert seine experimentellen Ergebnisse als Bestätigung der Kom- petenz-Performanz-Unterscheidung der generativen Grammatik, indem aphasi- sche Störungen in der Blockierung von Performanzkomponenten lägen bei er- haltener Kompetenz. 'Deblockierung' bedeutet dann die Wiederherstellung der Performanz, die den Zugang zum (unbewußten) Sprachwissen ermöglicht.

Zur Frage der (neuro)psychologischen Realität linguistischer Strukturen be- zieht Weigl wiederholt explizit Stellung, und zwar insbesondere in bezug auf die Organisationsprinzipien des semantischen Gedächtnisses und auf die Bedeu- tung der sog. Graphem-Phonem-Korrespondenzregeln (G-P-K-Regeln) für die Beherrschung der Schriftsprache. Unter einem semantischen Feld versteht Weigl „a system of ontogenetically developed connexions between meanings, i. e. Object-meanings' as well as 'word-meanings'" (280). Da sich die psychologi- sche Wirksamkeit semantischer Felder darin erweist, daß sie relevant sind für die

l Der Begriff 'Funktion' ist hier stets im Sinne von 'psychischer' Funktion" ge- braucht.

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Deblockierungsprozesse, beantwortet Weigl die Frage nach ihrer psychologi- schen Realität positiv. Das gleiche gilt für die - von Bierwisch (1972) für das Deutsche formulierten - G-P-K-Regeln. Er postuliert diese als Teil einer erwei- terten Kompetenz, die die Fähigkeit zum Gebrauch der Schriftsprache aus- macht und sich zusammensetzt aus der Kompetenz, die lautsprachlicher Perfor- manz zugrundeliegt, und den „Zusatzregeln", die für geschriebene Sprache not- wendig sind. Die semantischen Felder bilden einen Teil der „Basis"-Kompetenz.

5. Ob die theoretische Erklärung der experimentellen Befunde unter Bezug auf ein Kompetenzmodell angemessen ist oder nicht, bedarf der eingehenden Dis- kussion, die bei einer Rezeption der Schriften Weigls durch Linguist/inn/en si- cherlich geführt werden wird.2 Beachtet werden sollte dabei, daß selbst dann, wenn sich die These von dem erhalten gebliebenen Strukturwissen (als sprachli- cher Kompetenz) neuropsychologisch als haltbar erweist, damit nicht gleich auch die Annahme gesichert ist, daß genau das Kompetenzmodell der generati- ven Grammatik psychologische Rechtfertigung erfahrt. Welche linguistischen Beschreibungsmodelle die in neuropsychologischen Experimenten nachzuwei- senden Organisationsprinzipien sprachlichen Wissens angemessen rekonstruie- ren, bedarf erst noch der Klärung. Hier haben Linguisten noch viel Arbeit zu leisten. Methodologische Untersuchungen über das Verhältnis sprachlicher Pro- zesse zu sprachlichen Strukturen und ihren jeweiligen Anteil an dem konkreten Sprachverhalten in den Experimenten und Therapiesitzungen werden zur Lö- sung der anstehenden Probleme unerläßlich sein.

Zur Illustration: In mehreren Experimenten hat Weigl nachgewiesen, daß Pa- tienten nach Diktat schreiben können, obwohl sie die Wörter, die sie verschriftli- chen, nicht verstehen. Daraus schließt er auf die psychologische Realität der G- P-K-Regeln, also darauf, daß die Fähigkeit zur Zuordnung zwischen Laut- und Schriftstrukturen zur erweiterten Kompetenz gehört. Diese Schlußfolgerung ist sicherlich korrekt. Nur folgt daraus selbstverständlich nicht, daß die G-P-K- Regeln, die Bierwisch für das Deutsche angegeben hat, (neuro)psychologisch bestätigt werden. Um psychologische Realität von Regeln postulieren zu kön- nen, bedarf es eingehender spezieller Analysen, insbesondere der „Fehlleistun- gen" beim Lesen und Schreiben. Weigl und Bierwisch haben eine derartige inter- disziplinäre Fehleranalyse in ihrem bereits genannten Beitrag begonnen.

