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Archiv "Gedenkort T4: Gutes Ende einer (fast) endlosen Geschichte" (19.09.2014)

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A 1550 Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 111

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Heft 38

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19. September 2014

N

ach jahrelangem Hin und Her ist in Berlin ein Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen „Eutha- nasie“-Morde der Öffentlichkeit übergeben worden – am Ort der Planungszentrale in der Tiergarten- straße 4. Die Einweihung am 2.

September stand zunächst im Zei- chen der Politik. Prof. Monika Grütters, die Kulturstaatsministerin des Bundes, und Klaus Wowereit, der (noch) Regierende Bürgermeis- ter von Berlin, bedauerten nahezu übereinstimmend, dass es allzu lan- ge gedauert habe, bis es zu dem Gedenkort kam, lobten das bürger- schaftliche Engagement Einzelner, verurteilten die Unterscheidung zwischen lebenswertem und le- bensunwertem Leben und beton- ten, dass jedes Leben lebenswert sei. Prof. Dr. phil Peter Funke, Vi- zepräsident der Deutschen For- schungsgemeinschaft (DFG), erin- nerte an den Anteil der Wissen- schaft an der NS-„Euthanasie“.

Wowereit wies auf die unheilvolle Tradition des Sozialdarwinismus hin und versicherte: „Unsere Ge- sellschaft hat mit dieser Tradition radikal gebrochen.“

Die Tiergartenstraße 4 ist heute großenteils überbaut von der Phil- harmonie. Vor Hans Scharouns ar- chitektonischem Meisterwerk ent- stand nun unter freiem Himmel ein so schlichter wie auffälliger Ge- denkort: eine lange blaue Glas- wand, in der sich der Betrachter

spiegelt und durch die er zugleich hindurchblickt; davor, zur einen Seite, ein Informationspult, 33 Me- ter lang, in das Texte, faksimilierte Dokumente und audiovisuelle Sta- tionen eingelassen sind; zur an - deren Seite der blauen Wand eine lang gestreckte Sitzbank, die zum Ausruhen und Nachdenken einlädt.

Anlass dazu gibt es genug. Bei der „Aktion T4“ wurden 1940 und 1941 mehr als 70 000 Patienten in Gaskammern umgebracht, zentral geplant und bürokratisch organi- siert. Hinzuzurechnen sind die in sogenannten Kinderfachabteilun- gen ermordeten Kinder sowie, nach Abbruch der zentral geplanten „Eu-

thanasie“, jene Patienten, die de- zentral in Heil- und Pflegeanstal- ten durch Verhungern und Medika- mente ermordet wurden. Insgesamt wird heute mit etwa 300 000 „Eu- thanasie“-Opfern gerechnet. Bedrü- ckend und beschämend: Von der Planung bis zur Tötung waren Ärz- te führend und ausführend beteiligt.

Biografien der Opfer

Das Schicksal der Opfer wurde den etwa 600 Teilnehmern an der Ein- weihung durch zwei Biografien, vorgelesen von Angehörigen, nahe- gebracht. Auch die Texte auf dem Informationspult stellen auf solche Biografien ab, um den Leidensweg

Der Gedenk- und Informationsort an der Tiergar- tenstraße 4 wurde vom Land Berlin nach einem Entwurf von Ursula Wilms, Nikolaus Kolusius und Heinz W. Hallmann realisiert. Der Bund gab dafür 600 000 Euro, das Land Berlin stellte das Grund- stück, ließ das Umfeld für 310 000 Euro neu ge- stalten und sorgte für die Abwicklung.

Die historischen Inhalte entstanden in einem

„Erkenntnistransfer-Projekt“, das eine Arbeits- gruppe um die Medizinhistoriker und Psychiater Dr. med. Gerrit Hohendorf (TU München) und Dr.

med. Maike Rotzoll (Uni Heidelberg) entwickelte

und die DFG mit 300 000 Euro finanzierte. Die Texte liegen auch in „einfacher Sprache“ vor.

Die laufende Verwaltung des Gedenkortes übernimmt die „Stiftung Denkmal für die ermor- deten Juden Europas“; sie arbeitet mit der „Stif- tung Topografie des Terrors“ zusammen.

Unabhängig von dem Berliner „Euthanasie“-Ge- denkort entstand die von der Deutschen Gesell- schaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psycho- somatik und Nervenheilkunde initiierte Wanderaus- stellung zum Themenkreis Sterilisation und Eutha- nasie, gleichfalls auch in „einfacher Sprache“.

ARCHITEKTEN, GELDGEBER, VERWALTER

GEDENKORT T4

Gutes Ende einer (fast)

endlosen Geschichte

An der Berliner Tiergartenstraße 4 wird an die Opfer der NS-„Euthanasie“ erinnert.

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Deutsches Ärzteblatt

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Heft 38

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19. September 2014 A 1551 der Patienten aus den Anstalten bis

in die Tötungsanstalten auch emo- tional nachfühlbar zu machen. Da- zu tritt die Information über die ideologisch-wissenschaftlichen Hin - tergründe der „Euthanasie“ (und auch der Zwangssterilisation) so- wie die Organisation der Mordak- tionen und die Verantwortlichen.

Diese saßen nicht nur in der Tier- gartenstraße 4, in der arisierten Vil- la Liebermann, sondern auch in der

„Kanzlei des Führers“, im Reichs- innenministerium, im Netz der Heil- und Pflegeanstalten und in den sechs Tötungsanstalten.

