• Keine Ergebnisse gefunden

Heft 170

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Heft 170"

Copied!
19
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Heft 170

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. August-Wilhelm Scheer

Jazz-Improvisation und Management

März 2002

ISSN 1438 5678

(2)

I. Die Jazz-Band als Vorbild für ein modernes Managementteam

Das Wesen der Jazz-Musik ist die Improvisation. Ein Jazz-Solist erfindet aus dem Stegreif neue Melodien, die zu der vorgegebenen Struktur eines Themas passen. Er trifft damit in ex- trem kurzer Zeit irreversible Entscheidungen über die Höhe der Note, die er spielt, den Aus- druck, den er ihr verleiht, und über ihre rhythmische Einordnung. Gleichzeitig beeinflusst die gespielte Note sofort den weiteren Ablauf. Sein Spiel wird wiederum beeinflusst durch seine Mitspieler.

In einer guten Jazz-Band spielen Experten miteinander, die zeit- und ortsgleich in hohem Ma- ße kommunizieren. Jeder hört auf den anderen, insbesondere auf den Solisten, und geht auf dessen harmonische und melodische Weiterentwicklung seines Solos ein. Gleichzeitig erhält der Solist Anregungen durch die harmonischen und rhythmischen Figuren der Rhythmus- Gruppe (im allgemeinen Piano, Bass und Schlagzeug). So entsteht bei der Jazz-Improvisation eine hohe Intensität an Kommunikation zwischen den Beteiligten, die zu hoher Kreativität anregt.

Im Management ist der Begriff Improvisation dagegen eher negativ belegt. Die Formulierung

„wir müssen improvisieren“ bringt zum Ausdruck, dass nicht wie gewünscht planmäßig ge- handelt wird, sondern eben aus dem Stegreif. Nun setzt Planung aber voraus, dass das Umfeld des Plans stabil ist oder zumindest richtig eingeschätzt werden kann. In einem turbulenten Umfeld, in dem sich die Rahmenbedingungen schnell verändern, ist dagegen Planung prob- lematisch. Generell wird in der neueren betriebswirtschaftlichen Managementliteratur deshalb auch die Bedeutung der Planung eher reduziert. Es gibt zu viele Beispiele, wo gerade das Ge- genteil einer geplanten Aktion eingetreten ist und erfolgreich wurde. So plante das japanische Motorradunternehmen Honda den Markteintritt mit schweren Motorrädern in die USA (vgl.

Mintzberg 1999). Ein vorbereitendes Team wurde in die USA geschickt, aber mit geringem Budget ausgestattet, so dass es für die eigene Fortbewegung lediglich Leichtmotorräder mit- nahm. Da in den USA durch Marken wie Harley Davidson bereits ein erfolgreicher einheimi- scher Markt bestand, war es für Honda schwer, in das gleiche Marktsegment einzudringen.

Das Team merkte aber, dass Leichtmotorräder ein Erfolg sein könnten und hat die ursprüngli- che Strategie spontan verändert und Honda auf diesem Marktsegment zu einem Eintrittserfolg verholfen.

Die Entwicklung des ERP-Systems R/3 der Softwarefirma SAP AG war zunächst als eine Lösung für mittelständische Unternehmen auf der Plattform der IBM-Rechner vom Typ AS

(3)

400 geplant (vgl. Plattner/Scheer/Wendt/Morrow 2000). Aufgrund von Performance- Schwierigkeiten wurde dann die Systemarchitektur geändert und zum Schluss ein weltweit erfolgreiches System entwickelt, das vornehmlich von Großunternehmen eingesetzt wird und auf technischen Plattformen der Client-Server-Architektur mit neutralen Schnittstellen wie UNIX und SQL basiert.

Diese Beispiele zeigen, dass erfolgreiche Unternehmensführung nicht durch das sture Festhal- ten an einmal getroffenen Planungsentscheidungen begründet ist, sondern durch das wache Aufnehmen neuer Entwicklungen und das darauf gekonnte und schnelle Reagieren.

Es wird berichtet (vgl. Lewin 1998), dass der CEO des Lego-Unternehmens seinen Vorstand als Jazz-Band präsentieren ließ, um zu zeigen, dass diese das Bild eines modernen Führungs- teams repräsentiert: Die Art und Weise, wie in einer Jazz-Band Kreativität entsteht, ist somit ein Vorbild für modernes Managementverhalten.

Sowohl im Jazz als auch im modernen Management dominiert der Teamgedanke. Die Zu- sammensetzung des Teams durch möglichst weit gefächerte Kernkompetenzen und das Nut- zen von Synergien zwischen den Kompetenzen durch hohe Kommunikation sind der Schlüs- sel zum Erfolg.

Die Beziehungen zwischen Jazz-Improvisation und Management werden zunehmend auch wissenschaftlich bearbeitet. In der Sonderausgabe der Zeitschrift Organization Science (Vol.

9, No. 5, Sept./Oct. 1998) sind viele interessante Beispiele und Erkenntnisse erarbeitet wor- den. An ihnen haben Jazz-Musiker und Organisationswissenschaftler mitgewirkt. Einige Bei- spiele in diesem Artikel sind ihr entnommen.

II. Am Rande des Chaos

In der modernen Organisationstheorie werden Ansätze verfolgt, die der Dynamik innerhalb von Unternehmen und auf den Märkten Rechnung tragen und starre Organisationsprinzipien überwinden. Mit dem Konzept sogenannter emergenter Prozesse wird dieser Ansatz konkreti- siert. Emergente Prozesse, die als sich selbst entwickelnde Prozesse bezeichnet werden kön- nen, werden durch Ideen von Mitarbeitern, ohne dass diese unbedingt mit diesen Aufgaben betraut sind, angetrieben. Sie entspringen nicht einer festgelegten Strategie, sondern ergeben sich situativ spontan. Strategische Entwicklungen werden deshalb eher rückwärts als folge- richtig interpretierbar angesehen, als dass man sie im voraus planen kann.