Als weiterer Gesichtspunkt ist bei dem Stichwort „psychologische Realität"

von G-P-K-Regeln zu beachten, daß aus der Bedeutung der Korrelationen zwi- schen Laut- und Schriftstrukturen für die Beherrschung der Schrift nicht abge- leitet werden kann, daß Schreiben und Lesen etwa als Transliterierungsprozesse ablaufen. Gegen eine solche Interpretation hat Weigl selbst überzeugende Argu-

2 Für eine kritische Auseinandersetzung mit Weigls und Bierwischs Interpretation aphasischer Störungen im Rahmen der generativen Sprachtheorie vgl. z.B. Heeschen.

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mente geliefert durch seine Unterscheidung zwischen den Stadien des Erwerbs und der Automatisierung des Lesens und Schreibens.

Besondere Aufmerksamkeit wird - zumindest in Teilen der Linguistik - wahr- scheinlich ein Gedanke Bierwischs finden, den er im Vorwort äußert. Er stellt dort die Überlegung an, daß möglicherweise Beziehungen hergestellt werden könnten zwischen Weigls Modell funktionaler Hirnsysteme und der von Chomsky postulierten modularen Struktur des menschlichen Geistes.

Daß diese Verbindungslinie näherer Prüfung standhält, bezweifle ich. Denn die einschlägigen Passagen in „Regeln und Repräsentationen" (Chomsky 1980/1981: 94ff., 245 ff.) zeigen m. E., daß Chomsky keineswegs die (relative) Autonomie der Teilsysteme und die Interrelation dieser zu einem übergeordne- ten System als gleichrangige, einander wechselseitig ergänzende Prinzipien ver- steht. Vielmehr dient ihm das Modell der modularen Struktur im Grunde nur dazu, die Autonomie des Teilsystems 'Syntax' zu retten, das - selbstverständlich - mit anderen mentalen Systemen zusammenarbeiten muß. Aber er scheint ein additives Verfahren zu meinen, bei dem jedes einzelne System unabhängig von den anderen funktioniert.

Weigl legt dagegen sowohl theoretisch als auch in seiner empirischen Arbeit den Zusammenhang von relativer Autonomie (die im übrigen keineswegs ange- boren, sondern im Laufe der Automatisierung von Tätigkeiten „erworben" ist) und funktionaler Einheit stets zugrunde.

Er behandelt die Frage, ob und in welchem Ausmaß Hirnstrukturen angebo- ren sind, nicht eigens, geht aber mit Wygotski und Luria davon aus, daß „speci- fic remote and highly differentiated cortical zones begin to interact and form unified cerebral systems during the course of ontogenesis, a process based on the child's communication with his environment and his handling objects" (336).

Wie genetische Determination und Strukturierung durch die aktive Erfahrungs- aneignung sich zueinander verhalten, thematisiert er nicht.

Chomsky betont dahingegen, daß die modulare Struktur des Geistes und die* Autonomie der einzelnen Systeme angeboren sei. Die Tatsache, daß Weigl und Chomsky in der Frage der Entstehung der höheren kortikalen Funktionen so grundlegend verschiedene Positionen vertreten, liefert ein weiteres Argument gegen die Annahme, daß Weigls Theorie ein neuropsychologisches Korrelat zu Chomskys Sprachtheorie darstellen könnte. Denn beide gehen offensichtlich von verschiedenen Grundannahmen aus.

Diese Überlegungen richten sich nicht generell gegen die Vereinbarkeit von Weigls Theorie funktioneller Hirnsysteme mit Modellen menschlicher Intelli- genz als modularer Systeme, sondern nur gegen die von Chomsky vertretene Variante.

Eine Rezeption des Werks Egon Weigls verspricht fruchtbare Forschungsim- pulse für die Linguisltik, nicht zuletzt deswegen, weil der Autor selbst Brücken zur Linguistik gebaut hat. Mit dem Sammelband liegen jetzt günstige Vorausset- zungen für die Einarbeitung in Weigls Werk vor.

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Literaturnachweis

[Bierwisch 1972] Bierwisch, Manfred: Schriftstruktur undPhonologie. - In: Probleme und Ergebnisse der Psychologie 43 (1972), 21-44.

[Chomsky 1980/1981] Chomsky, Noam: Regeln und Repräsentationen. Übersetz: von Heien Leuninger. - (Frankfurt am Main): Suhrkamp (1981). (= suhrkamp taschecbuch Wissenschaft. 351).

[Heeschen 1973] Heeschen, Claus: Aphasieforschung und theoretische Linguistik. - In:

Linguistische Berichte 25 (1973), 22-38.

Eingereicht am 2.2.1983

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