Der wissenschaftlichen Arbeits- gruppe, die die Texte des Gedenk- und Informationsortes entwickelte (siehe Kasten „Architekten, Geld- geber, Verwalter“), ist es gelungen, trotz des relativ beschränkten Rau- mes anschaulich – auch durch ge- schickte Visualisierung – und nach dem Stand der Wissenschaft zu informieren. Die Wissenschaftler konnten sich auf die Auswertung tausender von Krankenakten stützen, die Anfang der 1990er Jahre im ehe- maligen Stasi-Zentralarchiv aufge- taucht waren. Die Auswertung der Krankengeschichten wie der „Er- kenntnistransfer“ zum T4-Geden- kort wurde von der DFG gefördert.

Sie hat dafür einen speziellen Grund.

DFG-Vizepräsident Funke, Althis- toriker aus Münster, sprach ihn bei der Einweihung des T4- Ortes offen an. Die Forschungs gemeinschaft sei nicht etwa von den Nazis gleichge- schaltet worden, sondern habe sich vielmehr wie weite Teile der deut- schen Wissenschaft selbst für die Ziele des NS-Staates mobilisiert und dabei auch Forschungen geför- dert, die „jeder Ethik und allen Re- geln der Menschlichkeit zuwider- liefen“. Angesichts dieser Vergan- genheit sehe es die DFG „als eine ihrer Aufgaben an, Forschungen zur Zeit des Nationalsozialismus nicht nur zu unterstützen, sondern auch für eine breite Vermittlung der For- schungsresultate Sorge zu tragen“.

Der T4-Gedenkort vermittelt nicht nur Geschichte. Er hat selbst bereits eine eigene, ziemlich ver- wirrende Geschichte (Näheres da- zu unter www.sigrid-falkenstein.de und www.gedenkort-t4.eu). Lange

wurde über „Euthanasie“ und Zwangssterilisationen und deren Opfer geschwiegen: keine schlag- kräftige Lobby, Opfer und Angehö- rige, die sich schämten, ein peinli- ches Thema für Ärzte und Wissen- schaftler. Auf private Initiative, ge- nannt sei hier stellvertretend der Historiker und Journalist Dr. Götz Aly, fuhr 1987 hinter der Philhar- monie ein Berliner Doppeldecker- bus mit einer Ausstellung auf. Auch die Berliner Ärztekammer unter- stützte dieses „mobile Museum“.

Zwei Jahre später ließen die Initia- toren eine Gedenktafel in den Bo- den ein. Sie liegt immer noch, ein bisschen unscheinbar, verglichen mit dem nun vollendeten Gedenk- und Informationsort. Für diesen setzte sich seit 2007 der „Runde Tisch“ einer Vielzahl von Initiativ- gruppen ein, angesiedelt bei der Stiftung „Topografie des Terrors“.

Durch „hartnäckiges Engagement“

(Wowereit) gelang es schließlich, die Politik für das Gedenken zu ak- tivieren. 2011 beschloss nämlich der Deutsche Bundestag, einen zen- tralen Ort des Gedenkens zu schaf- fen und mit zu finanzieren. Der T4-Gedenkort stünde allerdings im- mer noch nicht, hätte nicht die Ber-

liner Senatsverwaltung für Kul - turelle Angelegenheiten den Bau vorangetrieben. Es ehrt Wowereit, dass er bei der Einweihung dessen früheren Leiter, André Schmitz, öf- fentlich dankte. Schmitz hatte An- fang dieses Jahres wegen einer Steueraffäre gehen müssen.

Mit aktuellen Bezügen

Wowereit wie auch Grütters nutzten den öffentlichen Auftritt zu aktuellen Anmerkungen. Berlins Regierender Bürgermeister, der Ende des Jahres zurücktreten will, warb für die In- klusion Behinderter. Etwa zehn Pro- zent der Deutschen lebten mit einer körperlichen oder geistigen Ein- schränkung. „Sie haben Anspruch auf Förderung und auf ein gleichbe- rechtigtes Leben inmitten der Ge- sellschaft“, so Wowereit.

Grütters äußerte sich in einer

„ganz persönlichen Bemerkung“

zur Sterbehilfe. Das Gedenken an die Opfer der „Euthanasie“-Morde

„sollte uns Heutigen auch eine War- nung davor sein, in aktuellen Dis- kussionen über das Leid Schwer- kranker das Tötungsverbot leicht- fertig zur Disposition zu stellen“, erklärte sie unter dem Beifall der Zuhörer. Im schriftlichen Redetext heißt es weiter: „So verständlich das Motiv, einen kranken Menschen von seinen Qualen erlösen zu wol- len, im Einzelfall auch sein mag, so unerträglich sind die Folgen für die Humanität einer Gesellschaft.

Wo es die Möglichkeit der aktiven Sterbehilfe gibt, entsteht auch die Erwartung, sie in Anspruch zu neh- men, um anderen nicht durch die eigene Hilfsbedürftigkeit zur Last zu fallen.“ Das bleibe nicht ohne Wirkung auf das Wertegefüge und den Charakter einer Gesellschaft, vermerkte Grütters.

Norbert Jachertz Am Tag der Einweihung des T4-Gedenk- und Infor-

mationsortes berichtete die „Berliner Zeitung“, dass einer der Organisatoren der NS-Euthanasie, Dr. med. Herbert Linden, auf dem Zehlendorfer Waldfriedhof in einer Grabanlage für die Opfer von

Krieg und Gewaltherrschaft beerdigt ist, zusammen mit 448 weiteren Kriegsopfern. Linden war im Reichsinnenministerium für die Heil- und Pflegean- stalten zuständig und führend an der Planung und Durchführung der „Euthanasie“-Morde beteiligt.

OPFERGRAB FÜR „EUTHANASIE“-TÄTER

Der Leidensweg der „Euthanasie“- Opfer lässt sich auf dem Informations- pult nachverfolgen.

Fotos: dpa

P O L I T I K

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