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Archiv "Bewältigung und Verdrängung: Die Funktion des Schreibens in der Krankengeschichte von Adalbert Stifter" (23.10.1980)

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Aufsätze • Notizen GESCHICHTE DER MEDIZIN

Cui salubre? Vermag die Beschäfti- gung mit einem Dichter, den richtig kaum noch jemand kennt, etwas zu vermitteln, wofür nicht andere Wege geeigneter sind? Tatsächlich scheint auf den ersten Blick dem Ansinnen, aus Leben und Schaffen eines Dichters des vergangenen Jahrhunderts noch heute Gültiges herauskristallisieren zu wollen, et- was eher Zufälliges anzuhaften, be- sonders dem Versuch, bei Stifter aus medizinischer Sicht interessante Aspekte zu eruieren; gefördert wer- den mag staunendes Aufmerken durch die heute eher allgemeine Un- kenntnis über diesen Dichter.

Obwohl das überlieferte Wissen um die objektiven Krankheiten Adalbert Stifters keinesfalls umfangreich ist und das anderer nicht überragt, lockte deren Rekonstruktion und Bewertung schon etliche, zum Teil medizinisch gebildete Biographen').

Einen ganz spezifischen — und darin wohl einmaligen — Reiz aber vermö- gen Werk und Biographie des Dich- ters dem darzustellen, dessen Inter- esse der subjektiven Seite der Krankheit, dem Kranksein, dem Be- finden, und der Bewältigung oder Verdrängung des krankhaften Ein- geschränktseins oder Bedrohtseins gilt.

Zur Biographie Adalbert Stifters Adalbert Stifter, der Dichter der

„Studien", „Bunte[n] Steine", des

„Nachsommers" und der „Mappe meines Urgroßvaters", lebt in einer Zeit, die gerade für die Medizin ei- nen wesentlichen Umschwung zei- tigt: Sie öffnet sich vollends den Naturwissenschaften, medizinische

Probleme werden gesellschaftlich ebenso engagiert diskutiert wie Be- lange anderer Wissenschaften, die Vorstellung von der Ätiologie wichti- ger Krankheiten allerdings zeigt noch meist spekulatives Gepräge (z.

B. Miasmen als Erreger der Cholera im Geist einer hippokratischen Me- dizin).

Eine Biographie Stifters muß für die erste Lebenshälfte fast ausschließ- lich aus sekundären Quellen schöp- fen — Brief und Werk geben erst zum späteren Zeitraum umfassendere Auskünfte. Vor 175 Jahren — am 23.

Oktober 1805 — geboren, verbringt der Sohn eines Leinenwebers und -händlers in Oberplan in Böhmen seine Kindheit, verliert mit knapp zwölf Jahren seinen Vater, erhält in Kremsmünster in Oberösterreich seine Gymnasialausbildung und schließt ein Jurastudium in Wien nicht ab.

Erst 1840 erscheint eine Novelle („Der Condor") als Zeitungsbeitrag

— zuvor schafft Stifter einige Gemäl- de und verfaßt eine nicht veröffent- lichte Erzählung („Julius", um 1826 [?]) sowie Gedichte —, der weitere folgen und die er schließlich für die

„Studien" als Buch umarbeitet. Zur Jahrhundertmitte tritt er in den Staatsdienst als Schulrat ein, ist ab Herbst 1854 zeitweise, ab Juli 1864 dauernd krank, wird mit 60 Jahren vorzeitig pensioniert und stirbt 26 Monate später an den Folgen eines Suicidversuchs, wie die meisten Bio- graphen annehmen.

Dieses straffe Lebensbild läßt sich, grob schematisiert, unter der spezi- fischen Fragestellung nach dem subjektiven Gewicht der verschiede-

nen Krankheiten für das Schreiben und dem des Schreibens für die Krankheiten dreiteilen: Bis etwa zum 22. Lebensjahr sind kaum unmittel- bare Zeugnisse erhalten — sieht man von einem in lateinischer Sprache verfaßten Brief an einen Lehrer (1822) und einigen Gemälden ab —, die folgenden 25 Jahre entfalten das dichterische Können und bergen er- ste Ansätze, mit dem Schreiben psy- chische Probleme zu verdrängen, beziehungsweise zu lösen, während in den letzten 15 Jahren zahl- und umfangreiche Briefe somatische Krankheiten zunehmender Hartnäk- kigkeit und manigfache Krankheits- modelle und -theorien dokumen- tieren.