Eine Jazz-Band ist Quelle ständiger emergenter Prozesse. In Abbildung 1 (vgl. Tomenendal 2002 und Scholz 2000) ist in einfacher Form dargestellt, wie Konnektivität (auch als Kom- munikation und Interaktion zu interpretieren) sowie die Regelungsintensität einer Organisati-

(4)

on die Möglichkeiten für flexibles, kreatives Verhalten bestimmen. Bestehen in einer Organi- sation sehr viele Regeln, so sind alle Arbeitsabläufe festgelegt. Wird gleichzeitig wenig zwi- schen den Organisationsteilnehmern kommuniziert, so dass keine informelle Organisation an den Regeln vorbei entstehen kann, so erstarrt die Organisation. Sie ist nicht fähig, auf uner- wartete Situationen schnell zu reagieren (unteres linkes Feld in der Abbildung 1). Bestehen dagegen keinerlei Regeln, so dass bei einer hohen Interaktion quasi „alle durcheinander re- den“ ohne zu einem Ergebnis zu kommen, herrscht das Chaos (oberes rechtes Feld in der Ab- bildung). Der eingezeichnete Balken repräsentiert einen Korridor des Gleichgewichts zwi- schen geringer Regelung und hoher Kommunikation, bei der eine Organisation besonders in der Lage ist, flexibel und kreativ zu reagieren. Der Bereich II kennzeichnet eine stabilere Or- ganisation, die noch nicht erstarrt ist, aber doch nicht die Spontanität und Flexibilität aufweist, wie der eingezeichnete Balken.

Der Rand des Chaos wird systemindividuell bei tendenziell hoher Konnektivität und niedriger Regelungsintensität erreicht

Regelungs- intensität Konnektivität

Balance zwischen Flexibilität und Stabilität

III.

II.

I.

IV. Rand des

Chao

Quelle: Nach Tomenendal niedrig

hoch

niedrig hoch

Der Rand des Chaos wird systemindividuell bei tendenziell hoher Konnektivität und niedriger Regelungsintensität erreicht

Regelungs- intensität Konnektivität

Balance zwischen Flexibilität und Stabilität

III.

II.

I.

IV. Rand des

Chao III.

II.

I.

IV. Rand des

Chaos

Quelle:

niedrig hoch

niedrig hoch

niedrig

hoch niedrig

hoch

Abb. 1: Ausgleich von Flexibilität und Stabilität

Eine hohe Konnektivität der Gruppenmitglieder wirkt deshalb tendenziell positiv, weil die einzelnen Mitglieder relativ auseinandergezogene Kernkompetenzen aufweisen.

Bei einer Jazz-Band sind die einzelnen Musiker Spezialisten auf ihren unterschiedlichen In- strumenten. Ein plötzliches Vertauschen der Instrumente unter den Musikern würde nicht funktionieren. Obwohl jeder Musiker nur wenig von den Instrumenten der anderen versteht, können sie gemeinsam interessante Ergebnisse erzeugen. Hierzu ist aber die enge Kommuni- kation erforderlich, um jedes Instrument in das Gesamtwerk einzubringen. In gleicher Weise

(5)

funktioniert auch eine Managementgruppe. In einem Vorstand sind Spezialisten für rechtliche Fragen, technische Fragestellungen, Personalführung, Produktion und kaufmännische Tätig- keiten vorhanden. Ein zu lösendes Problem erfordert in der Regel mehrere dieser Kompeten- zen, die dann von der Gruppe in den Lösungsprozess eingebracht werden müssen. Dies geht wiederum nur durch eine enge kooperative Zusammenarbeit. Tendenziell wird der Korridor deshalb durch geringe Regelung und hohe Konnektivität erreicht.

Die Synergien der unterschiedlichen Kernkompetenzen der Musiker können sich nur dann entfalten, wenn sie zur gleichen Zeit und am gleichen Ort aufeinander treffen. Würde jeder Musiker für sich in seinem Musizierstübchen üben, ohne Kontakt zu den anderen, wäre eine Gemeinschaftsleistung nicht gegeben. Der gleiche Effekt gilt auch bei dem Zusammenbringen verschiedener Kernkompetenzen eines Managementteams. Eine Unternehmensstrategie zu entwickeln, indem jeder Vorstand für seinen Bereich ein Konzept entwickelt und es den ande- ren zur Verfügung stellt, ist noch lange keine gemeinsame Unternehmensstrategie. Nur dann, wenn das Strategieteam zu einer Strategiesitzung zusammenkommt, die Argumente aufeinan- dertreffen, auch emotionale und erhitzte Diskussionen bis hin zu Streitgesprächen entstehen, ist die Atmosphäre am Rande des Chaos gegeben, um zu wirklich neuen Ideen vorzudringen.

Eine Strategiesitzung sollte deshalb auch nicht durch zu detaillierte Tagesordnungen mit fest- geschriebenen Redezeiten bestimmt sein, sondern Freiräume enthalten, die durch ausweitende Diskussionen genutzt werden können. Natürlich müssen anschließend die Ergebnisse in greif- barer Form zusammengefasst werden.

Die in dem Korridor gestellten Forderungen werden in idealer Weise von einer Jazz-Band erfüllt. Die Koordination bzw. der Regelbedarf innerhalb einer Jazz-Band ist relativ gering.

Die wichtigsten Regeln werden durch das Thema des zu spielenden Stücks festgelegt. Es ent- hält den taktmäßigen Aufbau, der z. B. bei einem Blues 12 Takte oder bei einem typischen Song 32 Takte umfasst. In Abbildung 2 ist das Thema des bekannten Stückes „A Night In Tunisia“ von Dizzy Gillespie angegeben, das nach dem 32-taktigen Aufbau AABA kompo- niert worden ist. Die A-Teile umfassen 8 Takte mit einem bestimmten Harmonieaufbau und der B-Teil, der sogenannte Mittelteil, ebenso. Die Harmonien des Stückes sind ebenfalls in Abbildung 2 angegeben. Ein guter Jazz-Improvisator kennt die Harmoniefolgen der sogenannten Standardthemen, also Themen, die von Jazz-Musikern häufig gespielt werden, auswendig. Bei der Improvisation folgt der Solist nun dem Schema des Stückaufbaus und kann innerhalb der Harmoniefolgen neue Melodien im Stegreif erfinden.

Man kann deshalb sagen, dass eine Jazz-Band mit geringen Regelungen höchste kreative Leistungen erzeugt.

