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Archiv "Perinatalzentren: Quantität allein garantiert keine Qualität" (25.07.2008)

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Qualitätszirkel Neonatalogie Berlin:

PD Dr. med. Jochum, Dr. med. Dombrowsky:

Ev. Waldkrankenhaus Spandau Dr. med. Schmidt, Dr. med. Abou-Dakn:

St.-Joseph-Krankenhaus Dr. med. Schunk, Dr. med. Laske, Prof. Dr. med. Mendling:

Vivantes-Klinikum im Friedrichshain Prof. Dr. med. Hesse, Prof. Dr. med. Elling:

Sana-Klinikum Berlin-Lichtenberg Dr. med. Distler, Prof. Dr. med. Untch:

Helios-Klinikum Berlin-Buch Dr. med. v. Moers, Prof. Dr. med. Kentenich:

DRK-Kliniken Westend

Quantität allein garantiert keine Qualität

Direkte Indikatoren wie Überlebensrate, Inzidenz an Hirnblutungen oder Retinopathie versprechen in der Neonatologie eine bessere Aussagekraft für die Abschätzung der Behandlungsqualität als indirekte Indikatoren wie etwa Fallzahlen.

Frank Jochum, Michael Untch

D

ie Auswirkungen von subop- timaler Therapie oder Kom- plikationen sind in kaum einem me- dizinischen Bereich so gravierend wie in der Neonatologie. Neben dem individuellen Leid, das besonders frühgeborene Patienten und deren Familien lebenslang begleiten und belasten kann, sind die mit schlech- ten neonatologischen Behandlungs- ergebnissen verbundenen Folgekos- ten für die Gesellschaft erheblich.

Die neonatologische Behand- lungsqualität in Deutschland gehört im internationalen Vergleich zur Spitzengruppe. Die weltweite Qua- litätsführerschaft kann sie aber nicht für sich in Anspruch nehmen. An- dere Länder mit möglicherweise schwierigeren Bedingungen für eine flächendeckende Versorgung wei- sen bessere Ergebnisse neonatologi- scher Therapie auf (1).

Über den besten Weg zur Verbes- serung der neonatologischen Be- handlungsergebnisse in Deutschland gibt es derzeit in den Fachgesell- schaften und unter den in der Peri- natalmedizin tätigen Spezialisten eine kontroverse Debatte. Eine klei- ne, aber einflussreiche Gruppe von

Hochschullehrern spricht sich, unter- stützt von Krankenkassen, für die Weiterentwicklung der Neonatologie durch die Einführung von Mindest- mengen bei der Behandlung von sehr unreifen Frühgeborenen aus – und einer damit verbundenen Zentralisie- rung. Andere Experten aus dem uni- versitären sowie nicht universitären Bereich setzen auf eine Verbesserung der neonatologischen Behandlungs- qualität durch Anforderungen an die Strukturqualität, wie sie im Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschus- ses (G-BA) vom 20. September 2005, zuletzt geändert am 17. Oktober 2006, festgelegt wurden.

Bei der Entscheidung zwischen den verschiedenen Möglichkeiten zur Weiterentwicklung der Neonato- logie hilft der Rückblick auf die Ent- stehungsgeschichte dieses G-BA- Beschlusses in Verbindung mit ei- nem Review relevanter Literatur.

In den Jahren 2004/2005 publi- zierte Untersuchungen über die neo- natale Behandlungsqualität in Ab- hängigkeit von der Versorgungsstruk- tur in Flächenländern der Bundesre- publik Deutschland, wie Niedersach- sen (2, 3) und Baden-Württemberg

(4), zeigten im Durchschnitt eine schlechtere Behandlungsqualität klei- nerer perinatologischer Behandlungs- einheiten im Vergleich zu großen Perinatalzentren der untersuchten Länder. Angeregt von diesen Unter- suchungen begann in vielen Regionen Deutschlands eine Diskussion über die Möglichkeiten einer Verbesse- rung der neonatologischen Behand- lungsqualität durch Einführung von Mindestmengen. Diese Diskussion wurde leidenschaftlich geführt. Hier- zu trug der Sachverhalt bei, dass die bekannten Publikationen lediglich Hinweise auf einen nur geringen Einfluss der indirekten Qualitäts- indikatoren (wie der Fallzahl) im Durchschnitt liefern konnten und ein „Schwellenwert“ nicht „evidenz- basiert“ angegeben werden konnte.

