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Archiv "Etwa 300000 Kinder jährlich werden sexuell mißbraucht!" (21.05.1987)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Etwa 300000 Kinder jährlich werden

sexuell mißbraucht!

Sexueller Mißbrauch von Kindern ist kein seltenes Ereignis. Jeder dritte bis vierte Erwachsene wurde als Kind sexuell belästigt, und rund zehn Prozent erwachsener Frauen berichten über Inzesterlebnisse. Sexueller Mißbrauch findet in über der Hälfte aller Fälle in den Familien statt und betrifft in 75 Prozent der Fälle Mädchen, wobei die Täter ganz überwiegend aus der Familie oder dem sozialen Nahraum des Kindes stammen, Eine Behand- lung von Opfer und Täter und eine Familientherapie sind erfahrungsgemäß als wirksamere Maßnahmen einer Bestrafung des Täters vorzuziehen.

Helmut Remschmidt

1. Definition

und Epidemiologie

Unter sexuellem Mißbrauch versteht man die Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen in sexuel- le Aktivitäten, deren Funktion und Tragweite sie nicht überschauen können. Sexueller Mißbrauch ist auch dann gegeben, wenn die sexu- ellen Aktivitäten nicht ausdrücklich gegen den Willen eines Kindes und ohne die Anwendung von Gewalt erfolgen.

Von sexueller Mißhandlung wird gesprochen, wenn es zur Ge- waltanwendung kommt und die se- xuellen Aktivitäten gegen den Wil- len des Kindes herbeigeführt wer- den. Eine häufige Form des sexuel- len Mißbrauchs ist der Inzest, wor- unter man die Ausübung des Ge- schlechtsverkehrs mit Familienange- hörigen versteht, wobei sexuelle Be- ziehungen zwischen Vater und Tochter bzw. Stiefvater und Stief- tochter am häufigsten sind. Jeder Fall sexuellen Mißbrauchs von Kin- dern ereignet sich in einer asymme- trischen Macht- und Abhängigkeits- situation zuungunsten des kind- lichen Opfers.

Nach Schätzungen werden in der Bundesrepublik Deutsch- land jährlich etwa 300 000 Kin- der mißbraucht, wovon 250 000 Mädchen sind. Etwa jeder dritte bis vierte Erwachsene wurde als Kind einmal sexuell belästigt. Nach Erhebungen in den USA geben rund fünf bis zehn Prozent der erwachsenen Frauen an, inzestuöse Erfah- rungen zu haben. Letztere sind meist nicht punktuelle Ereig- nisse, sondern haben im Durch- schnitt zwei bis drei Jahre an- gehalten.

Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie (Direktor: Professor Dr. med. Dr. phil. Helmut Remschmidt), Philipps-Universität Marburg

Nach den Angaben der polizei- lichen Kriminalstatistik haben sich im Jahre 1984 in der Bun- desrepublik 10 589 Fälle von sexuellem Mißbrauch ereignet, wobei an diesen Taten 13 277 Kinder als Opfer beteiligt wa- ren (unter ihnen rund 75 Pro- zent Mädchen). Aus diesen Zahlen wird deutlich, daß bei verschiedenen Taten mehrere Kinder Opfer waren. Nach Er- hebungen des Bundeskriminal- amtes (Baurmann 1983) entfal- len von den sexuellen Straf- tatsbeständen 35,5 Prozent auf den sexuellen Mißbrauch von Kindern (§ 176 StGB), 23,9 Prozent auf Exhibitionismus (§ 183), 22,2 Prozent auf Ver- gewaltigung (§ 177) und rund 8 Prozent auf sexuellen Miß- brauch von Schutzbefohlenen (§ 174) und Inzest (§ 173).

Die Opfer sexuellen Miß- brauchs und sexueller Mißhandlung sind also vor allem Mädchen, von denen rund 80 Prozent unter 14 Jah- ren sind. Die Täter sind überwie- gend Männer im Alter zwischen 25 und 40 Jahren.