(6)

Abb. 2: A Night In Tunisia, Dizzy Gillespie

Es bestehen Gefahren aus dem Korridor auszubrechen und deswegen an Kreativität zu verlie- ren. Bei der Entwicklung des Freejazz wurde die Koordination durch eine vorgegebene Song- struktur als zu stark reglementierend empfunden, so dass die Gruppe quasi ohne vorgegebene Struktur improvisierte. Da dies auch von allen Musikern gleichzeitig getan wurde, ergab sich zum Teil eine überhöhte Interaktion. Für viele Hörer war man deshalb im Chaos gelandet. Die Musik war schwer zu verstehen. Verstehen bedeutet, dass man die Struktur erkennt, nach der sich das musikalische Geschehen abspielt. Da eine feste Struktur aber gerade nicht gewollt war, ist auch ihr Verstehen nur schwer möglich. Die hohe Kommunikation zwischen den Teilnehmern und das „aufeinander eingespielt sein“ des Teams erzeugten aber dann doch wie- derum Ähnlichkeiten durch sich wiederholende Klangfarben und Collagen. Trotzdem war diese Musikrichtung nicht dauerhaft und hat wieder in eine strukturiertere Form zurückgefun- den. Bildlich gesprochen hat man den oberen rechten Bereich der Abbildung 1 verlassen und sich wieder in den Korridor am Rand des Chaos begeben.

Das Verlassen des Korridors nach unten bedeutet, dass sich immer mehr und mehr Regeln einschleichen oder bei gleicher Regelung die Kommunikation nachlässt. Diese Gefahr ist z. B.

gegeben, wenn eine Jazz-Gruppe sehr lange zusammen ist und man sich quasi in- und aus- wendig kennt. Es finden dann kaum noch unerwartete Ausbrüche aus dem bereits Bekannten

(7)

statt. Selbst eine so fantastische Gruppe wie das Oskar Peterson Trio hatte nach einiger Zeit ihren erfolgreichen Stil gefunden und sich dann quasi nur noch selbst kopiert. Eine Aufnahme aus dem Jahr 1985 unterscheidet sich nicht grundlegend von einer Aufnahme aus dem Jahr 1975. Dagegen hat der Jazz-Musiker Miles Davis mehrfach stilbildend gewirkt. Mitte der vierziger Jahre entwickelte er mit Charlie Parker und anderen den Bebop, Ende der vierziger Jahre durch die berühmte Aufnahme „Birth of the cool“ den Cooljazz, dann 1959 mit der Auf- nahme „Kind of Blue“ den modalen Jazz und später mit Musikern wie Herby Hancock und Chick Corea den Rockjazz.

Um zu verhindern, dass eine Gruppe in der Wiederholung von Klischees erstarrt, muss man sie mit neuen Situationen konfrontieren, bei denen das „Eingeübte“ nicht angewendet werden kann. Von Miles Davis wird berichtet, dass er seinen Musikern quasi verboten hat, außerhalb der Konzerte zu üben; er würde sie schließlich dafür bezahlen, dass sie auf der Bühne „üben“.

Sie sollten eben nicht eingeübte Figuren während des Konzertes abspulen, sondern kreativ sein und auch Mut zu Neuem zeigen. John Coltrane hat seine Musiker mit völlig neuen Har- moniefolgen überrascht, bei denen sie auch ihre bereits in Fleisch und Blut übergegangenen Phrasen nicht verwenden konnten. Bekannt ist die Anekdote, dass der Pianist Tommy Flanni- gan von John Coltrane mit den Harmonien des Kultstückes „Giant Steps“ konfrontiert wurde und während der Plattenaufnahme große Schwierigkeiten hatte, sie zu verarbeiten. Trotzdem ist die Aufnahme veröffentlicht worden und gilt als einer der Meilensteine im Jazz. Auch die Miles Davis-Aufnahme „Kind of Blue“ ist ein solches Beispiel (vgl. Kahn 2001).

Miles Davis hatte zur Aufnahme lediglich geringe Skizzen der zu spielenden Stücke mitge- bracht. Die Musiker wurden somit mit neuartigen harmonischen Strukturen und Themen kon- frontiert und mussten sich im Höchstmaß konzentrieren. Diese Intensität war eine Quelle höchster Inspiration.

Auch bei einem Managementteam, das in dem Korridor am Rande des Chaos operiert, beste- hen Gefahren zum Verlassen des gewünschten Gleichgewichts. Völlig regelloses Verhalten, bei dem niemand einen gemeinsamen Koordinationsbedarf akzeptiert, führt zu widerspre- chenden Entscheidungen und Aktionen, also zum Chaos. Die Anwendung von Stereotypen (man weiß ja schon, was der Andere sagen wird, also hört man ihm kaum noch zu) birgt die Gefahr zur Erstarrung. Hier können in dem Team durch die Konfrontation mit ungewöhnli- chen Situationen ebenfalls neue Impulse erzeugt werden. Von British Airways wird berichtet (vgl. Lewin 1998), dass bei einem Managementseminar die Hotelbetten ausgeräumt wurden und alle Teilnehmer in Flugzeugsitzen übernachten mussten. Diese Situation hat sicher zu intensivsten Überlegungen zur Verbesserung des Sitzkomforts angeregt. Auch ist vorstellbar,

(8)

dass das Management von Softwareunternehmen gezwungen wird, in einem Strategieseminar seine eigene Software anzuwenden.

Das Gleichgewicht zwischen Flexibilität und Starrheit zu erhalten, ist somit ein ständiger Kampf.

III. Gefühl für Zeit

Jazz-Musik lebt vom Swinggefühl. Duke Ellington hat dies mit dem Musiktitel „It don’t mean a thing when it ain’t got that Swing“ auf den Punkt gebracht. Swing ist schwer zu beschrei- ben. Es ist ein rhythmisches Spannungsgefühl, das während des Spielens nicht aufgelöst wird.

Es gibt inzwischen wissenschaftliche Abhandlungen, die es durch einen Konflikt zwischen einer Dreier- und Vierermetrik zu erklären versuchen. Alle Erklärungsversuche sind aber bis- her unbefriedigend. Es bleibt dabei: Man spürt es oder man spürt es nicht. Während andere Spannungen in der Musik, z. B. Dissonanzen, sofort aufgelöst werden durch Konsonanzen, wird das Swinggefühl während des gesamten Musikstücks aufrechterhalten. Es ist damit auch eine Quelle für die Inspiration des Jazz-Solisten. Bei einem hohen Maß an Übereinstimmung, wenn sozusagen die Zeitgefühle der Musiker miteinander verschmelzen, kann dies zu uner- warteten eruptiven Höchstleistungen führen. Ein Beispiel dafür ist der Auftritt der Ellington Bigband 1956 auf dem Newport Jazz-Festival bei New York. In dem Stück „Diminuendo and Crescendo in Blue“ ergab sich eine solche unwiederholbare Situation an Spannung und Dich- te, die den Tenor-Saxofonisten Paul Consalves zu einem 28 Chorusse langen Solo inspirierte.