Sowohl der steigende Grad der Be- troffenheit wie die resultierende Ge- wohnheit im „medizinischen Den- ken" bewirken deren sich verselb- ständigende, nahezu permanente Diskussion in den Briefen (insge- samt sind über 950 erhalten) und, wenn auch in geringerem Maße, im Werk.

Die Funktion des Schreibens hat für Stifter mehrere Aspekte. Sie unter- liegen zeitlichem Wandel, unter- scheiden sich in der Ausprägung ih- res Bewußtwerdens und in ihrem Ziel. Um ihre Wirkung zu erfassen, bedarf es der synoptischen Betrach- tung von Brief und Werk, freilich um den Preis, daß trotz der gebotenen Vorsicht zumindest das graduelle Ausmaß jedes dieser beiden Stränge verkannt werden kann.

Grundsätzlich hat ein Dichter das Recht, nicht unmittelbar aus seinem Werk erfaßt zu werden — dies als ethisches Postulat an jeden, der Kunst analysiert —, freilich ist auch bei den brieflichen Aussagen Vor- sicht angebracht. Der Dichter selbst erlaubt zwar deren biographische Auswertung, doch warnt er zugleich indirekt vor allzu bedenkenlosem Glauben: „Ich habe nicht im Sinne, meine Fehler zu verheimlichen, sie liegen in meinen Werken, werden noch klarer in meinen Briefen und am klarsten in der Geschichte mei- nes Lebens liegen, wenn eine solche der Mühe werth sein sollte" (Brief

Bewältigung und Verdrängung

Die Funktion des Schreibens in der Krankengeschichte von Adalbert Stifter

Sabine Gattermann

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vom 17. 3. 1866 an seinen Verleger Gustav Heckenast).

Gerade wenn man berücksichtigt, welche Sorgfalt Stifter Inhalt und Form seiner Briefe angedeihen läßt, muß dieses Eingeständnis subjektiv bewußt für die Nachwelt vorgenom- menen Filterns beachtet werden.

Andererseits, und so scheint das hier eingeschlagene Vorgehen ge- rechtfertigt, eröffnet der Wechsel einzelner Schaffensperioden im Werk und in der „Arbeit" an den Briefen neben der rein inhaltlichen Wertung wesentliche Interpreta- tionshilfen. Zusätzlich speist der Brief zuweilen das Werk, wie unten gezeigt wird.

Hoffen auf Genesung durch künstlerische Arbeiten Die Geschichte der Krankheiten des Dichters und seiner Reflexionen dar- über ist naturgemäß viel umfangrei- cher als die des Wechselbezugs zwi- schen „Schreiben" und „Krank- heit". Letzterem gilt hier das Interes- se: Schon sehr früh (im Januar 1839) gründet Stifter Genesungshoffnung auf Kunstausübung; obwohl der Brief im weiteren ein Gemälde be- trifft, kann als „Therapie" wohl eher das Abfassen der bald darauf publi- zierten frühen Novellen gelten: „ seit jenen Tagen hat mich eine mir damahls zugeführte Grazie keinen Augenblik verlassen: die Liebe zur

Kunst, und sie wird mir theuer blei- ben, bis ich sterbe; denn sie allein hat ausgehalten, wenn auch Liebe, Freundschaft, Ehrgeiz, Thatenlust, alles log und floh. Insbesonders zeigte sich ihre Macht, als ich im Herbste 1837 bei Maria Brunn mir durch eine Verkühlung eine Entzün- dung der Hälse des Hüftnervens zu- zog, und an das Zimmer gefesselt wurde, und in dem Augenblike noch nicht ganz befreit bin" (Brief vom 9.

2. 1839).

Freilich fehlt diesem Bekenntnis der Heilkraft künstlerischer Arbeit jene Vehemenz späterer Jahre. Dieses Verständnis entwickelt sich bei Stif- ter allmählich, erhält manche Modi- fikation und Korrektur und ist be-

Adalbert Stifter, vor 175 Jahren — am 23.