(2)

Tabelle 1: Art des sexuellen Mißbrauchs

Oral/genitaler Kontakt Vaginal- oder Analverkehr Genitale Manipulationen Andere Praktiken

2. Erscheinungs- formen, Begleit-

umstände und Folgen

2.1 Erscheinungsformen und Begleitumstände Sexueller Mißbrauch von Kin- dern und Jugendlichen kommt in sehr unterschiedlichen Formen und mit unterschiedlichen Begleitum- ständen vor. Je nach Art und Be- gleitumständen und auch im Hin- blick auf die möglichen Folgen kann man den intrafamiliären vom extra- familiären sexuellen Mißbrauch un- terscheiden, die wiederum jeweils mit oder ohne Gewaltanwendung er- folgen können.

Familienmitglied Bekannter

Unbekannte Person Keine Angabe

Geschlecht des Opfers männlich 1 weiblich

43,2%

46,9%

25,9%

25,9%

Ohne Gewaltanwendung findet in der Regel die sexuelle Verführung Minderjähriger statt, wobei es aber fast regelmäßig zur Ausübung eines erheblichen psychischen Druckes kommt, der oft nicht minder schwe- re Folgen für die betroffenen Kinder hinterläßt als die physische Gewalt.

Unter physischer Gewaltanwendung werden Kinder zur Duldung oder zur Durchführung sexueller Manipu- lationen gezwungen, vergewaltigt oder gar, nach Ausführung der Miß- handlung, getötet.

Eine zuverlässige Übersicht über die einzelnen Formen der sexu- ellen Mißhandlung von Kindern wird durch das hohe Dunkelfeld, die Tabuisierung dieser Straftat und auch durch das sehr unterschiedliche

Geschlecht des Opfers männlich weiblich

39,5%

38,2%

19,8%

2,4%

Anzeigeverhalten erschwert. Bei der intrafamiliären sexuellen Mißhand- lung unterbleibt die Anzeige oft aus Angst vor dem Täter, aus Furcht, die Familie insgesamt an den Pran- ger zu stellen, häufig aber auch des- halb, weil die Familie befürchten muß, durch die Bestrafung des Va- ters oder Stiefvaters, die meist die Täter sind, in wirtschaftliche Not zu geraten.

Aufgrund dieser und anderer Schwierigkeiten stützen sich die um- fangreichen Erhebungen über den sexuellen Mißbrauch von Kindern im wesentlichen auf die retrospekti- ven Angaben von Erwachsenen über ihre Kindheit.

In Tabelle 1 sind einige Ergeb- nisse einer solchen Befragung in den USA wiedergegeben. Danach ste- hen bei Opfern beiderlei Ge- schlechts Vaginal- oder Analverkehr an erster Stelle, gefolgt von oral-ge- nitalen Kontakten bei männlichen und genitalen Manipulationen bei weiblichen Opfern.

Andere Praktiken kommen bei Opfern beiderlei Geschlechts etwa gleich häufig vor, oral-genitale Kon- takte sind bei weiblichen Opfern re- lativ selten.

These vom

„bösen fremden Mann"

nicht mehr haltbar

Die Beziehungen zwischen Tä- ter und Opfer gehen aus Tabelle 2 hervor. Sie zeigt, daß sich über die Hälfte der sexuellen Mißhandlungen von Mädchen innerhalb der Familie ereignen und über ein Drittel durch bekannte Personen begangen wer- den, während unbekannte Täter nur 12 Prozent ausmachen. Bei männ- lichen Opfern überwiegen ebenfalls Familienmitglieder und Bekannte als Täter, unbekannte Personen sind etwas häufiger als bei weiblichen Opfern vertreten.

Diese Ergebnisse zeigen, daß die These vom „bösen fremden Mann", der kleine Kinder miß- braucht, keineswegs den Tatsachen entspricht. Vielmehr findet sexueller Mißbrauch von Mädchen und Jun- gen am häufigsten in der eigenen Fa- milie statt.