Zudem würde eine Mengenregelung das Problem aufweisen, dass ihr

„gute kleine“ Einrichtungen zum Opfer fielen, während „schlechte große“ Neonatologien wirtschaftlich profitierten.

Die Beurteilung der verfügbaren Daten durch den G-BA mündete 2005 in dem derzeit gültigen Be- schluss, der die neonatologische Ver-

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sorgung anhand von Strukturmerk- malen in vier Stufen festlegt (5).

Hierbei wurde auf das Heranziehen des sekundären Qualitätsindikators

„Fallzahlen“ wegen der schlechten Datenlage verzichtet.

Im G-BA-Stufenmodell wurden Strukturmaßnahmen festgelegt, wie etwa die Unterbringung von Kreiß- saal und Neonatologie Wand an Wand in einem Gebäude, aber auch Mindeststandards für die ärztliche und pflegerische Qualifikation und Versorgung, die sich an der jewei- ligen Versorgungsstufe orientieren.

Seit der Veröffentlichung des G-BA- Beschlusses haben zahlreiche Ein- richtungen mit dessen Umsetzung begonnen, überwiegend mit dem Ziel, das bis dahin vertretene Ver- sorgungsspektrum weiter durch- führen zu können.

Bauliche Veränderungen und per- sonelle Umstrukturierungen benöti- gen Zeit, sodass die Auswirkungen des G-BA-Beschlusses sich heute erst zu einem kleinen Teil in einer Verbesserung der neonatologischen Behandlungsqualität niederschlagen können. Verlässliche Zahlen hierzu liegen bis jetzt nicht vor.

Mit der Behauptung, die neonato- logische Behandlungsqualität hätte sich seit dem G-BA-Beschluss ver- schlechtert beziehungsweise die An- zahl der Zentren, die sehr unreife Frühgeborene behandeln wollen, ha- be sich signifikant erhöht, aktivierten die „Fallzahlbefürworter“ im Jahr 2007 den zuständigen Unteraus- schuss des G-BA und die G-BA-

Arbeitsgruppe „Früh- und Neugebo- renenversorgung“. Ziel war es, jetzt eine Mindestmengenregelung für die Perinatalmedizin durchzusetzen. Die Aktivierung des G-BA war gut vor- bereitet: Sie wurde von mehreren Fachpublikationen (6–10) und um- fangreicher Lobbyarbeit begleitet.

Durch das vehemente Vorgehen der

„Fallzahlbefürworter“ entsteht zu- weilen der Eindruck, dass die einge- forderten Maßnahmen selbst (Ein- führung von Mindestmengen) und die damit verbundenen Veränderun- gen der neonatologischen Versor- gungslandschaft wichtiger seien als das angegebene Ziel der Verbesse- rung der neonatologischen Behand- lungsqualität.

Das Heranziehen von indirekten Qualitätsindikatoren zur Vorhersage der künftigen Behandlungsqualität, wie zum Beispiel der behandelten Fallzahl je Zeit- und Behandlungs- einheit, scheint nach der vorliegen- den Literatur zweifelhaft.

„Evidenzbasierte“

Zahlen zum Thema

Rogowski et al. (11) untersuchten in der größten je publizierten Untersu- chung zu dieser Fragestellung Fakto- ren, die möglicherweise die große Schwankungsbreite der Behand- lungsqualität zwischen neonatologi- schen Zentren erklären. Als Datenba- sis wurde hierzu das Vermont Oxford Neonatal Network verwendet; dabei wurden die Ergebnisse von insge- samt 94 110 Frühgeborenen mit ei- nem Geburtsgewicht zwischen 501

und 1 500 Gramm (VLBW[very low birth weight]-Frühgeborene) aus 332 teilnehmenden Kliniken der Jahrgänge 1995 bis 2000 berücksich- tigt. Das Hauptergebnis der Unter- suchung war enttäuschend: Die oft zur Strukturplanung der neonatologi- schen Versorgung herangezogenen indirekten Qualitätsindikatoren, wie zum Beispiel die Anzahl der behan- delten Patienten je Zeit- und Be- handlungseinheit, hatten lediglich ei- nen geringen Einfluss auf die festge- stellte Variabilität der Morbidität und Mortalität zwischen den Zentren.