Oktober 1805 — geboren, gestorben am 28. Januar 1868

Foto: Bildarchiv Preussischer Kulturbe- sitz

gleitet von einem sich wandelnden Verständnis des Stellenwerts künst- lerischer Betätigung. Zunächst be- deutet dem Schulrat „das Dichten"

psychische Balance für Belastung und manche Enttäuschung im Staatsamt, später, unterschieden bei den einzelnen Werken, zum Teil so- gar Krankheitsverstärkung.

Die frühe Sicht verdeutlicht eine Selbstdiagnose schon nach gut vier- jähriger Amtszeit: „Der Arzt sagte, ich hätte meine Nerven überarbeitet, ich glaube es aber nicht; denn das Dichten hat mich bisher eher er- frischt als ermüdet. Ich gebe einer sehr gedrükten Stimmung, die ich im Sommer in Folge von Zerwürfnis- sen des Lehrkörpers der Oberreal- schule mit dem Direktor hatte, und die mir unsägliche Arbeit machten, die Schuld" (Brief vom 28. 1. 1855 an Gustav Heckenast).

Graphotherapie

Diesen funktionellen Aspekt des

„Schreibens" könnte man als „Gra- photherapie" definieren und darun- ter alle durch „Schreiben" beab- sichtigte und/oder bewirkte Einfluß-

nahme hauptsächlich auf eine psy- chische, aber auch auf eine physi- sche Krankheit subsumieren.

Analog der Bedeutungspalette des Begriffs „Schreiben" sollte man in primäre, sekundäre und tertiäre Gra- photherapie differenzieren: Primäre Graphotherapie sei die rein mecha- nische „Schreibübung", die im Be- wußtsein des sie Ausführenden etwa als Kritzelei (bis hin zum „Strich- männchen") im Sinne eines Abrea- gierens wirkt.

Sekundäre Graphotherapie sei die direkte Wiedergabe eines objektiven oder subjektiven Erlebnisses, auch eines Traumes beispielsweise, bei dem allein durch die schriftliche Fi- xierung das Negative, als krankma- chend Empfundene, „gebannt", al- so überwunden wird. Tertiäre Gra- photherapie meint eine dritte Ebene:

Aktive und kreative künstlerische Umsetzung realer, pathogener Vor- gänge, Erlebnisse und Belastungen erreicht, zum Beispiel durch Aufzei- gen einer positiven Alternative, Ver- drängung oder, besser, erfolgreiche Bewältigung.

Die beiden letzteren Begriffe spielen für den hier vorliegenden Interpreta- tionsversuch die dominante Rolle;

Graphotherapie beim Briefschrei- ben ist überwiegend als sekundäre, das „Dichten" fast ausschließlich als tertiäre zu verstehen.

Allgemeiner gefaßt kann von Gra- photherapie auch gesprochen wer- den, wenn durch „Schreiben" nicht manifeste Krankheit, sondern bedro- hender seelischer Druck als fakulta- tiv pathogen abgemildert werden soll. Andererseits kann freilich

„Schreiben" Problembewußtsein vertiefen und, als Beruf betrieben, obendrein durch Überarbeitung bei erzwungener, ungesunder körperli- cher Passivität somatische Krank- heiten verursachen oder fördern — die Erörterung der Bedeutung des

„Schreibens" für die Krankenge- schichte des Dichters muß diesen Aspekt einschließen.

Die Entwicklung einer dritten Bezie- hung kann ebenfalls verfolgt wer-

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 2576 Heft 43 vom 23. Oktober 1980

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Adalbert Stifter

den: Im Sinne Freuds vermag Krank- heit sowohl von den sonstigen Pflichten zu entbinden und so als primärer Gewinn für das geliebte Dichten Platz zu schaffen, als auch bei subjektiver oder objektiver Über- lastung durch Terminzwänge eine Flucht zu ermöglichen (gleichfalls ein primärer Gewinn), als auch in der Rücksichtnahme durch die Um- welt dem Dichter Ruhe und Raum zu verschaffen (sekundärer Gewinn).

Alle drei dieser grundsätzlichen Be- ziehungstypen haben für Stifter Gel- tung.

„Schreiben"

als psychische Balance

Bis etwa 1860 allerdings erfährt die Kunstausübung, zu der neben dem Schreiben hauptsächlich das Malen gehört, nur positive Bewertung; ihre Funktion in medizinischer Dimen- sion setzt erst zu Ende dieses Zeit- raumes ein und wird stets als hel- fend verstanden.