Dies war völlig ungeplant. Wie mir der damalige Bassist der Ellington Band Jimmy Woodie einmal erzählte, war die Band per Bus am Tag zuvor aus Florida angereist und hatte dort das Stück nach mehreren Jahren zum ersten Mal wieder gespielt. Der berühmte Schlagzeuger Joe Jones von der Count Basie Bigband war bei dem Newport-Konzert anwesend und stand neben der Band. Er hatte eine Zeitung in der Hand und schlug den Takt mit der Zeitung in seiner Hand mit. Insgesamt ergab sich eine so dichte und ekstatische Atmosphäre, die den Solisten zu immer neuen Ideen anregte.

Eine Gruppe in Spannung zu halten und sie ständig zu neuen Ideen zu inspirieren, sie quasi zum Swingen zu bringen, ist die Kunst eines Topmanagers. Die emotionale Übereinstimmung der Gruppenmitglieder kann wichtiger sein als intellektuelle Einzelleistungen. Dazu müssen auch Gelegenheiten geschaffen werden. Das Ausbrechen aus der Tageshektik zu einem ge- meinsamen Wochenendseminar in ungewohnter Umgebung und lockerer Atmosphäre kann

(9)

hier hilfreich sein. Moderatoren und Antreiber (wie Joe Jones beim Newport-Festival) können kreative Prozesse verstärken.

Das Zeitgefühl spielt im Jazz in mehrfacher Hinsicht eine große Rolle. Jeder, der ein Musik- instrument erlernt hat, weiß, dass es lange Zeit braucht, um es richtig zu beherrschen. Die Anekdote (vgl. Lewin 1998) von der Mutter, die als Fan der eleganten Klarinettenmusik von Benny Goodman ihrem Sohn eine Klarinette kaufte und dann erwartete, dass ab dem nächsten Tag das Haus von melodiöser Klarinettenmusik erfüllt sei, ist ein gutes Beispiel. Der Sohn fand sich nämlich nach wenigen Tagen in der Garage wieder, wo er im Auto üben musste und das bei geschlossenen Fensterscheiben. Virtuosität benötigt Zeit. Diesen Satz müssen sich auch Manager hinter die Ohren schreiben. Häufig erwarten sie bei einer Umorganisation, dass die Erfolge bereits am nächsten Tag zu spüren sind. Die zeitdauernden Lernprozesse einer neuen Organisation werden ignoriert.

Auch Innovation fällt nicht vom Himmel. Bei der Entwicklung unseres Softwareproduktes ARIS haben wir mehrere Jahre Vorlaufforschung an meinem Forschungsinstitut betrieben, auf der wir aufbauen konnten. Dagegen sind in den letzten Jahren viele Dotcom-Unternehmen, die glaubten, eine schon vorhandene Idee aus den USA schnell nach Deutschland übertragen und darauf ein erfolgreiches Unternehmen gründen zu können, kläglich gescheitert.

Alle großen Jazz-Musiker haben fanatisch geübt. Von dem Saxofonisten John Coltrane wird berichtet, dass er bei langen Soli seines Schlagzeugers von der Bühne verschwand, um in sei- ner Garderobe weiterzuüben. Auch Charlie Parker hat bis zur Besessenheit Themen in allen Tonarten geübt und darüber improvisiert. Selbst die höchste Begabung nützt nichts, wenn nicht dieser Fleiß zur Beherrschung der handwerklichen Fähigkeiten vorhanden ist.

Man kann nicht immer nur von sich geben, man muss auch für neuen Input sorgen. Musiker wie Miles Davis und Sonny Rollins haben lange Pausen in ihren Karrieren gehabt, in denen sie nicht gespielt haben. Miles Davis hatte sich für mehrere Jahre ins Haus zurückgezogen (vgl. Davis 2000), um dort völlig in sich gekehrt zu leben (es war allerdings auch eine dunkle Seite dabei, die durch Drogen und sexuelle Eskapaden bestimmt war). Sonny Rollins ist aus- gestiegen, um intensiv für sich neue Musikwelten zu entdecken. Hierbei hat er für sich allein auf der Williamsburgbrücke in New York gegen den Wind gespielt, um seine Tonbildung weiter zu perfektionieren (vgl. Wilson 1991).

Dem Pianisten Thelonious Monk wurde Anfang der 50er-Jahre die Auftrittslizenz für New York auf Grund eines Missverständnisses entzogen. Diesen ungewollten Auftrittsentzug nutz- te er für Kompositionstätigkeiten.

(10)

Auch für Manager gilt, dass ihr Vorrat an Kreativität und Dynamik nicht unendlich ist. Auch sie müssen in Form eines „Sabbatical“ ihre Kenntnisse auffrischen und erweitern, um daraus zu neuer Motivation und Schaffenskraft zu gelangen.

Das durch den Swing ausgelöste Spannungsgefühl des Solisten wird durch weitere Faktoren verstärkt. Beispielsweise besitzen viele Musikstücke einen sogenannten Einstiegsbreak, d. h.

die letzten Takte eines Themas sind von der Melodie freigelassen und der Solist kann frei den Einstieg in sein Solo gestalten. Am bekanntesten ist hierfür das bereits oben angeführte Stück

„A Night In Tunisia“ (siehe Abb. 2). Hier wird nach dem Melodieteil und vor der Improvisa- tion ein Interlude (Zwischenspiel) eingeschaltet, das eine gleiche rhythmische Figur melo- disch etwas variierend siebenmal wiederholt und dann mit zwei Achteln den Solisten in einen viertaktigen Einstiegsbreak entlässt. Der Solist ist dann vier Takte ohne Begleitung und muss im fünften Takt auf der „Eins“ mit der dann wieder einsetzenden Rhythmusgruppe zusam- mentreffen. Diese vier Takte können zu einer Ewigkeit werden. Durch die rhythmischen Phrasen angefeuert, hebt er mit den zwei letzten Achteln sozusagen vom Schanzentisch ab und muss nun einen Skiflug absolvieren, um genau im fünften Takt sicher zu landen. Wäh- rend dieser vier Takte kann aber sein individuelles Zeitgefühl anders schlagen als der weiter- laufende Rhythmus. Hier eine Übereinstimmung zu finden, also den Rhythmus, wie er vorher bestand und vom Schlagzeuger bei seinem Einsatz fortgesetzt wird, in Übereinstimmung mit seinem eigenen Rhythmusgefühl zu bringen, ist nicht einfach. Der Solist muss die vier Takte ausfüllen und ist damit beschäftigt, Ideen zu entwickeln und sich auf die zielgenaue Landung vorzubereiten, d. h. es spielen sich in ihm viele Prozesse gleichzeitig ab, die ihn von dem wei- terlaufenden Rhythmus entfernen können.