16 % 54,3%

33,3%

24,4%

Mehrfachnennungen inbegriffen

Farber, ED. et al.: The sexual abuse of children: A comparison of male and female victims, J. Clin. Child Psychol. 13 (1984) 294-297

Tabelle 2: Beziehung zwischen Täter und Opfer

53,1%

32,1%

12,3%

2,4%

Farber, ED. et al.: The sexual abuse of children: A comparison of male and female victims, J. Clin. Child Psychol. 13 (1984) 294-297

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2.2 Folgen sexuellen Mißbrauchs von Kindern und Jugendlichen

Es lassen sich kurzfristige von mittel- bis langfristigen Folgen un- terscheiden, die jeweils nicht nur vom Tatbestand als solchem, son- dern auch von den Begleitumstän- den (zum Beispiel Gewaltanwen- dung, Familienangehörige als Täter, Situationen der Heimlichkeit etc.) abhängen.

Als kurzfristige Folgen sind be- kannt: physische Verletzungen, Schmerzen, Enttäuschung, Mißtrau- en, Resignation und Depression, massive Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls, Gefühl der Ohn- macht und des Ausgeliefertseins, Leistungsversagen in der Schule, so- zialer Rückzug, Suizidgedanken oder Suizidversuche.

Beim sexuellen Mißbrauch in- nerhalb der Familie kommen Kinder und Jugendliche (meist Mädchen) regelmäßig in Loyalitätskonflikte bezüglich ihrer Eltern. Ist der Vater oder Stiefvater der Täter, so verbie- tet er regelmäßig dem sexuell miß- brauchten Kind, mit der Mutter über den Tatbestand zu sprechen, was das Verhältnis des Kindes zur Mutter tiefgreifend stört.

Das Gebot der Geheimhaltung und der Heimlichkeit liegt als be- drückende Last auf dem Opfer, das sich gegen den sexuellen Mißbrauch als schwächstes Glied im Machtgefü- ge nicht wirksam wehren kann. Oft wird die versuchte Gegenwehr durch Gewaltanwendung zunichte ge- macht.

Nicht selten wissen aber auch die Mütter vom sexuellen Miß- brauch ihrer Töchter durch den Va- ter, dulden sie aber machtlos und stillschweigend, weil sie die wirt- schaftlichen Folgen einer Bestrafung des Vaters durch ein etwaige Anzei- ge fürchten oder den Ehepartner nicht verlieren möchten.

Die mittel- bis langfristigen Fol- gen liegen im wesentlichen in drei Bereichen:

1. gestörte Sexualität und Part- nerschaftsprobleme, 2. keine nor- male Identitätsentwicklung, 3. seeli- sche Erkrankungen.

so

Beeinträchtigung der sexuellen Befriedigung und Partnerschaftsstörungen

Der sexuelle Mißbrauch stellt für viele Kinder und Jugendlichen das erste sexuelle Erlebnis mit ei- nem „Partner" dar, der beiden Ge- schlechtern angehören kann und in der Regel viel älter ist und aufgrund seiner „Machtstellung" das sexuelle Primärerlebnis nicht nur durch Ge- waltanwendung oder andere unschö- ne Umstände entwertet, sondern völlig asymmetrisch gestaltet. Der sexuelle Vorgang wird dadurch für die Opfer mit dem Gefühl des Aus- geliefertseins, der Machtlosigkeit und der Unterlegenheit assoziiert, was keinerlei Eigenständigkeit oder Initiative erlaubt. In späteren Part- nerschaften reproduziert sich häufig dieses Muster und kann durch viel Verständnis für das ehemals miß- brauchte Kind nur mühsam abge- baut werden.