Als dem selbst kinderlosen Dichter eine seiner beiden Ziehtöchter da- vonläuft, äußert er: „Seit gestern si- ze ich wieder bei meiner Arbeit, und die Lieblichkeit und Höhe der Poesie thut meinem trüben Herzen wohl"

(Brief vom 24. 12. 1851 an Gustav Heckenast).

Beim später in rascher Folge eintre- tenden Tod beider Ziehtöchter (sie sterben an Lungentuberkulose be- ziehungsweise durch Suicid) resü- miert er: „Es mag wahr sein, daß die Muse mir treu bleibt, wenigstens ha- be ich jetzt außer meiner geliebten Gattin und einigen treuen Freunden niemand mehr als sie, und ich fühle, ich werde mit aller Kraft meines Her- zens zu ihr fliehen, und ich fühle auch, sie wird mich trösten" (Brief vom 26. 4. 1859 an Gustav Hecke- nast). Diese Phase noch von eige- ner Krankheit weithin ungetrübter Kunstausübung fällt in etwa zusam- men mit der Entstehung des Ro- mans „Der Nachsommer", wie aus mancher dieser im Sinne positiver Stützung wertenden Briefstelle her- vorgeht (z. B. im Brief vom 15. 10.

1861).

„Schreiben " als Therapie und als pathogenes Geschehen Teils schreibt das bisherige Selbst- verständnis des Künstlers, Kunst als Ausgleich zu betreiben, in den letz- ten Lebensjahren zunehmender ob- jektiver Krankheiten die Interpreta- tion als medizinisch-therapeutischer Notwendigkeit fort, teils wider- spricht er ihm, wenn er die Arbeit am Werk als Krankheits(mit)ursache brand markt.

Beide Perspektiven sind mit zwei Hauptwerken gekoppelt — erstere mit den beiden Romanversionen der

„Mappe meines Urgroßvaters", letz- tere mit dem „Witiko". Zu Beginn des Jahres 1864 differenziert Stifter:

„Ich konnte nicht am Witiko arbei- ten, da bin ich eben in erschüttern- den Auftritten, und sie fordern Kühn- heit und Frische; aber an die Mappe des Urgroßvaters ging ich, (Sie wis- sen, daß sie ein eigenes Werk wer- den soll) und schrieb sie mit Benü- zung des Alten neu. Seit 3 Wochen arbeite ich daran, und mein Glaube an diese liebevolle Arznei hat mich nicht getäuscht, mein Herz wußte, was ihm mangelte, und ging zu dem rechten Borne, Gesundheit zu trin- ken" (Brief vom 12. 2. 1864 an Gu- stav Heckenast).

Diese Unterscheidung behält er fort- an bei: Wohl nur die „Mappe" wirkt graphotherapeutisch, nur an ihr kann er in kranken Tagen formen und empfindet dies als Medizin, während der „Witiko" Zeiten subjek- tiven Wohlbefindens bedarf: „Und da war es beständig mein Gram, der auch die Krankheit sehr verschlim- merte, daß der „Witiko" nun ruhen muß. Über diesen Umstand bin ich oft vor meiner Gattin in unwillkührli- che heiße Thränen ausgebrochen.

Und doch war ös unmöglich am „Wi- tiko" zu arbeiten; denn mein Geist war ein halbes Kind geworden. Um nun meinen Gram zu lindern, ging ich an die Mappe, die nur eine Umar- beitung war, und deren Vorstellun- gen mir aus gesunder kräftiger Zeit geläufig waren, und troz des Verbo- tes des Arztes schrieb ich oft, wenn mir auch bei Zittern der Nerven die Buchstaben auf dem Papiere zitter-

ten, und so verschwammen, daß ich wieder auf Stunden aussezen muß- te. Was ich für die Krankheit durch Schreiben Übles that, wurde doch wieder dadurch ein Gutes, daß mein Gemüth ruhiger und heiterer wurde, und auf den Körper heilsam zurük wirkte" (Brief vom 28. 8. 1864 an Gustav Heckenast).

