Deutsches Ärzteblatt
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18. Mai 2012 A 1027F
ast jede Körperzelle trägt in ihrem Zellkern die vollständi- ge Kopie der gesamten Erbinforma- tion eines Individuums. Damit sich aus der uniformen Vorlage der DNA-Sequenz ein komplexer Orga- nismus aus etwa 250 verschiedenen Zelltypen entwickelt, werden aber nur bestimmte Gene zu bestimmten Zeiten abgelesen. Gene, die nicht für die Differenzierung, zum Bei- spiel zu einer Muskelzelle oder Leberzelle, benötigt werden, blei- ben abgeschaltet. Die Abfolge der DNA-Basen ist somit nicht allein verantwortlich für die Entwicklung des Menschen, vielmehr werden die Gene selbst durch molekulare, so- genannte epigenetische Mechanis- men gesteuert.„Die primäre Information, die ei- nen Menschen ausmacht, ist zwar die Gensequenz, sonst wären ein - DAS EPIGENOM
Der Dompteur der Gene
Die epigenetische Forschung erlaubt Rückschlüsse darauf, wie Adipositas, Diabetes mellitus oder auch Krebs entstehen. Darin liegen Ansätze für neue Therapien.
eiige Zwillinge nicht genetisch ident und sich äußerlich so ähnlich.
Doch epigenetische Veränderungen sorgen dafür, dass beispielsweise nur ein Zwilling anfälliger für Dia- betes wird“, sagt Prof. Dr. Thomas Jenuwein vom Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik in Freiburg.
Epigenetische Veränderungen können durch chemische oder phy- sikalische Umweltfaktoren, einge- leitet werden. Aber auch biologi- sche, psychische und soziale Fakto- ren sind in der Lage, das Epigenom zu modulieren – zum Beispiel als Reaktion auf erlebte Emotionen oder eine Veränderung der Ernäh- rung. Durch welche Mechanismen die Aktivität der Gene auf zellulärer Ebene gesteuert wird, ist Gegen- stand der Forschung. Der bekann- teste ist die Methylierung bestimm-
ter Nukleotide der DNS: Wenn Me- thylgruppen an Cytosinbasen ando- cken, denen direkt darauf die Base Guanin folgt, kann die nachfol - gende Gensequenz nicht abgelesen werden. Methylierte Cytosine agie- ren somit als „Ausschalter“. Ein weiterer epigenetischer Mechanis- mus ist die Histon-Acetylierung.
Dadurch wird der zwei Meter lan- ge, dicht in den Zellkern gepackte und um Histone gespulte DNS- Strang an bestimmten Stellen „ge- lockert“, was das Binden von Tran- skriptionsfaktoren erlaubt; die Ge- ne werden dort „ablesbar“.
Eine weitere Steuerung der Gene erfolgt über kleine Mikro-Ribonu- kleinsäuren, kurz microRNAs. Sie blockieren die Boten-RNA, die die Information von der DNA zur Ei- weiß-Produktionsstätte transportie- ren sollte, und verhindern so, dass
Epigenetische Modifikationen wie DNA-Methylierung und Histon-Modifika- tionen, gelten als eine
zentrale Schnittstelle zwischen Umwelt, ge- netischer Prädisposi- tion und Phänotyp.
Sie können durch das soziale Umfeld, die Ernährung und ver-
schiedene andere Faktoren beeinflusst und teilweise reversi- bel verändert werden.
Abbildung: Thomas Hentrich/Medical Genetics/Universität Tübingen
M E D I Z I N R E P O R T
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18. Mai 2012 das betreffende Protein gebildetwird. Aktuell sind etwa 1 000 unter- schiedliche microRNAs bekannt, die in verschiedenen Organen hoch- spezifisch die Genexpression regu- lieren.
Epigenetische Prozesse sind al- lerdings nicht immer von Vorteil für den Menschen: Viele Krebsarten entstehen beispielsweise dadurch, dass die Gene für Reparaturenzyme oder Schutzmechanismen ausge- schaltet werden. „Das Zusammen- spiel zwischen Umwelt, Genetik und Epigenetik ist bisher nur rudi- mentär verstanden, aber faszinie- rend, denn es betrifft die Arbeit je- des Arztes“, sagte der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM), Prof. Dr. med.
Joachim Mössner aus Leipzig, beim Jahreskongress in Wiesbaden.
Und das Forschungsgebiet bietet therapeutische Chancen: Da alle epigenetischen Mutationen reversi- bel sind, eignen sie sich als poten- zielle Zielstrukturen für entsprechen - de Medikamente an (Kasten). „Die ersten Substanzen werden derzeit vor allem bei Krebspatienten ange- wendet“, ergänzte Prof. Dr. med.
Ulrich R. Fölsch, Generalsekretär der DGIM. In Zukunft seien epi - genetische Wirkstoffe auch zur Therapie von Diabetes mellitus, Alzheimer sowie Herz-Kreislauf- Erkrankungen zu erwarten.