Die indirekten Qualitätsindikatoren hatten zusammengenommen einen positiven Vorhersagewert von nur etwa 16 Prozent; die Fallzahl allein hatte mit einem positiven Vorhersa- gewert von neun Prozent der gemes- senen Variabilität zwischen den Zen- tren dabei noch den größten Anteil.

Zur Frage des Zusammenhangs zwischen Fallzahl und der neonato- logischen Behandlungsqualität kann auch ein Blick in die Betriebswirt- schaftslehre hilfreich sein. In Stan- dardlehrbüchern findet man Hin- weise darauf, dass im Bereich der Betriebswirtschaft verschiedene Faktoren auf die Produktqualität Einfluss haben. Der gefertigten Stückzahl je Zeiteinheit („Fallzahl“) wird ein modulierender Einfluss in Form einer „U-Kurve“ zugeschrie- ben. Damit weist die Herstellungs- qualität ein Optimum auf, das sich mit geringer und hoher Fallzahl je Zeiteinheit verschlechtert. Die Opti- mierung komplexer Systeme ist auch mathematisch beschrieben (12, 13). Das Ergebnis von Rogowski et al. deutet einen ähnlichen Sachver- halt auch für die neonatologische Behandlungsqualität an. Mit stei- gender Fallzahl zeigte sich aller- dings nur eine nicht signifikante Tendenz zu schlechterer Behand- lungsqualität. Dieser Effekt lässt sich dadurch erklären, dass das Qua- litätsoptimum je nach Struktur von Einrichtung zu Einrichtung variiert.

Auch in neueren Arbeiten ergeben sich keine zusätzlichen Erkennt- nisse. Den indirekten Qualitäts- indikatoren kommt inklusive der Fallzahl wegen ihrer geringen Vor- hersagekraft bestenfalls eine margi- nale Bedeutung zu.

* Der Berliner Senat führt die Neonatalogien „Charité Campus Virchow“ und

„Charité Campus Mitte“

als eine Einrichtung, trotz der räumlich getrennten Lage. Die dritte Einrich- tung der Charité, die Abteilung für Neonatalogie im Standort „Benjamin Franklin“ wird nicht länger als Perinatalzentrum betrieben und gehört organisatorisch zur „Klinik für Neonatalogie Charité Campus Virchow“.

TABELLE 1

Geburtenzahl der „kleineren“ versus der „größeren“ neonatologischen Einrichtungen in Berlin (2004)*

Einrichtungen mit > 20 neonatalogischen Betten Geburtenzahl

Charité (Campus Virchow/Campus Mitte) 5 303

Vivantes-Klinikum Neukölln 3 020

Einrichtungen mit 20 neonatalogischen Betten

DRK-Kliniken Westend 2128

Evangelisches Waldkrankenhaus Spandau 1686

Helios-Klinikum Berlin-Buch 1023

Sana-Klinikum Lichtenberg 1728

St.-Joseph-Krankenhaus Tempelhof 1795

Vivantes-Klinikum im Friedrichshain 1538

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Eine systematische Untersuchung des Institus für Qualität und Wirt- schaftlichkeit im Gesundheitswesen (14) konnte keinen Zusammenhang zwischen Leistungsmenge und Mor- bidität sichern oder Angaben zu Schwellenwerten machen. Es ergaben sich nur „Hinweise“ auf einen Zu- sammenhang zwischen Leistungs- menge und Ergebnisqualität bei der Versorgung von VLBW-Frühgebo- renen, allerdings ohne eindeutig kausale Beziehung.

Die Arbeit von Phibbs et al. (16) beinhaltet einen Datensatz, der über einen langen Zeitraum – von 1991 bis 2000 – erhoben wurde. In dieser Zeit wurden jedoch beispielsweise die Behandlungsergebnisse mit der Einführung der Lungenfrühreifung durch die Gabe von antenatalen Steroiden an frühgeburtsgefährdete Schwangere signifikant verbessert.

Da möglicherweise die neue Be- handlungsstrategie zunächst an größeren Einrichtungen, die sich an der wissenschaftlichen Prüfung der neuen Therapie beteiligt hatten, eta- bliert wurde, ist es nicht auszu- schließen, dass die Ergebnisse hier- von zuungunsten kleiner Abteilun- gen beeinflusst wurden. Weiter zeigt die Arbeit von Phibbs et al. (16) – ebenso wie die Arbeiten von Teig et al.

(9) und Heller et al. (6) – eine große Streuung der Behandlungsqualität der jeweilig untersuchten Zentren innerhalb einer Fallzahlklasse.