Die knapp drei Jahre, die sich zwi- schen die letzten Arbeiten an der

„Mappe" schieben, sind gefüllt von der Krankheit Stifters, die etliche Kuraufenthalte im Bayerischen Wald, in Kirchschlag bei Linz und in Karlsbad subjektiv zwingend erfor- dert, und der Vollendung des „Witi- ko". Ist die Umarbeitung der „Map- pe" in autotherapeutischen Bedürf- nissen motiviert gewesen, treibt nun äußerer Zwang seitens des drängen- den Verlegers die Entwicklung des

„Witiko" voran, obwohl sie seiner

„Krankheit einen recht guten Boden vorbereitet" (Brief vom 17. 12. 1864 an Gustav Heckenast).

Der Dichter glaubt, aus therapeuti- schen Gründen nur an der „Mappe"

schreiben zu können, wohl wissend, daß der Verleger diese Arbeit vor Abschluß des „Witiko" — man ist schon mitten im Drucken — nicht an- nehmen kann, und gerät so, trotz möglicherweise objektiver Überar- beitung, in ein sich verstärkendes Gefühl des Mißverstandenwerdens und der Ablehnung. Seine Inflexibili- tät, das einst als hilfreich erkannte Schreiben in seiner jetzigen Krank- heit völlig zu unterlassen und sich nur auf regenerierende Maßnahmen zu beschränken, führt ihn in eine Zwangslage: „Als ich krank war, faß- te mich das bitterste Gefühl, daß nun die Arbeit leidet, es faßte mich das bitterste Gefühl um dich, und ich that, wie ich dir schrieb, das Über- menschliche (lies doch den Brief nach) und machte die zwei Bände Mappe fast fertig, weil ich an Witiko nicht arbeiten konnte, und zerstörte vielleicht wieder, was der Arzt gut machte, und verzögerte die Gene- sung" (Brief vom 29. 7. 1865 an Gu- stav Heckenast). Diese hier aufge- zeigte dritte Ebene seiner Motiva- tion, Kunst auszuüben, erfährt in den letzten Lebensmonaten eine

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dritte und letzte Band), gelingt es Stifter tatsächlich, wie er in seinen Briefen glaubhaft darstellt, mit be- achtlicher Konsequenz, wobei ihm sein subjektiver Gesundheitszu- stand zu Hilfe kommt, die Umdich- tung der „Mappe" zu betreiben. Stif- ter mag selbst glauben, daß er diese höchste, klassische Stufe seiner ei- genen Krankheitsbewältigung zu lei- sten vermag, doch schon nach et- was mehr als der Hälfte des Ange- strebten holt ihn der Tod ein.

Während der Zeit der letzten Krank- heiten Stifters — etwa ab 1864 — un- terliegt der Dichter temporär einem selbst als notwendig erkannten ärzt- lichen Schreibverbot. Da er nicht un- tätig sein kann und dennoch gehor- chen will, weicht er auf das Brief- schreiben aus, das ihm erklärterma- ßen keine Schwierigkeiten bereitet.

Empfänger der meisten dieser Briefe ist seine Frau Amalia; oft schreibt er ihr mehrmals täglich. In seinen Brie- fen setzt er seine Krankheitsbewälti- gung durch Beschreiben (sekundäre Graphotherapie) fort — und die Ent- wicklung seiner Therapiekonzepte.

Ein Faktum dafür, daß der Begriff

„Graphotherapie" auf Brief und Werk gleichermaßen anwendbar ist, ist die Tatsache, daß Stifter zwei subjektiv wichtige Themen seiner Briefe veröffentlicht, wobei er den Briefinhalt zugrunde legt: Im Früh- jahr 1866 erscheinen seine „Winter- briefe aus Kirchsch lag" in der „Lin- zerzeitung". Er setzt darin das Werk eines deutschen Arztes über die kli- matischen Vorzüge der Schweizer Alpenluft auf die Gegebenheiten sei- nes Wahlkurortes Kirchschlag um.

Ende Oktober 1867 faßt der Dichter den Plan, das Erlebnis eines beson- ders starken Schneefalls des No- vember 1866 in den Lackenhäusern, einem seiner Zufluchtsorte, als Er- zählung „Aus dem bairischen Wal- de" zu publizieren.

Graphotherapie im Werk

Zentral für die Erörterung medizini- scher Aspekte in Stifters Dichtung

Hauptfigur, der Arzt Augustinus.