Auch Manager kennen dieses Gefühl. Wenn ein Unternehmen in eine Krise gerät, läuft die Uhr anders. Die Manager möchten schnell wirksame Entscheidungen treffen, befinden sich in einer extremen Ausnahmesituation und meinen häufig, dass ihre Umwelt in dem gleichen Takt schwingen würde. Dies ist aber nicht der Fall. Die Umwelt läuft im alten Rhythmus wei- ter und interessiert sich nicht für die Ausnahmesituation des Unternehmens. Ein Krisenmana- ger möchte schnell Antwort auf eine Anfrage erhalten, um darauf neue Entscheidungen auf- bauen zu können. Ihm läuft die Zeit davon, wenn die Liquidität in Gefahr ist. Alles das lässt das Umfeld unberührt. Auch hier kommt es also darauf an, dass Manager in Stresssituationen die Ruhe bewahren und sich mit dem zeitlichen Ablauf ihrer Umwelt synchronisieren, um nicht weiteren Schaden anzurichten. Das ständige Bedrängen eines Partners für eine schnelle Antwort oder Entscheidung kann Gegenwehr hervorrufen. Zu hastiges Reagieren kann Ent-

(11)

wicklungen überinterpretieren. Die Synchronisation der inneren Uhr mit der Uhr der Umwelt ist also ein wichtiger Faktor.

IV. Kreativität in der Improvisation

Improvisieren heißt nicht wahlloses Herumfaseln, sondern spontan sinnvolle Melodien erfin- den; der Solist muss eine musikalische Story erzählen. Diese beruht natürlich auf einer Sammlung von gelernten und geübten Bausteinen. Wie ein Redner, der eine spontane Rede hält, über ein Vokabular verfügen und rhetorische Techniken beherrschen muss, gilt dies auch für einen Jazz-Musiker. Er muss ein umfangreiches theoretisches Wissen über Jazz-Harmonik besitzen, die Melodien vieler Standardstücke auswendig spielen können (häufig in mehreren Tonarten) und auch ihre Harmoniefolgen kennen. Darüber hinaus kann er auch Melodiephra- sen, sogenannte Pattern üben, die für bestimmte Akkordverbindungen passen. Dies alles sind aber nur die Vokabeln, die spontan zu neuen inhaltsreichen Sätzen zusammengefügt werden müssen. Ein Chorus muss dabei so gestaltet werden, dass der Zuhörer den Sinn des Solos er- fasst. Werden lediglich technische Finessen etüdenhaft hintereinander geschaltet, so führt das zu einer Beliebigkeit. Es ist dann egal, ob der vierte Chorus nach dem dritten gespielt wird oder auch vor dem dritten hätte gespielt werden können. Ein Hörer würde keinen unterschied- lichen Aufbau des Solos erkennen.

Bei perfekten Soli, wie sie z. B. von Chet Baker, Gerry Mulligan oder aber auch von Miles Davis gespielt worden sind, ist dies dagegen nicht der Fall: Jeder Chorus baut aufeinander auf und jede Note hat ihren Sinn.

Die hohe Anzahl von Noten pro Sekunde ist noch kein Maß für hohen künstlerischen Wert eines Jazz-Solos. Gerade die aufgeführten Musiker, wie Chet Baker, Miles Davis und auch Gerry Mulligan, beeindrucken durch sparsame melodische Führung.

Solche Regeln sollten auch von Managern bei Vorträgen oder Präsentationen befolgt werden.

Häufig ist weniger mehr. Nicht eine Folienschlacht, bei der in kurzer Zeit zig Folien über den Overheadprojektor gezogen werden oder im Beamer durchrauschen, beeindruckt, sondern klare Aussagen, die folgerichtig aufeinander aufbauen. Je höher jemand einen Managerrang besitzt, desto weniger Folien sollte er benutzen und mehr auf das Charisma seiner Persönlich- keit vertrauen.

Obwohl bei einer Improvisation intellektuelle Anstrengungen erforderlich sind, z. B. bei der Verfolgung der harmonischen Entwicklung eines Stückes, ist die Emotionalität sehr stark be- teiligt. Als dritte Komponente kommt die Motorik hinzu, die bei Pianisten oder Saxofonspie-

(12)

lern durch eine besonders ausgebildete Fingerfertigkeit vorhanden sein muss. Diese drei Komponenten: Intellekt, Emotion und Motorik zu koordinieren, erfordert eine hohe Anstren- gung. Die emotionale Seite ist sicher besonders herauszustellen. Die Anregungen und das Spannungsgefühl, die durch den Rhythmus und den Swing erzeugt werden, verhelfen dem Solisten dazu, aus dem vorhandenen Baukasten an Wörtern in Blitzesschnelle sinnvolle Sätze zusammenzustellen. Vieles davon geschieht unbewusst, d. h. der Solist versenkt sich in das rhythmische und melodische Gefühl des Stückes und lässt sich von seinem Inneren treiben.

Häufig ist er sogar erstaunt, wenn er eine aufgezeichnete Aufnahme seines Solos hört. Es ist ungefähr so wie bei einem Tausendfüßler: Ihm ist nicht bewusst, welches schwierige Koordi- nationsproblem er beim Gehen zu bewältigen hat, trotzdem funktioniert es. Wäre ihm das Koordinationsproblem bewusst, könnte er straucheln.

Zu viel intellektuelle Kontrolle während des Solos kann schaden. Der Solist klebt zu stark an eingeübten Pattern und die eigentliche Freisetzung spontaner und unerwarteter Ideen fehlt.

Auch erfolgreiche Unternehmer handeln häufig „aus dem Bauch“. Wahrscheinlich sind In- stinkt und Angstgefühle für ein erfolgreiches Unternehmertum unabdingbar. Natürlich ist ein Bauchgefühl nicht nur angeboren, sondern auch Ergebnis vielfältiger Erfahrungen, die sich dann zu Verhaltensmustern verdichtet haben und bei entsprechenden Ereignissen spontan abgerufen werden können. Gerade bei Entscheidungen mit hohem Risiko, Personalgesprächen und beim Eingehen von Partnerschaften mit anderen Unternehmen entscheidet häufig das Bauchgefühl.

Schnell zu reagieren und blitzschnell interessante Aussagen zu finden hat häufig etwas mit Humor und Witz zu tun. Es sollen eben keine langatmigen Geschichten erzählt werden, son- dern kurze Storys mit Pointen. Viele Jazz-Musiker besitzen einen Sinn für Witz und Humor.