Ein eindeutiger Hinweis auf ei- nen engen linearen Zusammenhang zwischen Fallzahl und neonatologi- scher Behandlungsqualität ist in keiner Untersuchung zu finden.

Regionale Besonderheiten sind nicht zu unterschätzen In einer eigenen Untersuchung (17) konnten wir zeigen, dass Untersu- chungsergebnisse zur regionalen Ver- sorgungsstruktur und deren Korrela- tion mit der Behandlungsqualität nicht übertragen werden können, ohne re- gionale Besonderheiten zu beachten.

Wir untersuchten erstmalig ver- gleichend die neonatale Behand- lungsqualität in Berlin und stellten den Ergebnissen Daten aus dem Flächenland Baden-Württemberg gegenüber. Die Daten zur Versorgung von sehr unreifen Frühgeborenen in

Berlin wurden retrospektiv für die Jahre 2003/2004 nach einheitlicher Definition flächendeckend erfasst und die „größeren Perinatalzentren“

(> 3 000 Geburten; > 20 neonatologi- sche Betten; Gesamtzahl der Gebur- ten: 8 323) mit den „anderen perina- tologischen Einrichtungen“ (1 000 bis 2 000 Geburten; 20 neonatolo- gische Betten; Gesamtzahl der Ge- burten: 9 898) verglichen (Tabelle 1).

Zwischen den Einrichtungen verleg- te Frühgeborene wurden der Statistik der Geburtsklinik zugeordnet.

Im Gegensatz zu Baden-Württem- berg (4) ergab sich in Berlin für VLBW-Frühgeborene keine schlech- tere Behandlungsqualität in „kleine- ren“ versus „großen“ Behandlungs- zentren (Tabelle 2). Da die Fallschwere in den großen Behandlungszentren höher gewesen sein könnte, diese aus den zur Verfügung stehenden Daten aber nicht ermittelt werden kann, wurde eine gleiche Auswertung für die Hochrisikogruppe der ELBW(ex- tremely low birth weight)-Frühgebo- renen mit < 1 000 Gramm Geburts-

gewicht durchgeführt. Auch diese Auswertung zeigte keinen Unter- schied der Behandlungsqualität (Ta- belle 3). Unsere Ergebnisse stehen damit im Widerspruch zu den Er- gebnissen aus Flächenländern, wie Baden-Württemberg (4).

Unsere Untersuchung stützt die These, dass Studien über die Behand- lungsqualität in Flächenländern – wenn überhaupt – nur sehr bedingt auf Stadtstaaten übertragbar sind. Ge- rade die in Flächenländern untersuch- ten indirekten Qualitätsindikatoren haben für die Strukturplanung in Stadtstaaten möglicherweise weniger oder keine Relevanz. Die Einführung von Mindestmengen und die damit verbundene stärkere Zentralisierung der Versorgung, wie es in einigen Re- gionen möglicherweise sinnvoll ist, kann an anderer Stelle sogar zu einer Verschlechterung der bisher etablier- ten Versorgungsstruktur führen.

Von „Mindestmengenbefürwor- tern“ und Kassenvertretern wurde bereits kurze Zeit nach dem letzten G-BA-Beschluss eine Verschlechte-

Einrichtungen mit 20 neonatalogischen Betten:DRK-Klinikum-Westend; Evangelisches Waldkrankenhaus Spandau; Helios-Klinikum Berlin- Buch; Sana-Klinikum Lichtenberg; St.-Joseph-Krankenhaus Tempelhof; Vivantes-Klinikum im Friedrichshain

Einrichtungen mit > 20 neonatalogischen Betten:Charité Campus Mitte (CCM); Charité Camps Virchow-Klinikum (CCV) und Vivantes-Klinikum Neukölln. Die Zahlen wurden den Jahresberichten entnommen oder beruhen auf eigenen Angaben.

