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Archiv "Technisierung der Medizin: „Die Technik ist uns auf den Leib gerückt“" (12.12.2014)

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A 2208 Deutsches Ärzteblatt

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12. Dezember 2014

Ü

berwachungsgeräte für Vital- parameter, Hightech-Operati- onssäle mit Roboterassistenz, elek- tronische Implantate, neurotechni- sche Arm- und Beinprothesen – Technik hält immer stärker Einzug in die medizinische Praxis und dringt zunehmend auch in den Kör- per des Menschen vor. Vor allem in der klinischen Medizin, aber auch in der Pflege wächst die Vielfalt hochkomplexer technischer Verfah- ren und Systeme rasant. Die Akade- mie für Ethik in der Medizin disku- tierte auf ihrer Jahrestagung 2014 in Ulm über die ethischen Fragen, die sich im Kontext einer immer inten- siveren Tech nik nutzung in der me- dizinischen Versorgung stellen.*

Einen breiten Rahmen steckte der Philosoph Prof. em. Dr. Gernot Böh- me mit seinen Überlegungen zur in- vasiven Technisierung der Medizin ab. Dabei besteht ihm zufolge das In- vasive in der Medizin nicht im „ge- waltsamen Eindringen“ in die kör- perliche Integrität, wie man zunächst annehmen könnte. Denn die Ent- wicklung medizinischer Technolo- gien geht derzeit in Richtung mini- malinvasiver Verfahren, bei der durch die Miniaturisierung von Gerä- ten, durch immer bessere bildgeben- de Verfahren und durch die elektroni- sche Datenverarbeitung mehr und mehr gewaltsame Eingriffe in den Organismus vermieden werden kön- nen. Zunehmend wird etwa die offe-

ne Bypass-OP durch das Setzen eines Stents mittels Kathether ersetzt.

Bis weit ins 19. Jahrhundert wur- de Technik vor allem in Bezug auf den Begriff des Homo faber ge- dacht, des Werkzeug gebrauchenden Menschen. Dabei wird Böhme zu- folge unterstellt, dass die menschli- chen Lebensvollzüge und Absichten dem Gebrauch von technischem Werkzeug vorausgehen und von die- sem unabhängig sind. Dieses Ver- ständnis von Technik als Werkzeug scheint unzureichend geworden zu sein. Vielmehr lassen technische Ge- TECHNISIERUNG DER MEDIZIN

„Die Technik ist uns auf den Leib gerückt“

Der Gebrauch von Technik im und am Menschen wirkt sich auf das Selbstverständnis von Arzt und Patient aus. Was sind mögliche Konsequenzen der fortschreitenden invasiven Technisierung?

Foto: iStockphoto

*„Technisierung der Medizin als ethische Heraus- forderung“, in Zusammenarbeit mit dem Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universität Ulm, 9. bis 11. Oktober 2014

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12. Dezember 2014 räte oder Einrichtungen die Lebens-

formen des Menschen nicht mehr unberührt – genau darin besteht laut Böhme das Eindringen der Technik.

„Menschliche Lebensvollzüge und das, was der Mensch damit beab- sichtigt, sind heute weitgehend durch die technischen Rahmenbe- dingungen des Lebens bestimmt.“

Zunehmend wird etwa die sinnli- che Wahrnehmung durch den Ge- brauch technischer Instrumente und Medien bestimmt. Der Übergang von Technik als Hilfsmittel zu Tech- nik als Medium lässt sich am Ther- mometer verdeutlichen: Galt es im 17. Jahrhundert noch als Hilfsmittel, mit dem man die menschliche Wär- meerfahrung objektiver erfassen wollte, so wird heute das, was warm und kalt ist, durch Thermometergra- de bestimmt. Böhme: „Der mensch- liche Wärmesinn wird als mehr oder weniger guter Zugang zu dem, was Temperatur ist, verstanden.“

