D
ie Pillen-Ausstellung des Deutschen Hygie- ne-Museums in Dres- den portraitiert ein relativ kurzes, dafür aber bedeuten- des Stück Medizin- und Sozi- algeschichte. Zunächst führtim Eingangsbereich des Mu- seums eine nackt liegende Frauenfigur des amerikani- schen Bildhauers John de Andrea (woman on bed, 1974) in die Thematik Sexua- lität ein. Die Ausstellung zeigt dann in bewährter Ma- nier den Kontext aus vergan- genen Zeiten auf; präsentiert werden Fruchtbarkeitssym- bole und seltene, mitunter obskur wirkende Verhü- tungsmittel aus verschiede- nen Kulturen und Zeitab- schnitten.
Nach dieser Einstimmung tritt der Besucher der Aus- stellung rasch in medias res:
die Geschichte der Pille vor dem Hintergrund der Gebur- tenkontrollbewegung und der Hormonforschung. Ne- ben Exponaten über den deutschen Chemiker Adolf Butenandt, der 1939 den No- belpreis für die Aufklärung der chemischen Struktur der Sexualhormone erhielt, wer- den insbesondere die Arbei- ten des Innsbrucker Physiolo- gen Ludwig Haberlandt ge- würdigt, der im Jahr 1919 die Idee zur Pille gehabt haben soll. Einen gravierenden Ein- schnitt in die Entwicklung stellt der Nationalsozialismus
mit seinem Verbot der Verhü- tungsmittel bei gleichzeitiger Zwangssterilisation bestimm- ter Bevölkerungsgruppen dar.
Die Ambivalenz bevölke- rungspolitischer Kontrolle und individueller Befreiung zieht sich bis in die Anfänge der industriell gefertigten Pil-
le hinein. 1961 wird mit Anovlar, hergestellt von der Berliner Schering AG, die er- ste europäische Pille zugelas- sen. Im Jahr zuvor hatte der Chicagoer Pharmakonzern G. D. Searle die erste Pille, Enovid 10, auf den amerika- nischen Markt gebracht. 1965 erhielt die Pille des VEB Jenapharm, Ovisiston, ihre Eintragung in das Arzneimit-
telregister der DDR. In den Industriestaaten avancierte die Pille zum Symbol sexuel- ler Befreiung. Frauen war es nun möglich, Sexualität ohne Angst vor Schwangerschaft zu erleben. Dies rief aller- dings die katholische Kirche auf den Plan. Neben der Papst-Enzyklika „Humanae Vitae“ von 1968 werden Kult- bücher und Flugblätter der Studentenbewegung gezeigt, die die Politisierung der Se- xualität in den 60er Jahren dokumentieren.
Die Originaldokumente aus jener Zeit räumen aller-
dings auch mit so mancher verklärten Vorstellung der
„sexuellen Revolution“ auf.
So bieten Aufklärungsfilme von Oswalt Kolle heute eher Anlaß zum Schmunzeln.
Die Ausstellung „Die Pil- le. Von der Lust und von der Liebe“ ist bis zum 31. De- zember im Deutschen Hy- giene-Museum Dresden zu sehen. Martin Wiehl
A-2416 (68) Deutsches Ärzteblatt 93,Heft 38, 20. September 1996
V A R I A FEUILLETON
Die Pille
Von der Lust und von der Liebe
„Je mehr sich der Modera- tor im Hintergrund hält, je zwangloser und improvisier- ter ein Abend verläuft, desto eindrucksvoller ist die Ge- samtwirkung.“ So beschrieb Dr. med. Georg Schreiber, Medizinjournalist aus Ober- audorf, kurz nach der Premie- re im Jahr 1976 das Konzept
seiner Klinik-Talkshow. Seit- her hat die Zahl der Klinik- Talkshows, die zu Beginn alle drei, später alle fünf Wochen immer an einem Freitag- abend stattfanden, die Marke 300 erreicht: eine Erfolgsbi- lanz, die sich sehen lassen kann. Trotz des stetig wach- senden Arbeitsumfanges ist Aus der Zeit vor der Pille: Verhütungsmittel der 20er Jahre Foto: Martin Wiehl
Rückblick nach 20 Jahren
Klinik-Talkshow
feiert Jubiläum
der inzwischen fast 75jährige Schreiber ein prototypischer Einzelkämpfer geblieben. Er arbeitet ohne Basisorganisati- on, ohne Rechercheure oder sonstige Zuarbeiter, ohne Büro oder Sekretariat. Jeden Brief schreibt er eigenhändig, jede Einladung bahnt er sel- ber an, jeden Kontakt unter- hält er persönlich. Unterstützt wird er dabei von seiner ge- sundheitspolitisch und publi- zistisch erprobten Ehefrau Dr.
med. Hedda Heuser.