0 Störung der Identitätsentwicklung

Auch die Identitätsentwicklung und die Übernahme der jeweiligen Geschlechtsrolle kann durch die Er- fahrung eines längerwährenden se- xuellen Mißbrauchs erheblich beein- trächtigt werden. Zum Beispiel ent- wertet der sexuelle Mißbrauch eines Mädchens durch den eigenen Vater oder Stiefvater nicht nur das Bild des Vaters und das Bild eines männ- lichen Partners, sondern auch die Beziehung der Eltern untereinan- der. Da die eheliche Beziehung der Eltern für ein Kind zunächst als Mo- dell für heterosexuelle Beziehungen schlechthin gilt und auch für ange- messenes Rollenverhalten, entsteht diesbezüglich Unsicherheit und Un- fähigkeit, altersgemäße Lern- und Identifikationsprozesse erfolgreich zu bewältigen.

Psychische Störungen und Erkrankungen

Sexuell mißbrauchte und miß- handelte Kinder zeigen nicht nur kurzfristig unmittelbar nach den Er- lebnissen psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten, sondern können auch (besonders bei langjäh- rigem sexuellen Mißbrauch) langfri- stig chronische Konflikte oder

psychiatrische Erkrankungen davon- tragen. Häufig sind depressive Ver- stimmungen mit Appetit- und Schlafstörungen sowie Suizidgedan- ken, massive Lern- und Leistungs- störungen, Verwahrlosungstenden- zen, die oft neurotischen Charakter haben und mit Weglaufen, ausge- prägtem Oppositionsverhalten und der Ablehnung jeder familiären Bin- dung assoziiiert sind, sowie hysteri- sche Reaktionen und Konversions- syndrome . Bei letzteren hatte Freud in seinen frühen Schriften zunächst an den Inzest als führende Ursache gedacht, was er in späteren Arbeiten auf „Inzestphantasien" reduzierte.

Schließlich sind im Rahmen von Selbstwertkrisen auch Suizidversu- che sowie selbstverletzendes und -destruktives Verhalten bekannt

Es ist ferner wichtig zu wissen, daß die Auseinandersetzung mit dem sexuellen Mißbrauch in zeitli- cher Hinsicht verschiedene Phasen durchläuft, was Summit (1981) im Hinblick auf die Verarbeitung inze- stuöser Erlebnisse zur Unterschei- dung von vier Phasen (Geheimhal- tung, Hilflosigkeit, Akkommoda- tion, Enthüllung) veranlaßt hat.

Unter den Erklärungsmodellen für den sexuellen Mißbrauch von Kindern kann man individuumzen- trierte Ansätze von interaktions- orientierten und soziologischen un- terscheiden. Heute steht der inter- aktionsorientierte Ansatz unter be- sonderer Berücksichtigung der Fa- milie im Vordergrund. Er betrachtet sexuellen Mißbrauch und Inzest in- nerhalb einer Familie nicht als Ver- sagen eines einzelnen Individuums (des Mißhandelnden), sondern als Störung des geamten Familiensy- stems. Auf diese Gesichtspunkte kann jedoch hier nicht näher einge- gangen werden.

3. Therapie und Intervention

Die Therapie- und Interven- tionsmaßnahmen lassen sich unter- teilen in solche, die sich individuell mit Opfer und Täter beschäftigen, in familientherapeutische Maßnahmen und juristische Interventionen. >

(4)

3.1 Individuelle Behandlung

von Opfer und Täter

Die individuelle Behandlung ei- nes sexuell mißbrauchten Kindes muß sich, je nach Art und Dauer der sexuellen Mißhandlung und den Be- gleitumständen, sehr unterschiedlich gestalten. Im folgenden können da- her nur einige allgemeine Hinweise erfolgen. Betont werden muß, daß in jenen Fällen, in denen deutliche Folgen für das Kind festzustellen sind, eine derartige individuelle Be- handlung erfolgen muß. Sie wird in Form einer Einzeltherapie durchge- führt, die je nach Alter des Kindes mehr als Spieltherapie oder mehr als gesprächsbezogene Therapie gestal- tet wird. Folgende Gesichtspunkte haben sich dabei als wirksam und zweckmäßig erwiesen:

C) Abbau der Schuldgefühle des Kindes: Dazu gehört auch, daß dem Kind das Gefühl ge- nommen wird, die Verantwor- tung für den Inzest zu tragen oder an einer etwaigen Auflö- sung der Familie schuld zu sein.