Dieses Werk, das in insgesamt vier Versionen die gesamte Schaffens- zeit des Dichters begleitet, ist in sei- ner Wirkung auf Stifter als tertiäre und in der fiktionalen Ebene als se- kundäre Graphotherapie beschreib- bar. Zunächst dient es dem Dichter zur Verarbeitung verschiedener psy- chischer Probleme, deren Wandel in einzelnen Phasen seines Lebens mit den verschiedenen Fassungen kor- reliert.

In der Erzählung selbst bewältigt der Urgroßvater, Landarzt in Stifters Hei- mat in der ersten Hälfte des 18. Jahr- hunderts, durch sein Tagebuch, nämlich die „Mappe", sein impulsi- ves Temperament, seine Eifersucht, die ihm privat Unglück gebracht ha- ben, dergestalt, daß er in seinem Wesen sanfter wird und so beruflich (er wird zum „eigentlichen" Doktor) und persönlich reift und schließlich die Folgen der Affekthandlung, die diese Therapie notwendig gemacht hat, durch den positiven Ausklang — Versöhnung mit der Geliebten — aus- merzen kann. Er bezeichnet sein Pergamentbuch als „Anfang des Heils". Ein Freund hatte ihm diese Methode aus eigener Erfahrung empfohlen: „In jener Zeit [eigener Verzweiflung] lernte ich ein Mittel gebrauchen, von dem ich glaube, daß ich ihm Alles verdanke, was ich geworden bin" 2).

Auch vor einer möglichen Gefähr- dung durch „Schreiben", die in Stif- ters Biographie eher somatisch von einer allgemeinen Überarbeitung herrührt, wird im Werk gewarnt; in der „Narrenburg" verursacht die Auflage des Ahnherrn, seine Erben müßten die Tagebücher der Vorfah- ren lesen und selbst solche schrei- ben, den Ausbruch oder zumindest das Offenbarwerden einer patholo- gischen Erbanlage: „Es mußte näm- lich von ihrem Ahnherrn her so viel tolles Blut und so viel Ansatz zur Narrheit in den Scharnasts gelegen haben, daß sie, statt durch die Le- bensbeschreibungen abgeschreckt zu werden, sich ordentlich daran ein

in eine Lebensbeschreibung hinein- geht — ja selbst Die, welche bisher ein stilles und manierliches Leben geführt hatten, schlugen in dem Au- genblicke um, als sie in den Besitz der verwetterten Burg kamen, und die Sache wurde immer ärger, je mehr Besitzer bereits gewesen wa- ren, und mit je mehr Wust sich der neue den Kopf anfüllen mußte" 3).

Das Phänomen der Isolation sei hier unbeachtet; fiktional sind sowohl das Verfassen als auch die Lektüre der Tagebücher Krankheitsursache oder zumindest -indikator.

Zusammenfassung

Die Funktion des Schreibens unter- liegt in Stifters Krankengeschichte einem Wandel: Der noch gesunde junge Dichter räumt seiner Kunst le- diglich die Fähigkeit seelischer Re- generation und die Möglichkeit zur Problemverarbeitung ein, während er später in körperlicher Krankheit dem „Schreiben' sowohl Linderung und Heilung (Graphotherapie) als auch Krankheitsverstärkung nach- sagt. Neben der Differenzierung im Werk selbst — der „Witiko" ist bela- stend, „Die Mappe meines Urgroß- vaters" befreiend — kann hauptsäch- lich zwischen dem Briefschreiben als therapeutischer Betätigung und der dichterischen Arbeit als po- tentiell krankmachender unterschie- den werden.

Die zahlreichen Möglichkeiten eines genuinen Zugangs zu verschiede- nen Dimensionen einer rezenten Medizin, das Aufzeigen der Entste- hung bestimmter, bis heute nachwir- kender Prozesse —z. B. Apparateme- dizin, Spezialisierung —, die die Be- schäftigung mit Persönlichkeiten vergangener Epochen auch bedeu- tet, wurden nicht genannt; doch auch so läßt sich die eingangs ge- stellte Frage nach dem Sinn der Aus- einandersetzung mit einem Denker längst vergangener Tage positiv ent- scheiden: Das Verständnis des Dich- ters Adalbert Stifter, sein „Schrei- ben" als ein Zentrum seiner Befind-