* VLBW: very low birth weight = Geburtsgewicht < 1 500 g; ELBW: extremely low birth weight = Geburtsgewicht < 1 000 g

*1Definition Morbidität: bronchopulmonale Dysplasie (BPD): Sauerstoffbedarf > 21 % bei einem postmenstruellen Gestationsalter von > 36 Wochen;

Hirnblutungen/intraventrikuläre Hämorrhagie (IVH): > Grad II nach Papile et al., 1978; Frühgeborenenretinopathie (ROP): mit Laser oder Kryotherapie

TABELLE 3

„Kleinere“ versus „größere“ neonatologische Einrichtungen. Vergleich der Behandlungsqualität der im Land Berlin behandelten ELBW*-Frühgeborenen (2003/2004)

Geburten ELBW Verstorbene Morbidität*1

BPD IVH ROP

Einrichtungen mit > 20 [n] 16 690 287 60 65 22 20

neonatalogischen Betten [%] 1,7 20,9 22,7 7,7 7,0

Einrichtungen mit < 20 [n] 21 899 21 4 4 2 1

neonatalogischen Betten [%] 0,01 19,0 19,0 9,5 4,8

TABELLE 2

„Kleinere“ versus „größere“ neonatologische Einrichtungen. Vergleich der Behandlungsqualität der im Land Berlin behandelten VLBW*-Frühgeborenen (2003/2004)

Geburten VLBW Verstorbene Morbidität*1

BPD IVH ROP

Einrichtungen mit > 20 [n] 16 690 572 76 75 30 21

neonatalogischen Betten [%] 3,4 13,3 13,1 5,3 3,7

Einrichtungen mit < 20 [n] 21 899 171 5 7 4 1

neonatalogischen Betten [%] 0,8 2,9 4,1 2,3 0,6

(4)

rung der Behandlungsqualität und ei- ne Zunahme der Level-I-Zentren in Deutschland behauptet. Hieraus wurden ein dringender Handlungs- bedarf und die Notwendigkeit zur so- fortigen Einführung von Mindest- mengen abgeleitet. Zu Veränderun- gen der neonatologischen Behand- lungsqualität und der Anzahl von Zentren, die sich an der Versorgung von sehr unreifen Frühgeborenen be- teiligen, liegen aber keine verläss- lichen publizierten Daten vor. Dies ist auch nicht möglich, weil die Um- setzungen der durch den Beschluss angestoßenen Maßnahmen Zeit be- nötigen. Die als Indikatoren in die Diskussion eingebrachten Parameter, wie die Anerkennungen als Level-I- Zentrum oder die steigende Zahl der im KISS(KESS)-System registrier- ten Neonatologien, kann nicht als An- halt dienen, weil keine verlässlichen Angaben darüber existieren, welche Zentren in der Vergangenheit an der Behandlung von VLBW-Frühgebo- renen beteiligt waren.

Ansätze zur nachhaltigen Verbesserung der Versorgung Für das Bundesland Berlin können wir angeben, dass sich die Versor- gungsstruktur durch den G-BA-Be- schluss nicht verändert hat. Die an der neonatologischen Versorgung betei- ligten Einrichtungen sind bestrebt, die G-BA-Kriterien so zu erfüllen, dass der bisherige Leistungsumfang aller Einrichtungen weitergeführt werden kann. Hierzu ist es im Einzelfall aber notwendig, den Level I nach G-BA zu beantragen, auch wenn nicht beab- sichtigt ist, das komplette Spektrum der Versorgungsstufe zu vertreten.

Unsere Übersicht bestätigt, dass indirekte Qualitätsindikatoren, wie zum Beispiel Fallzahlen, wenig prä- diktive Aussagekraft für die Abschät- zung der künftigen Behandlungsqua- lität besitzen. Bessere Vorhersagen scheinen dagegen durch Verwen- dung der direkten Qualitätsindikato- ren, Mortalität und typischen Morbi- ditätsmerkmale, möglich. Diese Kenngrößen sind üblicherweise für Zentren relativ zeitstabil (5, 11) und können für die Strukturplanung her- angezogen werden.

Von unserer Berliner Arbeitsgrup- pe (17) wird zurzeit ein nicht fallzahl-

bezogenes Modell zur Kontrolle und Verbesserung der neonatologischen Behandlungsqualität in die Diskussi- on eingebracht. Teilaspekte dieses Vorschlags wurden bereits in einem freiwilligen Qualitätszirkel erprobt.

Der Vorschlag basiert auf der Er- fassung und Auswertung direkter Qualitätsindikatoren. Die typischen Indikatoren neonataler Behandlungs- qualität (Überlebensrate, Inzidenz an Hirnblutungen, Retinopathie) wer- den jährlich strukturiert erfasst, nach einem standardisierten Verfahren ausgewertet und veröffentlicht. An- stelle einer methodisch problema- tischen mathematischen Risikoadjus- tierung wird hier ein stratifizierter Vergleich von „Standardkindern“

(Frühgeborene ohne weitere medi- zinische Probleme) diskutiert, um die Vergleichbarkeit der Ergebnisse zwi- schen Einrichtungen zu ermöglichen.