Die Anzahl von Musikerwitzen belegt dies. Der kürzeste lautet:

Drei Jazz-Musiker gehen an einer Kneipe vorbei ....

Ein weiterer bringt die schwierigen wirtschaftlichen Umstände von Jazz-Musikern auf den Punkt:

Frage: Wie wird man als Jazz-Musiker Millionär?

Antwort: Indem man als Milliardär beginnt.

In den Vorstandsetagen ist normalerweise Humor und Witz nicht sonderlich verbreitet. Die Business-Kleidung verbreitet eher eine steife Atmosphäre. Hier könnte ein Schuss Esprit und Pointenorientierung häufig aufgesetztes Verhalten menschlicher und kommunikativer gestal- ten.

(13)

V. Jazz als Lernprozess

Jazz ist eine Musik, die von dem ständigen Lernen der Musiker lebt. Jeder hört aufeinander, jeder ist mal Solist, mal Begleiter. Da ständig überraschende Situationen entstehen, sind Missverständnisse und auch Fehler möglich. Jazz ist deshalb keine vollkommene Musik, son- dern es überwiegt die Kreativität. Um neue Dinge auszuprobieren, darf man nicht ängstlich vor Fehlern sein. Fehler gehören zum Lernprozess; nur wer nichts Neues versucht, macht kei- ne Fehler.

Diese Erkenntnis gilt natürlich auch im Management. Nicht jede Idee für ein neues Produkt ist erfolgreich. Die Einstellung einer Produktentwicklung ist kein Misserfolg, sondern zeigt le- diglich, dass während der Produktentwicklung neue Erkenntnisse aufgetreten sind, welche die ursprünglichen Annahmen korrigieren. Der Mut, neue Märkte oder neue Produktideen aufzu- nehmen, muss positiv betrachtet werden. Selbstverständlich gilt es, jede Idee kritisch zu hin- terfragen, aber sie darf auch nicht von vornherein durch zu kritische Argumente getötet wer- den.

Im Jazz haben sich in den ersten hundert Jahren seines Bestehens die Stilrichtungen in kurzer Zeit abgelöst. Bei dem Musiker Miles Davis wurde bereits darauf hingewiesen, dass er vier- mal im Leben stilbildend an neuen Musikrichtungen beteiligt war.

In einer Welle führend zu sein, ist nur dann ausreichend für eine längere Karriere, wenn dieser Stil zeitlich stabil ist. Jeder neuen Welle lediglich nachzulaufen, genügt nicht, da sich dann bereits andere Künstler, die die Welle kreiert haben, etabliert haben.

In der Hightech-Welt ist die Fähigkeit, sich neuen Technologiewellen zu öffnen und mitzu- gestalten, Voraussetzung für ein längerfristiges Überleben der Unternehmen. Unternehmen, die lediglich in einer Technologiewelle führend waren und dann die nächste verschlafen ha- ben, sind trotz hoher Erfolge wieder vom Markt verschwunden. Dem Softwarehaus SAP AG ist es dagegen gelungen, durch ihre Produkte R/1, R/2, R/3 und mySAP.com in vier Techno- logiewellen mit führend zu sein. Ein Unternehmen wie Digital Equipment, einst zweitgrößter Hardwarehersteller der Welt, hatte zwar die Welle von vernetzten Kleincomputern angeführt, dann aber die Welle von standardisierten Betriebssystemen, Datenbanksystemen und Netz- werken übersehen und wurde später von dem Unternehmen Compaq aufgekauft.

(14)

VI. Wettbewerb und Kreativität

Der zwischen Jazz-Musikern bestehende sportliche Wettbewerb ist ein weiterer treibender Faktor für Engagement und Inspiration in der Musik. Zum Teil wird der Wettbewerb regel- recht in einer Band installiert. Bei Count Basie waren z. B. jeweils Vertreter unterschiedlicher Stilrichtungen bei den Tenor-Saxofonisten engagiert, die sich bei den Soli intensive „Schlach- ten“ (Tenor-Battles) lieferten, wer der beste, d. h. einfallsreichste und ausdrucksstärkste Mu- siker sei. Schüler des Tenor-Saxofonisten Colman Hawkins vertraten die sonore, vibratorei- che Spielweise, während Lester Young selbst und seine Schüler eher die zurückhaltende Spielweise bevorzugten. Am Anfang waren so Hershel Evans und Lester Young die installier- ten Kombattanten, später Frank Foster und Frank Wess. Auch in dem berühmten Miles Davis- Sextett waren mit Cannonball Adderley, einer dem Blues verbundenen Saxofonspieler, und John Coltrane mit seiner moderneren Spielweise zwei Gegenpole engagiert.

In Jam Sessions können sich die Musiker gegenseitig anheizen und so zu wahren Höhenflü- gen inspirieren. Auch in dem Spielen sogenannter „Vierer“, d. h. es werden abwechselnd je- weils vier Takte eines Chorus gespielt, versuchen die Musiker sich gegenseitig zu übertrump- fen. In den Konzerttourneen des Impresarius Norman Grantz „Jazz at the philharmonic“

(JATP) wurden die Musiker so zusammengestellt, dass gerade die Battles herausragende Hö- hepunkte dieser Konzerte waren. Dieser Wettbewerb ist nicht zerstörerisch, sondern dient jeweils zur gegenseitigen Inspiration: Es werden dabei auch Ideen des anderen aufgenommen und bei der eigenen Improvisation eingebunden, so dass eine hohe Kommunikation besteht.

Auch in einem Managementteam muss nicht immer wohlgefällige Harmonie herrschen, son- dern auch hier kann Wettbewerb die Leistung des Teams steigern. Er darf aber nicht zerstöre- risch sein, indem ein Einzelner sich auf Kosten der anderen Teammitglieder übermäßig profi- lieren will. Konzeptionelle Meinungsverschiedenheiten und unterschiedliche Temperamente können dagegen die Kreativität für neue Strategien fördern. Treiber und Bewahrer in einem Team können zu riskante Manöver abmildern und gleichzeitig die Gefahr zum Erstarren ver- hindern.

VII. Das Richtige liegt neben dem Falschen

In einer Improvisation kann es vorkommen, dass ein falschklingender Ton gespielt wird. Ein falscher Ton heißt, dass der Ton in dem augenblicklichen harmonischen Zusammenhang nicht wohlgefällig klingt. Nun gilt die Regel, dass die nächstliegenden Töne, also die jeweils um

(15)

einen Halbton erhöhten oder erniedrigten Töne, bei dem harmonischen Zusammenhang als

„richtig“ klingend empfunden werden. Wenn es dem Spieler also gelingt, sobald er den „fal- schen“ Ton hört, sofort den daneben liegenden Ton zu spielen, dann fällt das einem Zuhörer kaum auf, da der falsche Ton zu einem Durchgangston reduziert wird und die Betonung auf den wohlklingenden Ton gelegt wird.

