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urch die rasche Entwicklung in der humanen Genomfor- schung treten fundamentale ethische, juristische und psy- chosoziale Probleme auf. Da Erb- krankheiten häufig schon routi- nemäßig diagnostiziert werden kön- nen, erhalten genetische Beratungs- gespräche durch die eindeutige Be- stimmung einer Prädisposition und der daraus abzuleitenden Prognose eine neue Qualität.Die Interaktion zwischen dem Arzt als Ratgeber und dem Ratsu- chenden war das Thema der interdis- ziplinären Tagung „Talking human genetics: verbal communication, knowledge and genetic make-up“. Sie wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der Humangenomforschung finan- ziert. Mediziner, Philosophen und Sprachwissenschaftler diskutierten über das Thema „Beratungsge- spräch“. Sie erörterten dabei auch die Rollenverteilung und Interaktionen anhand von linguistisch aufgearbeite- ten Gesprächsprotokollen.
Nichtdirektive Gesprächsführung
Die Teilnehmer stimmten über- ein, daß bei einem genetischen Be- ratungsgespräch eine nichtdirektive Gesprächsführung Priorität habe. Die dominierende Position, die der Arzt durch die Funktion als Berater und fachliche Autorität innehabe, dürfe nicht dazu führen, daß die ratsuchen- de Person durch Gesprächsmanipula- tion zu einer Entscheidung gedrängt
werde. In der idealen Gesprächssitua- tion führe der Ratsuchende das Ge- spräch, und der Ratgeber versuche mit seinem Fachwissen Wissens- lücken zu schließen. Die Intention des Ratgebers sollte darin bestehen, daß der Ratsuchende seine Situation in ih- rer Komplexität erfaßt und mögliche Konsequenzen berücksichtigt, um dann selbständig zu entscheiden.
Testergebnisse mit Konsequenzen
Nach Ansicht von Prof. Dr. med.
Karsten Held sollte am Anfang des Beratungsgesprächs geklärt werden, ob der Ratsuchende aus eigenem An- trieb oder, wie es oft der Fall sei, durch den Rat eines Arztes zum Bera- tungsgespräch erscheine. Der Ent- schluß eines Ratsuchenden zu einem
genetischen Test sei in keinem Fall ei- ne Einzelentscheidung, sondern be- treffe auch immer andere Personen, betonte Held. Dies veranschaulichte er an einem Beispiel: Bei einem jün- geren Familienmitglied besteht der begründete Verdacht, daß eine Erb- krankheit vorliegt. Falls der geneti- sche Test positiv ausfällt, bedeutet dies, daß das in Verdacht stehende El- ternteil die Mutation trägt und daß die genetisch verwandten Familien- mitglieder auch ein entsprechendes Risiko haben. Darüber hinaus müs- sen die betroffenen Familienmitglie- der und deren Partner die möglichen Konsequenzen für Partnerschaft und Kinderwunsch überdenken. So hat in diesem Fall ein positives Testergebnis Konsequenzen, die weit über die indi- viduelle Entscheidung hinausgehen.
Das statistisch darstellbare Risi- ko, zu dem bei einer bestimmten ge- netischen Prädisposition eine Erkran- kung eintrete, sei schwer vermittel- bar, stellten die Philosophen Prof. Dr.
phil. Harald Wohlrapp und Dr. phil.
Geert-Lueke Lueken fest. Sie legten dar, eine statistisch ermittelte Wahr- scheinlichkeit beinhalte für den ein- zelnen Ratsuchenden keine eindeuti- ge Aussage, daß er tatsächlich erkran- ken werde. Dabei sei aber gerade eine genaue Risikoabschätzung von großer Bedeutung, beispielsweise um zu entscheiden, ob man sich einer präventiven Operation unterziehen solle. Diese Problematik müsse des- halb so anschaulich wie möglich ver- mittelt werden. Dr. Stephan Mertens
A-1337 Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 20, 16. Mai 1997 (33)
T H E M E N D E R Z E I T BERICHTE
Identifizierung mutierter Gene
Der erste Schritt zur Identifizierung eines mutierten Gens besteht in der Aus- wahl von einer oder mehreren möglichst großen Familien, in denen eine familiäre Ursache der Krankheit wahrscheinlich ist. In der darauf folgenden Kopplungs- analyse wird untersucht, mit welchem DNA-Abschnitt die Krankheit kosegre- giert. Um diese Analyse durchzuführen, sind definierte Bezugspunkte auf den Chromosomen von entscheidender Bedeutung.
Initiiert durch das humane Genomprojekt, ist mittlerweile eine entsprechende
„Landkarte“ der menschlichen Chromosomen erstellt worden. Diese „Landkar- ten“, die um so besser sind, je mehr Bezugspunkte, das heißt definierte DNA-Ab- schnitte, sie enthalten, haben sich als äußerst nützlich für die Identifizierung neuer Erbkrankheiten herausgestellt. Mußten die Pioniere dieser Forschungsrichtung noch selber auf „Expedition“ gehen, um solche Karten zu erstellen, sind nun ent- sprechende Informationen jedem Forscher zugänglich. Erleichtert wird bei Erb- krankheiten die Identifizierung von mutierten Genen außerdem durch automati- sierte DNA-Sequenzierungstechniken. Zur Analyse der sequenzierten DNA ste- hen mittlerweile Datenbanken zur Verfügung, in denen die Datenmenge exponen- tiell zunimmt und so Vergleiche und Analysen der gewonnenen Daten erlaubt.