C) Trennung von Täter und Opfer: In der Regel sollte eher der Täter (meist Vater) als das Kind die Familie vorüberge- hend verlassen. Nur so läßt sich vermeiden, daß der sexu- elle Mißbrauch sich immer weiter wiederholt. Im Rahmen eines familienorientierten An- satzes ist natürlich auch der Täter zu behandeln.

C) Aufbau einer vertrauens- vollen Beziehung zum Thera- peuten: Diese ist eine wichtige Grundlage für jede weitere Form der angemessenen Be- gegnung mit Erwachsenen für das mißhandelte Kind. Zu- gleich stellt diese Beziehung die Basis für jede Behandlung dar.

® Ausführliche Behandlung von Autonomieproblemen:

Hierbei geht es um Selbstkon- trolle, Fremdkontrolle, Selbst- und Fremdbestimmung über

den eigenen Körper, eigene Handlungen und Bedürfnisse und eigene Kontakte.

®

Berücksichtigung von Ele- menten der Sexualerziehung und Vorbereitung auf verant- wortliches sexuelles Handeln:

Dieser Bereich gestaltet sich anfangs aufgrund der traumati- schen Erfahrungen des Kindes besonders schwierig, muß aber in späteren Behandlungspha- sen einbezogen werden, um dem Kind den Weg zu ange- messenen späteren Sexualbe- ziehungen zu ermöglichen.

Auch für die Täter ist eine indi- viduelle Behandlung angezeigt, ins- besondere wenn psychopathologi- sche Züge, Persönlichkeitsstörungen und eine defiziente eigene Sozialisa- tion vorliegen. Auf diese Gesichts- punkte kann hier jedoch nicht weiter eingegangen werden.

3.2 Familien- therapeutische Maßnahmen

Gemäß der Einsicht, daß sexu- eller Mißbrauch und Inzest eine län- gerfristige Folge intrafamiliärer Kommunikationsstörungen sind, kommt heute der Familientherapie eine besondere Bedeutung zu. Sie muß den bereits oben angeführten Besonderheiten der Familienstruk- tur Rechnung tragen; das heißt, sie muß sich bemühen, die starren Grenzen der Familie gegenüber der Außenwelt aufzulösen, die einzel- nen Familienmitglieder zu mehr Selbstabgrenzung und Selbstbestim- mung ermuntern, den Eltern zu ei- ner befriedigenden sexuellen Bezie- hung zu verhelfen (gegebenenfalls mit Hilfe einer speziellen Sexualthe- rapie), die Situation des mißbrauch- ten Kindes allen verständlich zu ma- chen und nach angemessenen Be- handlungsfortschritten des Kindes und des Täters eine Rekonstruktion der familiären Wechselbeziehungen auf neuer Grundlage möglich zu ma- chen. Hierfür existiert eine Reihe von Methoden (zum Beispiel Ver-

schreibung von Symptomen, Verbie- ten bestimmter Verhaltensweisen, Familienskulptur), die in der Hand des erfahrenen Familientherapeuten flexibel und angemessen eingesetzt werden können, jedoch bei der An- wendung durch Unerfahrene auch zur Eskalation familiärer Konflikte beitragen können.

Entscheidend für den Arzt ist, bei Vorliegen entsprechender An- zeichen an die Möglichkeit eines se- xuellen Mißbrauchs von Kindern zu denken und diesen (sofern er in der Familie stattfindet) stets als Problem der ganzen Familie zu betrachten.