Die Auswertung der Daten erfolgt mit einem Scoringsystem, das die ver- schiedenen Qualitätsindikatoren und die Gesamtauswertung mehrerer Jah- re zusammenfasst und so eine höhe- re statistische Aussagekraft als die Betrachtung der Inzidenz einzelner Komplikationen ermöglicht. Auf den Nachweis von statistischer Signifi- kanz zwischen den Ergebnissen wird bewusst verzichtet. Hierbei wird vor- ausgesetzt, dass eine Regelmäßigkeit der Behandlung von sehr unreifen Frühgeborenen in allen Einrichtun- gen vorhanden sein muss. Dies wird durch eine Regelmäßigkeitszahl, die nicht unterschritten werden darf, ge- währleistet.

Die Ergebnisse werden in einem einmal jährlich tagenden Qualitäts- zirkel aufgezeigt. Zu einem Merkmal stellen hierbei die „besten“ Einrich- tungen ihre Behandlungsstrategie dar. Sie ermöglichen Hospitationen in ihren Einrichtungen und unterstüt- zen so Qualitätsverbesserungen bei allen teilnehmenden Einrichtungen.

Während ein auf den Surrogatpa- rameter „Fallzahl“ basiertes Modell den Vorteil bietet, sehr einfach umge- setzt und überprüft werden zu kön- nen, scheint bei dem auf direkten Qualitätsindikatoren/der Behand- lungsqualität der vorangegangenen Jahre beruhenden Modell die Umset- zung auf den ersten Blick schwie- riger. Gleichzeitig hat es aber den

Charme, sich an regionalen Beson- derheiten zu adjustieren und sehr dif- ferenziert schlechte Behandlungs- qualität unabhängig von der Größe einer Einrichtung zu erkennen und zu verbessern. Als weiterer Vorteil er- scheint seine Ausrichtung auf das Lernen (nicht auf Sanktionen), was zu einer positiven Auseinanderset- zung und großer Akzeptanz führen sollte. Das beschriebene Modell bie- tet den Vorteil, nachhaltige Verbesse- rung in einem kontinuierlichen und lernfähigen Prozess für die neonato- logische Behandlungsqualität anzu- stoßen und hierbei, unabhängig von der behandelten Fallzahl, alle Ein- richtungen einzuschließen.

Unabhängig von der Region scheinen folgende „Eckpunkte zur Optimierung“ neonatologischer Ver- sorgungsstrukturen sinnvoll:

>Etablierung einer vergleichen- den Beurteilung der Einrichtungen in einer Region nach Mortalität und Morbidität, unter Berücksichtigung der Fallschwere

>Definition von stratifizierten

„Standardpatienten“ zur Herstellung der Vergleichbarkeit zwischen den Einrichtungen

>Zusammenlegung von Perina- tal- und Neonatalerhebung

>zeitnahe Auswertung der Neo- natal-/Perinatalerhebung (idealer- weise bis Mitte des Folgejahrs) und Verbesserung der Behandlungsqua- lität durch Anwendung von „Best Practice Modellen“

>zeitnahe Auswertung des regio- nalen Versorgungsangebots und Ver- besserung der Behandlungsstrate- gien nach den Merkmalen der Qua- litätssicherungsdaten (besonders den direkten Qualitätsindikatoren)

>Veröffentlichung der (standardi- sierten) Behandlungsergebnisse je- der Einrichtung zur Schaffung von Transparenz im Sinn eines Qualitäts- wettbewerbs.

❚Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2008; 105(30): A 1605–8

Anschrift für die Verfasser Priv.-Doz. Dr. med. Frank Jochum Abteilung für Kinder- und Jugendmedizin Evangelisches Waldkrankenhaus Spandau Stadtrandstraße 555, 13589 Berlin E-Mail: f.jochum@waldkrankenhaus.com

Literatur im Internet:

www.aerzteblatt.de/lit3008

@

(5)

LITERATUR

1. World Health Organisation: Query Online Database. Infant mortality rate/neonatal mortality rate. www.who.int/whoisis.

2. Bartels DB, Wypij D, Wenzlaff P, Dammann O, Poets C: Hospital Volume and Neonatal Mortality Among Very Low Birth Weight In- fants. Pediatrics 2006; 117/6: 2206–14.