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 2578 Heft 43 vom 23. Oktober 1980

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Illustration aus „Der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften Abhandlungen aus der Naturlehre, Haushaltungskunst und Mechanik", 1749;

Abbildung nach dem 11. Band der bei Georg Christian Grund und Adam Heinrich Holl in Hamburg und Leipzig 1754 herausgegebenen deutschen Übersetzung

Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Adalbert Stifter

lichkeit aufzufassen und in seine au- totherapeutischen Bemühungen — zumindest retrospektiv — zu integrie- ren, weist auf eine Bedeutung der Subjektivität im Heilungsprozeß hin, die vielleicht gelegentlich verkannt zu werden droht. Doch sie ist letzt- lich ein Ziel — und oft das Mittel — des ärztlichen Wirkens.

Literatur

1) Sämtliche Briefe sind zitiert nach: Adalbert Stifters Sämmtliche Werke, hg. v. A. Sauer et al., Prag, später Reichenberg 1904 ff., Bd. XVII- XXIV, Briefwechsel, 1916-1941, Bd. XVII 2 1929, Bd. XVIII 2 1941, Bd. XIX 2 1929. Zur übrigen Literatur s. Gattermann, S., Arztbild und Krankheitsverständnis in Adalbert Stifters Briefen und dem Werk „Die Mappe meines Urgroßvaters", Diss. med., 484 S., Heidelberg 1979. Einzelnachweis über die Verfasserin. — 2) Adalbert Stifters Sämmtliche Werke, s. o.,

Bd. XII, Die Mappe meines Urgroßvaters (Letz- te Fassung), 1939, S. 206 — 3) Adalbert Stifters Sämmtliche Werke, s. o., Bd. II, Studien, 2.

Band, 1908, S. 6f.

Anschrift der Verfasserin:

Dr. med. Sabine Gattermann Franz-Lehär-Straße 20 7520 Bruchsal-Obergrombach

ZUR GESCHICHTE DER MEDIZIN

Die Illustrationen der naturwis- senschaftlichen und medizini- schen Fachliteratur des 18. Jahr- hunderts zeichnen sich vielfach durch „fotografische Genauig- keit" aus. Das präzise hand- werkliche Können der Zeichner und Kupferstecher arbeitet das Charakteristische in didaktisch hervorragender Form heraus. Der Leser, Käufer, Konsument achte- te seinerseits auf die Qualität der Abdrucke so penibel, daß für die ersten frischen Abdrucke von der wenig genutzten Platte das Viel- fache von dem gezahlt wurde, was die Abdrucke vielgenutzter Platten erbrachten.

Bei der regen Übersetzungstätig- keit naturwissenschaftlich-medi- zinischer Publikationen, insbe- sondere Zeitschriftenpublikatio- nen, wurden die Abbildungen entweder nachgestochen, oder die Originalplatten wurden über die Grenzen verschickt und dien- ten dann auch der Illustration der Übersetzungen.

Die Abbildung gibt eine Illustra- tion aus „Der Königl. Schwedi- schen Akademie der Wissen- schaften Abhandlungen aus der Naturlehre, Haushaltungskunst und Mechanik", III. Quartal 1749 wieder, und zwar aus der deut- schen von Abraham Gotthelf Kästner übersetzten Ausgabe.

Die großen Figuren 1 und 2 stel- len ein „Großes Fleischgewächse

(Polypus)" dar, über dessen Ope- ration der Provincialmedicus Jo- hann Rothmann berichtet. Figur 3 stellt einen Blasenstein dar, den der Chirurg Hermann Schützer einem 60jährigen Geistlichen herausoperiert hatte.

Schützer berichtete über eine ei- gene Operation im Beisein eines

Physikus und vieler Wundärzte.

Rothmann dagegen berichtete über eine von ihm veranlaßte, von einem Feldscherergesellen durchgeführte Operation. Die Aufgaben von Ärzten und Wund- ärzten sind der Zeit entsprechend charakteristisch verteilt. Es spricht für die Fortschrittlichkeit der Königl. Schwedischen Aka- demie der Wissenschaften, daß sie auch Originalbeiträge aus der Feder von Chirurgen veröffent- lichte.

FRAGMENTE

Mit fotografischer Genauigkeit

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