3.3 Juristische Interventionen

Erfahrungen in verschiedenen Ländern haben gezeigt, daß mit der bloßen Bestrafung des Täters nichts erreicht wird. Deshalb gilt auch für dieses Feld der Leitsatz „Therapie statt Strafe". Natürlich wird es im- mer wieder Fälle geben, in denen wegen der Schwere der Mißhand- lung, der Rückfälligkeit des Täters und seiner Weigerung, an einer Be- handlung mitzuwirken, eine Bestra- fung unvermeidlich ist. Das Vorbild der USA zeigt, daß man eine Anzei- gepflicht mit einer Behandlungs- pflicht durchaus sinnvoll kombinie- ren kann. Als Folge der Anzeige- pflicht wird zumindest ein größerer Teil von Tätern identifiziert, durch die damit gekoppelte Behandlungs- pflicht ist die Chance einer Behand- lung gegeben, die sehr häufig ein Auseinanderbrechen der Familie verhindert.

Im deutschen Strafgesetzbuch sind die meisten sexuellen Miß- brauchshandlungen gegenüber Kin- dern unter der Rubrik „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestim- mung" zusammengefaßt. Lediglich der Beischlaf zwischen Verwandten (§ 173) ist unter die Straftaten gegen den Personenstand, die Ehe und die Familie subsumiert. Im einzelnen wird unterschieden zwischen sexuel- lem Mißbrauch von Schutzbefohle- nen (§ 174), homosexuellen Hand- lungen an unter 18jährigen (§ 175), sexuellem Mißbrauch von Kindern (§ 176), Vergewaltigung (§ 177), se-

(5)

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Ist die Patientensicherheit bei Behandlung durch

nicht approbierte Heilkundige gewährleistet?

Zu dem Editorial von

Professor Dr. med. Hans-Joachim Wagner in Heft 43/1986, Seiten 2938 und 2939

xueller Nötigung (§ 178), sexuellem Mißbrauch Widerstandsunfähiger (§ 179), Förderung sexueller Hand- lungen Minderjähriger (§ 180) sowie Förderung der Prostitution (§ 180 a) und Zuhälterei (§ 181 a).

Für die Ärzteschaft ist es außer- ordentlich wichtig, den sexuellen Mißbrauch von Kindern früh zu er- kennen, im familiären Kontext zu betrachten, rasch entsprechende Be- handlungen einzuleiten und nur in seltenen Fällen an Bestrafung zu denken.

Literatur

1. Backe, L.; Leick, N.; Merrick, J.; Michel- sen, N.: Sexueller Mißbrauch von Kindern in Familien. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln 1986

2. Baurmann, M. C.: Sexualität, Gewalt und psychische Folgen. Eine Längsschnittunter- suchung bei Opfern sexueller Gewalt und sexueller Normverletzungen anhand von angezeigten Sexualkontakten. Bundeskri- minalamt, Wiesbaden 1983

3. Bundesministerium f. Jugend, Familie und Gesundheit: Kindesmißhandlung — Kinder- schutz. Ein Überblick. BMJFG, Bonn 1980 4. Engfer, A.: Kindesmißhandlung. Ursa-

chen, Auswirkungen, Hilfen. Enke, Stutt- gart 1986

5. Farber, E. D.; Showers, J.; Johnson, C. F.;

Joseph, J. A.; Oshins, L.: The sexual abuse of children: A comparison of male and fe- male victims. J. Clin. Child Psychol. 13 (1984) 294-297

6. Finkelhor, D.: Sexual abuse: a sociological perspective. Child Abuse and Neglect 6 (1982) 95-102

7. Holman, P. L.: Inzestuös mißbrauchte Kin- der. Symptome und Behandlungsmetho- den, in: Backe, L.; Leick, N.: Merrick, J.;

Michelsen, N.: Sexueller Mißbrauch von Kindern in Familien, Deutscher Ärzte-Ver- lag, Köln 1986

8. Larson, N. R.: Familientherapie mit Inzest- familien, in: Backe, L. et al., Deutscher Ärzte-Verlag, Köln 1986

9. Marquit, C.: Der Täter, Persönlichkeits- struktur und Behandlung, in: Backe, L. et al., Deutscher Ärzte-Verlag, Köln 1986 10. Remschmidt, H.: Mißhandlungssyndrom,

in: Remschmidt, H.; Schmidt, M. (Hrsg.):

Kinder- und Jugendpsychiatrie in Klinik und Praxis, Bd. III, Thieme, Stuttgart—New York 1985

11. Summit, R.: Beyond belief: The reluctant discovery of incest, in: Kirkpatric, M.

(Ed.): Women in context. Plenum Press, New York 1981

Anschrift des Verfassers:

Professor Dr. med. Dr. phil.