Heute werden bestimmte Tech- nologien nicht mehr für bestimmte vorausdefinierte Zwecke und Ab- sichten entworfen, sondern sie ge- ben umgekehrt als Medium den Rahmen dafür ab, überhaupt erst bestimmte Zwecke zu setzen und Absichten zu entwickeln (Technik als Dispositiv). Beispiel: Das Inter- net, ursprünglich zu Kommunikati- onszwecken entwickelt, ist inzwi- schen ein Medium, für das immer neue Zwecke gesucht und gefunden werden. Es hat sich zum Medium gesellschaftlichen Handelns und gesellschaftlicher Steuerung entwi- ckelt und dringt in menschliche Verhaltensweisen ein.

Technik setzt die Rahmenbedingungen

In der Medizin lässt sich das an der Entwicklung der Reproduktionsme- dizin veranschaulichen: Durch sie – insbesondere in der Form der präna- talen Diagnostik – hat sich Böhme zufolge das Bild dessen, was Fort- pflanzung überhaupt ist, weitgehend von einem Geschehen hin zu einem Machen verlagert. Auch die Zeu- gung auf natürlichem Wege kann sich heute nur noch „in der Lücke der Verhütung“ (Böhme) vollziehen.

Ein Beispiel dafür, wie die Entwick- lung der medizinischen Technologie

das Verständnis der Sache, für die sie eingesetzt wird, verändert: Die menschliche Reproduktion ereignet sich im Rahmen und unter den Ein- schränkungen, die durch die Repro- duktionsmedizin gesetzt sind.

Invasive Technisierung im enge- ren Sinne bezeichnet medizinische Technologie, die in den Leib des Menschen eindringt und als Stück seines Körpers seine Lebensvollzüge verändert und auf Dauer bestimmt:

Die Technik rückt dem Menschen auf den Leib, zum Beispiel in Form von Herz- oder Hirnschrittmachern und anderen Implantaten. Technik kommt als Organverlängerung oder -ersatz ins Spiel – teilweise mit er- heblichen Folgen, wie Böhme am Beispiel des französischen Philoso- phen Jean-Luc Nancy illustrierte, der sein Leben nach einer Herztransplan- tation Anfang der 1990er Jahre in einem Buch verarbeitete und darin über seine tiefgehende Entfrem- dungserfahrung berichtet (1).

Dass wir Funktionen und Wir- kungszusammenhänge im Körper nach technischem Vorbild (techno- morph) modellieren, folge dem Pa- radigma interventionistischer Na- turwissenschaft, so die These von Prof. Dr. Christoph Hubig, TU Darmstadt. „Freilich sind immer auch die Grenzen solcher Strategien zu reflektieren“, betonte Hubig.

So lassen sich auch organische Funktionen als technomorphe Mo- dellierungen verstehen: Einmal im Hinblick auf ihre kausale Rolle im System, um Störungen im System zu verhindern (Beispiel: die Funktion des Herzens liegt darin, dass es ur- sächlich dafür sorgt, dass das Blut in einem Zirkulationskreislauf gehalten wird). Ferner im Hinblick darauf, dass sie das Überleben eines Orga- nismus als System garantieren, in- dem sie perfekte Regelungen gegen Störungen des Systems überhaupt (und nicht nur im System) vollzie- hen. Als dritte Variante lässt sich die evolutionäre Organfunktion als Ur- sache einer vergangenen Selektíon betrachten. Diese technischen Mo- dellierungen von organischen Funk- tionen sind Hubig zufolge deshalb wichtig, weil aus ihnen bestimmte Vorstellungen von Krankheit und Funktionsstörungen resultieren.

Beispiele für technomorphe Mo- dellierungen finden sich in der an- thropologischen Tradition, etwa bei Arnold Gehlen – „der Mensch als Mängelwesen“. Der Mensch per se ist ein Problem aufgrund seiner de- fizitären Ausstattung. Daraus folgt, dass Technik als Lösung bestimm- ter Funktionen von Fehlfunktionen oder fehlenden Funktionen model- lierbar ist – mit Konsequenzen bis hin zur Medizintechnik. Die als Ge- genthese dazu vertretene Auffas- sung sieht den Menschen als Über- schusswesen (Beispiel: die von der Gehfunktion freigestellte Hand).