Epigenetische Analysen werden bei Krebs zur Routine
In nahezu jedem menschlichen Tu- mor lassen sich charakteristisch re- gionale Vermehrungen der DNA- Methylierung nachweisen. „Da Me- thylcytosin sehr sensitiv und kosten- günstig nachgewiesen werden kann, eignen sich tumorassoziierte Me - thylierungsveränderungen hervorra- gend als diagnostische Marker“, sagte Priv.-Doz. Dr. med. Heinz Lin- hart vom Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen, Heidelberg.Der Forscher hat mit seinem Team in der Erbsubstanz circa 1 500 Positionen identifiziert, in de- nen tumorassoziierte Methylie- rungsveränderungen gehäuft auf- treten. So könne zum Beispiel Darmkrebsgewebe mit einer Sensi- tivität und Spezifität von mehr als
95 Prozent nachgewiesen werden, sagte Linhart. Seinen Angaben nach werden DNA-Methylierungsanaly- sen schon in naher Zukunft zur Einschätzung des Krebsrisikos und zur Tumorfrüherkennung einge- setzt. Entscheidende Erkenntnisse hierfür erhoffen sich die Forscher von den Daten des „International Humane Epigenome Consortium“, das weltweit alle krankheitsrele- vanten epigenetischen DNA-Verän- derungen erfasst. Hierfür wird Ge- webe von gesunden und an Krebs erkrankten Menschen verglichen.
Die Epigenetik eröffnet zudem neue Erklärungen für die Genregu-
lation des Stoffwechsels und ihren Störungen. In den letzten Jahren wurde deutlich, dass die embryo- nale und frühe postnatale Phase besonders empfindlich für epigene- tische Veränderungen sind, wie epi- demiologische Untersuchungen of- fenbaren. Trotz Zeiten der Mangel- ernährung wiesen Personen, die im Zweiten Weltkrieg geboren worden waren, im späteren Leben ein deut- lich erhöhtes Risiko für Diabe- tes mellitus Typ 2, Adipositas und kardiovaskuläre Erkrankungen auf, berichtete. Prof. Dr. med. Andreas F. H. Pfeiffer, Endokrinologe an der Charité – Universitätsmedizin Ber- lin, Campus Benjamin Franklin:
Zwillingsstudien zeigten zudem, dass schon wenige Wochen Diät ausreichen, um Veränderungen in der Ausprägung bestimmter Gene zu bewirken. Hierfür erhielten 45 gesunde Zwillingspaare zunächst für sechs Wochen eine isokalori- sche kohlenhydratreiche und fett - arme Kost, in den folgenden sechs Wochen eine kohlenhydratarme und fettreiche Diät. „Dies bedingte schon innerhalb von sechs Tagen eine erheblich Umprogrammierung der zentralen Zeitgebergene. Ver- bunden damit waren Veränderun- gen des Fettstoffwechsels und der Inflammation“, sagte Pfeiffer.
Viele Komponenten werden gleichzeitig verändert
Doch lassen sich epigenetische
„Fehler“ durch Arzneimittel rück- gängig machen? Dies ist nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, denn bei epigeneti- schen Eingriffen werden immer vie- le Gene gleichzeitig erfasst. Entwi- ckelt man eine auf das epigeneti- sche Netzwerk abzielende Therapie, beispielsweise um ein großes Schal- termolekül zu entfernen, „dann wird man auch sehr unspezifische Akti- vierungen oder Stilllegungen von Genen auslösen. Und niemand ver- steht so richtig, was dann die Kon- sequenzen sind. Gleichwohl ist die- ses neue Forschungsgebiet interes- sant“, erklärt der deutsche Spitzen- forscher Thomas Tuschl, Professor an der Rockefeller University in
New York.
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Dr. med. Vera Zylka-Menhorn DNA-Methylierung: Als erstes epigenetisches Arznei-
mittel in Deutschland wurde Azacitidin (Vidaza®) 2009 zur Therapie der akuten myeloischen Leukämie und des mye- lodysplastischen Syndroms zugelassen. Die Substanz wird bei der Neusynthese der DNA anstelle von Cytosinbasen eingebaut und hemmt dann DNA-Methyltransferasen. Da- mit nimmt der Methylierungsgrad der DNA ab. Azacitidin kann die Überlebenszeit von Patienten signifikant verlän- gern, hat allerdings auch weitere zytotoxische Effekte.
Histon-Modifikation: Durch Acetylierung und Deacety- lierung von Histonen kann die Aktivität von Genen reguliert werden. Histon-Acetylierungen werden erzeugt durch His- ton-Acetyltransferasen (HAT) und wieder entfernt durch His- ton-Deacetylasen (HDAC). So kann HDAC-Hemmung Tumor- zellen in den programmierten Zelltod treiben. Aus der Grup- pe der Arzneimittel, die die Modifikation von Histonen beein- flussen, ist die Entwicklung des Histon-Deacetylase-Inhibi- tors Vorinostat am weitesten fortgeschritten. Vorinostat wur- de in den USA bereits zur Therapie von T-Zell-Lymphomen der Haut zugelassen. Weitere HDAC-Inhibitoren werden bei soliden Tumoren (Prostata-, Darm-, Nierenkrebs) sowie für andere chronische Erkrankungen untersucht.
microRNAs: microRNAs haben die Möglichkeit, die Expression von Genen auf Ebene der Boten-RNA zu inhi- bieren. Viele Krebserkrankungen werden mit einer verän- derten Konzentration an microRNA-Molekülen in Verbin- dung gebracht. Eine Deregulation (Unter- oder Oberregu- lation) beobachtet man aber auch bei kardiovaskulären Erkrankungen, Diabetes oder Asthma. Derzeit sucht man nach microRNAs, die das Potenzial als therapeutische Zielstrukturen haben. Die ersten klinischen Studien mit modifizierten microRNAs sowie micro-RNA-Antagonisten (Antagomire) haben begonnen.
Wissenschaftlern aus dem Deutschen Krebsforschungs - zentrum ist es gelungen, Brustkrebszellen, die resistent gegenüber Tamoxifen sind, mit einem microRNA-Mole - kül wieder empfindlich für das Medikament zu machen.
(Oncogene 2012, doi: 10.1038/onc.2012.128)