3. Bartels DB, Damman O, Wenzlaff P, Wypij D, Poets CF: Zusammenhang zwischen Kli- nikgröße und neonataler Mortalität sehr kleiner Frühgeborener. Z Geburtshilfe Neo- natol 2005; 209: 114–21.

4. Hummler HD, Poets C, Vochem M, Hent- schel R, Linderkamp O: Mortalität und Morbidität sehr unreifer Frühgeborener in Baden-Württemberg in Abhängigkeit von der Klinikgröße. Ist der derzeitige Grad der Regionalisierung ausreichend? Z Geburts- hilfe Neonatol 2006; 210: 6–11.

5. Gemeinsamer Bundesausschuss: Verein- barung über Maßnahmen zur Qualitätssi- cherung der Versorgung von Früh- und Neugeborenen. Dtsch Arztebl 2005;

102(41): A 2817.

6. Heller G, Günster C, Misselwitz A, Feller A, Schmidt S: Jährliche Fallzahl pro Klinik und Überlebensrate sehr untergewichtiger Frühgeborener (VLBW) in Deutschland – Eine bundesweite Analyse mit Routineda- ten. Z Geburtshilfe Neonatol 2007; 211:

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7. Obladen, M: Mindestmengen in der Versor- gung sehr untergewichtiger Frühgebore- ner: Eine Literaturübersicht. Z Geburtshilfe Neonatol 2007; 211: 110–7.

8. Poets, CF, Bartels DB: Zum Zusammen- hang zwischen Klinikgröße und Behand- lungsergebnis. Z Geburtshilfe Neonatol 2007; 211: 106–7.

9. Teig N, Wolf H-G, Bücker-Nott H-J: Morta- lität bei Frühgeborenen < 32 Schwanger- schaftswochen in Abhängigkeit von Versor- gungsstufe und Patientenvolumen in Nord- rhein-Westfalen. Z Geburtshilfe Neonatol 2007; 211: 118–22.

10. Vetter K: Perinatalmedizin 2007 in Deutschland – Zielanomie trotz Evidenz? Z Geburtshilfe Neonatol 2007; 211: 108–9.

11. Rogowski JA, Horbar JD, Staiger, DO, Kenny M, Carpenter J, Geppert J: Indirect vs Direct Hospital Quality Indicators for Very Low Birth-Weight Infants. JAMA 2004; 291/2: 202–8.

12. Arnold BC, Shavelle RM: Joint Confidence Sets for the Mean and Variance of a Nor- mal Distribution. The American Statistican 1998; 52/2: 133–40.

13. Algina J, Olejnik S: Determining Sample Size for Accurate Estimation of the Squa- red Multiple Correlation Coefficient. Multi- variate Behaviorial Research 2000; 35/1:

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14. Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG): Zusam- menhang zwischen Leistungsmenge und Ergebnis bei der Versorgung von Früh- und Neugeborenen mit sehr geringem Ge- burtsgewicht. Vorbericht V07-01; Version 1,0. 2008; http://www.iqwig.de/publika- tionen.20.html.

15. Lee SK, McMillan DD, Ohlsen A et al., the Canadian NICU Network: Variations in Practice and Outcomes in the Canadian NICU Network 1996–1997. Pediatrics 2000; 106/5: 1070–9.

16. Phibbs CS, Baker LC, Caughey AB, Daniel- sen B, Schmitt SK, Phibbs RH: Level and Mortality in Very-Low-Birth-Weight Infants.

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17. Jochum F, Schmidt B, Schunk K et al.: Un- tersuchungsergebnisse zur neonatologi- schen Struktur- und Behandlungsqualität sind zwischen Regionen nicht übertragbar.

Berlin: die Behandlungsqualität VLBW- Frühgeborener ist flächendeckend gut.

Monatsschrift für Kinder- und Jugendme- dizin 2007; 155(Suppl. 3): Abstrakt 256.

LITERATURVERZEICHNIS HEFT 30/2008, ZU:

PERINATALZENTREN

Quantität allein garantiert keine Qualität

Direkte Indikatoren wie Überlebensrate, Inzidenz an Hirnblutungen oder Retinopathie versprechen in der Neonatologie eine bessere Aussagekraft

für die Abschätzung der Behandlungsqualität als indirekte Indikatoren wie etwa Fallzahlen.

Frank Jochum, Michael Untch

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