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Archiv "Notaufnahme: Gleicher als die anderen" (22.07.2013)

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A 1428 Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 110

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Heft 29–30

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22. Juli 2013

KOMMENTAR

Harald Proske, Facharzt für Innere Medizin/Nephrologie

M

enschen, in jeder Haltung, sit- zend, stehend, liegend, mit gebeugtem Körper, schmerzgeplagt.

Kein Platz mehr für all die Hilfesuchen- den. Trotz der frühen Morgenstunden gibt es keine Sitzgelegenheit mehr, kein Bett, keine Pritsche. Die Men- schen verschaffen sich selbst Entlas- tung, so gut es eben geht, beginnen, sich hinzulegen, einem Reflex folgend, denn das Leiden raubt ihnen die Kraft.

Nahezu jedes Alter vereint sich hier, es sind Junge wie Hochbetagte, oft ohne Möglichkeit des Kommunizierens.

Ein Stöhnen und Ächzen, ein Klagen und Räuspern füllt den Raum – all die-

se Laute lassen bereits vor der An- schauung ein Bild im Kopf entstehen, eine Ahnung, von dem, was ich gleich tatsächlich sehen werde, wie jeden Morgen, wie jeden Tag. In der Luft ver- schmelzen unterschiedlichste Gerüche und Geschmäcker, ein Sammelsurium aus Schweiß und Eiter, aus Speichel und Blut, abgesondert aus fiebernden und von Schmerz und Kolik gequälten Leibern, Schmerz und Angst darin, spürbar, erlebt. Ein hektisches Treiben auf der einen Seite und erzwungene Geduld auf der anderen.

Bilder und Erinnerungen tauchen vor dem geistigen Auge auf. Eine Mix- tur aus apokalyptischen Darstellungen à la Hieronymus Bosch und wahn- sinnsgetränkten Weltkriegsszenarien von George Grosz. Erinnerungen an Leiden, wie jeden Tag, ein Teil dieses Lebens, niemals wegzudenken, aber – Gott sei Dank – auch besiegbar oder zumindest beherrschbar, weshalb diese Menschen hier Hilfe suchen. Es sind Bilder des täglichen Erlebens.

Nein, dies ist keine Szene aus ei- nem Dritte-Welt-Land, aus einem Kriegs- oder Krisengebiet. Nein, ein ganz normaler Tag in der Notaufnahme.

Routine, Erfahrung und Ideenreichtum,

verbunden mit einer gehörigen Prise Intuition, werfen wir diesem temporei- chen Szenario entgegen. Empathie?

Ja, wo immer es geht. Platz? Nein. En- ge! Eine Mangelsituation.

Und dann dies! Dann kam sie.

Nein, es kam zunächst nicht sie, son- dern erst einmal die Sekretärin, zur Linken flankiert vom Chauffeur des Dienstwagens. Kein direkter Kontakt, vielmehr Delegation in der Hoffnung, das Problem ohne Kontakt zu anderen Patienten lösen zu können. Die Nähe zu all diesem Leiden war unange- nehm, der Drang zur Separation sehr groß. Nicht diesem Volk zu nahe kom-

men. Die Frage nach den Personalien wird negativ beantwortet mit dem Hin- weis auf irgendeine besondere berufli- che Stellung, worunter sich zunächst einmal niemand etwas vorstellen kann. Daher beharrliches Nachfragen ohne Erfolg oder Resonanz. Ein In- stinkt und gesundes demokratisches Selbstverständnis sagen uns, dass die Regeln für alle gleichermaßen gelten sollten, ja müssten. Weit gefehlt! Of- fensichtlich gehen hier die Meinungen auseinander.

Da sich die Situation über Minuten hinzieht, was als unerhörte Wartezeit und Verzögerung empfunden wird, dann doch der persönliche Auftritt. Auf befremdliche Art und Weise wird er- kennbar, dass hier ein anerzogenes Kundenbewusstsein aus einem falsch verstandenen Patientenverständnis heraus vorgetragen wird. Aber da ist noch mehr. Es gesellt sich ein Selbst- verständnis hinzu, welches auf Privile- gien und Bevorzugung pocht, sich be- wusst vom Rest separieren will und für sich eine bessere, schnellere Behand- lung verlangt, weil der eigene Wert qua Stellung und Rang als weitaus größer im Vergleich zu dem der anderen Hilfe- suchenden empfunden wird.

Der Finger schmerze, und in der Tat sah er deformiert aus und musste si- cherlich fachärztlich begutachtet und versorgt werden – wenn die Reihe an ihr war! Zuvor waren all die anderen Schwer- und Schwerstkranken zu be- handeln. Doch dies war nun auf keinen Fall für sie akzeptabel, sie forderte eben diese bevorzugte Behandlung, vorbei an all den anderen, jetzt sofort, sie habe anderes zu tun, als hier her - umzusitzen. Doch keine Chance. Zu- mindest was uns, die Verantwortlichen in diesem Bereich angeht. Dann aber wurde „Freund Soundso“ kontaktiert, und der machte es möglich.

Die anderen konnten weiter leiden und warten. Gleichheit ist offensicht- lich nur ein Wort, benutzbar und dehnbar, wie es gerade gefällt. Nun wird der ein oder andere schmunzeln und uns allen ein gehöriges Maß an Naivität unterstellen. Nach dem Motto:

Das kennen wir doch alle, und Un- gleichheit gibt es immer und auch in unserem Lande.

Ja, wissen wir. Und kämpfen je- den Tag dagegen. Je mehr man et- was als üblich ansieht, desto mehr wird es auch zur Routine und damit zum allgemeinen Erfahrungsgut werden, was wiederum weiter über - liefert wird. Und langsam, aber sicher dringt es in unser Denken und Han- deln ein – reflektorisch. So entsteht Ungerechtigkeit.

Und dann wurde plötzlich klar, dass hier jemand aufgetreten war, der über das politische Fundament unseres Lan- des wacht, Verfassung und Grundge- setz schützt, einer derjenigen, die als höchste judikative Instanz unser demo- kratisches Grundgefüge, unsere politi- sche Identität sichern, und der diese Regeln gleichzeitig außer Kraft gesetzt hat. Und dann wurde mir angst und bange um dieses Land.

NOTAUFNAHME

Gleicher als die anderen

T H E M E N D E R Z E I T

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