Talk im Speisesaal
Schreiber hätte jedoch seine Vorstellungen kaum ohne die Stabilität des Schau- platzes verwirklichen kön- nen. Von Anfang an öffnete der Gründer und Betreiber der Onkologischen Klinik Bad Trissl, Ehrensenator Hans Hermann Rösner, der Talkshow den Speisesaal sei- nes Krankenhauses. Er war dazu bereit, obwohl onkolo- gische Kliniker Zweifel an der von Schreiber postulier- ten Rolle einer „Mittherapie von außen“ anmeldeten.
Rösner genügte es, wenn
die Patienten, anfangs aus- schließlich krebskranke Frauen, sich auf die Talkshow freuten und eine Auflocke- rung ihres oft von Ängsten
und Schmerzen geprägten Klinikalltages erlebten. Mit dieser Haltung unterstützte er auch Schreibers Vision, daß es vorstellbar sei, „ver- läßliche Spuren möglicher Zusammenhänge zwischen Krebs und Psyche“ zu si- chern. Das Rezept für die Kli- nik-Talkshow ist seit 1976 gleichgeblieben und spricht auf diese Weise für die Bekömmlichkeit der Speisen-
folge. Die Zutaten: Man finde drei oder vier prominente Zeitgenossen, die über sich und ihr Metier Interessantes, Amüsantes und Nachden-
kenswertes aussagen können;
man hole profilierte An- gehörige möglichst kontrast- reicher Lebensbereiche und Berufsfelder an den Talk- tisch, zum Beispiel aus Poli- tik und Wirtschaft, Wissen- schaft und Publizistik, Bühne und Film, Konzertsaal und Manege; man lasse sie reden, ohne sie durch vorgegebene Themen einzuengen; man lasse sie auch untereinander
diskutieren, so oft sie einha- ken wollen; und man mache aus dem Ganzen – aufge- lockert durch künstlerische oder sonstige Angebote – be- hutsam ein wohlschmecken- des Allerlei.
Erfolgsrezept
Einfühlungsvermögen, Fragegeschick und Schlagfer- tigkeit des Moderators haben es nunmehr zum 300. Mal ge- schafft, die Trissler Klinikpa- tienten mit diesem Rezept aufzumuntern – gemäß der Devise „Was die Grundstim- mung kranker Menschen verbessert, stärkt auch ihre Heilungschancen.“ Seit 1976 haben 1 440 Gäste auf dem Trissler Talkpodium gesessen.
Keiner von ihnen hat ein Ho- norar oder eine Gage erhal- ten. Während der 300. Talk- show am 16. August gab sich Schreiber den Zuschauern als Mitpatient zu erkennen. Erst zwei Tage zuvor habe er sich von seiner sechsten Blasen- krebsoperation so weit erholt, daß er „hier oben sitzen“ kön- ne. Das krebserfahrene Publi- kum dankte ihm für dieses an- steckende „Trotzdem“ mit großem Beifall. Kurt Gelsner
A-2417 Deutsches Ärzteblatt 93,Heft 38, 20. September 1996 (69)
V A R I A FEUILLETON
Am 16. August fand die 300. Klinik-Talkshow in der Onkologischen Klinik Bad Trissl statt (von rechts: Moderator Dr. med. Georg Schreiber, Schauspielerin und Journa- listin Anneliese Fleyenschmidt, Kriminologe Prof. Dr. Manfred Schreiber, Präsident der Deutschen Bundesbank Dr. Dr. Hans Tietmeyer, Publizist Dr. Hans Arnold).
Foto: Hendrik Heuser