Helmut Remschmidt Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Philipps-Universität Hans-Sachs-Straße 6 3550 Marburg

Den Anschluß nicht verpassen!

Den Ausführungen von Prof.

H.-J. Wagner ist in jeder Hinsicht zuzustimmen. Allerdings ist bei den von ihm daraus gezogenen Folge- rungen ein wichtiger Gesichtspunkt nicht ins Auge gefaßt worden. Wenn mittlerweile immer mehr Patienten mit Naturheilverfahren behandelt werden möchten, haben wir Ärzte daraus Konsequenzen zu ziehen.

Wenn wir nicht wollen, daß die Pa- tienten zu mehr oder minder qualifi- zierten Heilkundigen abwandern, müssen wir uns mit den Naturheil- verfahren gründlich vertraut ma- chen, um die mit ihnen gegebenen Möglichkeiten und Grenzen zu ken- nen. Dabei sollten wir uns darüber im klaren sein, daß echte (klassische) Naturheilverfahren lediglich Hydro- Thermotherapie , Bewegungsthera- pie (einschließlich Massage), Ernäh- rungstherapie, Phytotherapie und Ordnungstherapie sind. Ihre Wir- kungsweise und die sich daraus erge- benden Indikationen sind wissen- schaftlich gesichert, bei richtigem Ge- brauch erfüllen sie das Gebot des nil nocere. In diesem Sinne stellen die Naturheilverfahren einen komple- mentären, vielfach unentbehrlichen Bestandteil der Therapie dar.

Dagegen können die vielfach auch als „Naturheilverfahren" be- zeichneten Methoden wir Irisdia- gnostik, Fußzonen-Therapie, Astro- medizin, Radiästhesie, Pendeln, hä- matogene Oxidationstherapie und

Sauerstoff-Mehrschritt-Therapie le- diglich als Pseudo-Naturheilverfah- ren, als Außenseitermethoden be- zeichnet werden. Es fehlen ihnen wissenschaftliche Fundamente ge- nauso wie gesicherte Erfolgsnach- weise. Entsprechendes gilt für Ozontherapie, Chelattherapie und Zelltherapie, die zudem mit nicht unbeträchtlichen Gefahren für den Patienten verbunden sind.

Leider sieht der Studiengang an unseren Universitäten bisher noch keine Ausbildung in den (echten) Naturheilverfahren vor. Selbst in den für Ärzte angebotenen Kursen zur Erlangung des Zusatztitels „Na- turheilverfahren" werden diese klassischen Naturheilverfahren mei- stens nur unzureichend berücksich- tigt. Statt dessen werden die oben angeführten und andere Außensei- terverfahren überreichlich angebo- ten und in entsprechenden Semina- ren zu ungebührlich hohen Preisen

„verkauft". Auf diese Weise ist es kaum möglich, daß diejenigen Ärz- te, die die echten Naturheilverfah- ren in ihr Therapiekonzept aufneh- men wollen, sich darüber in Theorie und Praxis ein fundiertes Urteil bil- den können. Daher steht zu hoffen, daß die (echten) Naturheilverfahren schon bald in das Medizinstudium integriert und dem Arzt mehr als bisher gediegene Möglichkeiten zum Erlernen der Naturheilverfahren an- geboten werden.

Prof. Dr. med. H.-D. Hentschel Internist — Naturheilverfahren 8182 Bad Wiessee

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