Ebenso lässt sich Technomor- phismus auch evolutionsphiloso- phisch betrachten. „Dann erscheint die Natur selbst als großer Techni- ker, und je nach Einschätzung er- scheint der Mensch mal als Kata- strophe der Evolution oder als Krö- nung der Evolution.“ Beides sind laut Hubig überholte naiv-ontologi- sche Ansätze.

Technomorphe Modellierung des Menschlichen

Schon immer allerdings wurden be- stimmte Aspekte des menschlichen Organismus technomorph model- liert, sei es in mechanischer Hin- sicht als System von Pumpen, He- beln und Kraftschlüssen, sei es in chemischer Hinsicht, was die Mo- dellierung von Stoffwechselprozes- sen betrifft, sei es elektrodynamisch als Vorbild für die Modellierung des Nervensystems oder informatorisch – der Mensch als gentechnisch pro- grammierte Maschine. Dabei han- dele es sich um ein sektoral orien- tiertes Vorgehen des Modellierens zu bestimmten Zwecken, die in der Regel sehr erfolgreich seien, erläu- terte Hubig, mit der Einschränkung:

„Das Problem solcher sektoralen technomorphen Modellierungen ist, dass die Schnittstellen zu anderen sektoralen Verfasstheiten mögli- cherweise ausgeblendet werden.“

Was darüber hinaus auf der Basis technomorpher Modellierung er- folgreich praktiziert wird, ist nach Hubig die Hybridisierung des menschlichen Körpers. Das ist kein neues Phänomen, denkt man etwa an Brillen oder an Prothesen klas - sischer Art. Diese weisen klare

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12. Dezember 2014 Schnittstellen zur Körperfunktion

auf, die disponibel für die Subjekte sind. Bei Neuroimplantaten, wie et- wa Cochlea-Implantaten, ist dies hingegen nicht mehr der Fall. Wer- den solche Systeme implantiert, be- deutet dies, dass sich die Zugangs- möglichkeiten für die Träger so-

wohl erkenntnismäßig (wir sehen die Schnittstellen nicht mehr) als auch in praktischer Hinsicht (sie sind nicht mehr disponibel) ändern.

Der Körper ist etwas, das laut Hubig als Gegenstand naturwissen- schaftlich-technisch-interventionis- tisch immer besser erschließbar ist.

„Leib“ hingegen bezeichnet im Un- terschied dazu ein sozial- und kul- turgeschichtlich individualisiertes Selbstverhältnis, das ein Körper zu sich einzunehmen vermag, indem er sich auf sich selbst bezieht.

OP-Roboter: Faszination ist ungebrochen

„Wir leben in einer technischen Zi- vilisation. Bewertungsparameter hier- für fehlen aber noch“, meinte Bet - tina-Johanna Krings vom Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse am Karlsruher Insti- tut für Technologie. Der traditionell im anthropologischen Kontext von Zweck-Mittel-Überlegung (kausale Überlegungen) entwickelte Tech- nikbegriff bleibe unzulänglich. Die- se These konkretisierte sie am Bei- spiel des Einsatzes von Roboter- technologie in der Medizin.

Hightech habe in der Medizin und speziell in der Chirurgie einen hohen Stellenwert. Das liege vor allem in

der langen Tradition von Maschinen- bildern in der Medizin begründet, führte Krings unter Berufung auf Stu- dien von Prof. Dr. Alexandra Manzei aus. Danach hat sich seit der Renais- sance das Körperbild, die Perspektive der Medizin auf den menschlichen Körper allmählich verändert und die

Assoziation des Körpers als Maschi- ne verstärkt: „Mit der Analogierung des Körpers als funktionierende Ma- schine entstand so auch die Vorstel- lung, dass der Körper in gleicher Wei- se repariert, verändert, gemessen, kontrolliert und in seinen Einzeltei- len ausgetauscht werden konnte“, er- läuterte Krings. Der Einsatz von Ro- botertechnologie basiere auf diesen Denkfiguren.