Auch bei den oben angeführten Beispielen der USA-Markteinführung des Unternehmens Honda und der R/3-Entwicklung des Softwarehauses SAP AG lag die richtige Strategie direkt neben der „falschen“.

Wenn das Hondateam sich aus den USA zurückgezogen hätte, nachdem der ursprüngliche Plan, schwere Motorräder auf dem Markt einzuführen, misslungen war, wäre der anschlie- ßende Markterfolg mit Leichtmotorrädern ausgeblieben. Es war richtig, dass das Unterneh- men die USA als Auslandsmarkt erkannt hatte, nur das Produkt lag einen „Halbton“ neben dem zunächst geplanten.

Auch das R/3-Entwicklungsteam hätte sich zurückziehen können, nachdem die ursprünglich geplante Lösung technisch nicht umsetzbar war. Aber auch hier lag die richtige Lösung direkt neben der falschen. Es war richtig, eine neue Software für dezentrale Rechnersysteme zu ent- wickeln, nur war die proprietäre AS 400-Plattform falsch und die danebenliegende Lösung mit UNIX-Betriebssystem und weiteren neutralen Standards war die richtige Wahl.

Diese Erkenntnisse besagen, dass ein vermeintlicher Misserfolg noch lange nicht endgültig sein muss, sondern sehr genau auf seine Ursachen analysiert werden sollte und danebenlie- gende Varianten sorgfältig geprüft werden müssen, um unter ihnen die Perle in der Muschel zu finden.

Übrigens gibt es noch eine andere Möglichkeit, beim Spielen eines falschen Tones zu reagie- ren, indem man ihn extra betont und absichtlich lange aushält oder sogar mehrfach wieder- holt. Da es ja eigentlich keine falschen Töne gibt, sondern nur in einem harmonischen Zu- sammenhang ein ungewöhnlicher Höreffekt auftritt, kann man ihn als beabsichtigt interpretie- ren. Harmonische Reibung ist in der Musik durchaus üblich, da sie anschließend durch eine gefälliger klingende Harmonie aufgelöst werden kann. Also einen reibungsvollen Ton extra zu betonen, um ihn dann anschließend aufzulösen, ist ein zulässiges Stilmittel. Dieses Vorge- hen erinnert etwas an den zynischen und damit möglichst nicht zu befolgenden Satz: Frech gelogen und fest darauf bestanden, ist so gut wie die Wahrheit gesagt.

(16)

VIII. Relaunch alter Produkte

Ein Song, der als Vorlage zur Improvisation dient, besteht aus einer Taktstruktur, dem har- monischen Aufbau und der Melodie. Die Variationen von Taktstrukturen sind im Jazz relativ begrenzt. Meist dominiert der 32-taktige Aufbau mit den jeweils acht Taktpaketen in der Form AABA. Bei den Harmoniefolgen eignen sich einige besonders gut zum Improvisieren.

Damit sich die zugehörenden Melodien nicht verschleißen, werden häufig neue Melodien zu den Harmonien komponiert. Am bekanntesten ist die Bluesform, über die unzählige Melodien komponiert worden sind, dann folgen aber die sogenannten Rhythm Changes, die dem Stück

„I got Rhythm“ von George Gershwin entnommen worden sind. Auch hier sind die Akkord- folgen einfach und eröffnen dem Improvisator viele Entfaltungsmöglichkeiten. Viele Melo- dien haben sich dabei von dem ursprünglichen Thema „I got Rhythm“ soweit entfernt, dass man die Verwandtschaft kaum bemerkt, beispielsweise bei „Oleo“ von Sonny Rollins oder

„Thriving on a riff“ von Charlie Parker.

Die Entwicklung von neuen Produkten auf Basis bestehender erfolgreicher Produkte wird im Marketing von Unternehmen als Relaunch bezeichnet. Ein bewährtes Produktkonzept wird dadurch modernisiert, indem es ein neues Marketingprofil bekommt oder aber auch produkt- technisch abgewandelt wird. Auch hier wird das vom Konsumenten Gewohnte und Akzeptier- te übernommen, um aber durch neue Eigenschaften oder Imagefaktoren eine neue Attraktivi- tät zu bekommen.

IX. Jazz-Solo als dynamischer Prozess

Wenn ein Jazz-Musiker ein Solo beginnt, hat er noch nicht den gesamten Aufbau, geschweige denn die zu spielenden Melodiebögen im Kopf. Vielmehr fängt er mit einer Anfangsphrase an, die vielleicht auf den zuletzt gespielten Tönen seines Vorgängers aufbaut. Die nächste Phrase wird dann von der vorhergehenden beeinflusst und ist entweder die Antwort auf die zuerst gespielten Takte oder deren Erweiterung. Im weiteren Ablauf setzt sich dieser Prozess fort. Dabei werden die Impulse der anderen Mitspieler aufgenommen und einbezogen. Im Grunde ist damit ein Solo ein sich selbst nährender Entwicklungsprozess, in dem ein gespiel- ter musikalischer Gedankengang auf einem vorhergehenden aufbaut und selbst wiederum die Basis für die nächsten darstellt.

Ganz ähnlich entwickelt sich auch die Geschichte eines Unternehmens aus aufeinander auf- bauenden Entscheidungen und Strategien. Nicht jede Entscheidung und Strategierichtung

(17)

muss dabei für sich genommen als Ideal gelten, sondern es muss ihr Beitrag für den gesamten Ablauf gesehen werden. Dann können auch falsche Entscheidungen, wenn sie hinterher korri- giert werden, durchaus ihren Sinn gehabt haben, weil sie zum Erkenntnisgewinn beigetragen haben. Auch in einem Solo kann eine Musikphrase, die für sich genommen vielleicht wenig Intuition beinhaltet, doch den Musiker anregen, seinem nächsten musikalischen Gedanken mehr Inhalt zu geben.