Ein Beispiel hierfür aus der jün- geren Vergangenheit, an dem damit verbundene Risiken sichtbar wer- den, ist Robodoc, ein OP-Roboter, der für Fräsarbeiten am Hüftkno- chen eingesetzt wurde. Hierzu prä- sentierte Dr. Catarina Caetano da Rosa, TU Darmstadt, eine histori- sche Studie, in der sie zeigt, wie sich der Analogieschluss, dass sich maschinelle Präzision auch im me- dizinischen Bereich bewähren wür- de, im Fall von Robodoc nicht be- wahrheitete (2). Robodoc wurde Anfang 2000 in Deutsch land einge- setzt. Es kam zu einer Reihe von Kunstfehlern. Die Ärzte hielten zu- nächst sehr lange an dieser Technik fest. Erst aufgrund einer Initiative von geschädigten Menschen setzte eine gesellschaftliche Diskussion ein, in deren Folge das System vom Markt genommen wurde.

Dennoch gibt es weiterhin Robo- ter in der Medizin als Weiterent- wicklung laparoskopischer Systeme, so etwa das „da Vinci“-System als Prototyp für eine assistive Roboter- technologie für Gehirn-, Knie- und Hüftoperationen, bei dem der Opera- teur an der Konsole arbeitet, räum- lich getrennt vom operierten Patien- ten und vom OP-Team. „Die Faszi- nation der technischen Präzision ist ungebrochen“, betonte Krings.

Neue Aspekte der Mensch- Maschine-Interaktion

Für Kliniken, die sich für die mit hohen Investitionskosten verbunde- ne Anschaffung eines solchen Sys- tems entscheiden, hat dies große Auswirkungen: Weil nur spezielle Eingriffe damit möglich sind, führt dies zur fachlichen Spezialisierung und zur Effizienzsteigerung. Die Arbeitsteilung nimmt weiter zu, gleichzeitig wandelt sich die Or- gansiation der Prozesse. So sitzt der Operateur an der Konsole und kann wesentlich effizienter arbeiten, was hohe Durchsatzraten ermöglicht.

Der Operateur verändert sein Profil, er muss spezifische Qualifikations- anforderungen erfüllen. Die räumli- che Trennung des Chirurgen vom Patienten und vom OP-Team führt auch zu neuen Kommunikationsfor- men: Der Chirurg kommuniziert per Headset, die atmosphärische Wahrnehmung allerdings fehlt.

„Neue Dimensionen der Mensch- Maschine-Interaktion werden in der Diskussion jedoch ausgeblendet“, meinte Krings. Letztlich aber hätten diese Rationalisierungen soziale Dy- namiken zur Folge, wie sie auch cha- rakteristisch für die Industrie seien.

Viele Fragen sind daher aus ihrer Sicht noch offen, etwa: Was bewir- ken Standardisierungsprozesse durch neue Technologien? Wie verändern sich die Arbeitsroutinen in Raum und Zeit, wie die Berufsbilder auch im Gesamtkontext der Medizin?

Heike E. Krüger-Brand

LITERATUR

1. Jean-Luc Nancy: Der Eindringling/L’Intrus.

Das fremde Herz. Malve Verlag 2000.

2. Catarina Caetano da Rosa: Operationsrobo- ter in Aktion. Kontroverse Innovationen in der Medizintechnik. transcript Verlag, Biele- feld 2013

Assistive Roboter- technologie: Verän- derungen der Ar- beitsorganisation und Arbeitsroutinen im OP sind die Folgen.

Foto: picture alliance

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