X. Kann man Improvisieren lernen?

Genau wie an einer Musikhochschule das Fach klassische Komposition angeboten wird und also auch Komponieren gelernt werden kann, gilt dieses auch für die Jazz-Improvisation. Al- lerdings besteht der Widerspruch, dass die schöpferische Kraft eines Komponisten oder eines Jazz-Improvisators gerade die Erweiterung des Erlernten durch neue Klangvorstellungen aus- macht. Gelernt werden können bei der Improvisation wie bei einem Redner die Wörter, die Grammatik und Wortverbindungen, die er aber dann bei einer freigesprochenen Rede gemäß seiner emotionalen Stimmung und seinen gewollten Aussagen zusammenstellt. Eine abgele- sene Rede ist meistens langweilig, während eine engagiert vorgetragene freie Rede interessant sein kann.

Die Grammatik ist für einen Jazz-Musiker die Jazz-Harmonielehre. Während ein Orchester- musiker eines klassischen Orchesters im Wesentlichen die Fähigkeit besitzen muss, vom Blatt zu spielen und deswegen tiefe Kenntnisse in der Harmonielehre nicht unbedingt erforderlich sind, ist dies bei einem Jazz-Musiker ausgesprochen wichtig und bringt ihn damit auch näher zu den Anforderungen, die man in der klassischen Musik an einen Komponisten stellt. Neben der Harmoniestruktur, also der Grammatik, ist aber auch der Wortvorrat wichtig. Hier gibt es unzählige Melodiefolgen, meistens auf ein bis vier Takte beschränkt, die für einzelne Akkor- de und Akkordfolgen geübt werden können. Diese Melodiephrasen stur auswendig zu lernen und hinterher in einem Solo mechanisch aneinander zu reihen, ist allerdings noch lange keine gelungene Improvisation. Hier fehlt dann musikalische Tiefe, überraschende Ideen und auch emotionale Beteiligung.

Bei einem Manager ist die Beeinflussung seines Teams, eines Entscheidungsgremiums seines Kunden durch rhetorischen Beiträge ein wichtiges Instrument. Auf einer Rednerschule gelern- te Phrasen sind häufig sofort als solche zu erkennen und wirken wenig überzeugend, sondern eher entlarvend. Charismatische Ausstrahlung ist auch das Ergebnis der Lebenserfahrung ei- ner Persönlichkeit. Und so bestimmt sich auch die musikalische Tiefe eines Jazz-Solisten aus

(18)

seinem gesamten Persönlichkeitsbild. Sicher hat Louis Armstrong in den 20er-Jahren des 20.

Jahrhunderts technisch und musikalisch brillante Soli gespielt, die auch heute noch hörens- wert sind. Der Sound seines Trompetenspiels in seinem fortgeschrittenen Alter enthält aber auch die Höhen und Tiefen seines Lebens und ist an musikalischer Ausdruckstärke um Wel- ten von seiner früheren Spielweise entfernt. Das Gleiche gilt auch für Musiker wie Miles Da- vis oder Sonny Rollins. Gerade da im Jazz die Individualität des musikalischen Ausdrucks im Vordergrund steht, ergeben sich hier auch besondere Möglichkeiten des Einbringens der indi- viduellen Persönlichkeit des Musikers.

Auch im Management sind Dynamik, Aggressivität und technische Brillanz noch nicht alles.

Große Unternehmerpersönlichkeiten strahlen Sozialkompetenz, Lebenserfahrung und Souve- ränität aus. Lernen und Leben gehören dann zusammen.

(19)

Literatur:

Barrett, F. J. (1998): Creativity and Improvisation in Jazz and Organizations: Implications for Organizational Learning, in: Organization Science, Vol. 9, No. 5, Sept./Oct., (1998), S. 605 – 622.

Davis, M. (2000): Die Autobiographie; Heyne Verlag, München 2000.

Kahn, A. (2001): Kind of Blue: The Making Of The Miles Davis Masterpiece; Granta Books, London 2001.

Lewin, A. Y. (1998): Jazz Improvisation as a Metaphor for Organization Theory, in: Organi- zation Science, Vol. 9, No. 5 (1998), S. 539.

Mintzberg, H. (1999): Strategiesafari. Eine Reise durch die Wildnis des strategischen Mana- gements; Ueberreuter Verlag, Wien 1999.

Organization Science, Vol. 9, No. 5, 1998.

Plattner, H.; Scheer, A.-W.; Wendt, S.; Morrow, D. S. (2000): Hasso Plattner im Gespräch:

Dem Wandel voraus; Galileo Press, Bonn 2000.

Scheer, A.-W. (2000): Unternehmen gründen ist nicht schwer ...; Springer Verlag, Berlin et al.

2000.

Scholz, C. (2000): Strategische Organisation: Multiperspektivität und Virtualität, 2. überarbei- tete Auflage; Verlag Moderne Industrie, Landsberg/Lech 2000.

Tomenendal, M. (2002): Virtuelle Organisation am Rande des Chaos – Eine complex- dynamische Modellierung organisatorischer Virtualität, Diss., Saarbrücken 2002.

Wilson, P. N. (1991): Sonny Rollins. Sein Leben, seine Musik, seine Schallplatten; Oreos Verlag, Schaftlach 1991.

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Dazu ist es unvermeidlich, dass die Daten in einem strukturierten Format gemäss einem akzep- tierten Standard (z.B. EANCOM, xCBL) oder gemäss bilateraler Abmachung sind. Die

Wenn die Signaturerstellung an einen Service-Provider delegiert wird, sollte sich der Rechnungssteller vom Service- Provider bestätigen lassen, dass die eingesetzten Verfahren

• Firmen, deren Komplexität deutlich unter der des Marktes liegt, sind durch Angriffe von Wettbewerbern besonders verwundbar... Gavetti/D.A.Levinthal (2000): Looking Forward

Schulen, die aufgrund der veränderten Erlasslage noch einmal über die Anschaffung von graphikfähigen Taschenrechnern oder alternativen Geräten beraten wollen, haben dazu

ml (entsprechend ca. E./ml) zu keiner Zeit überschritten wird. Von einem „partiellen" Wachs- tumshormonmangel wird gespro- chen, wenn der Grenzwert von 10 ng/ml

Im Gegensatz zu den Bausünden der Nach- kriegszeit übrigens, deren Verrohrungen und Kanalisierungen im Visier der Wasserrah- menrichtlinie stehen, setzt sich mittlerweile auch

Im Rahmen der klassischerweise anfallenden Tätigkeiten in Unternehmen, wie etwa der Bearbeitung von Aufträgen, der Verwaltung von Beschäftigten- daten oder auch der

(5s) Was ist für mich Erfolg (4 Sek) Für mich persönlich ist Erfolg in meiner Arbeit, ja, wenn ich jetzt meinem, ja wenn ich das Gefühl habe, ich habe meinen Auftrag ausgefüllt,