Individuelle und kollektive Autorenschaft in der oralen Literatur der Temne 531
Literatur
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David Parkin. Wien. S. 89-105.
INDIVIDUELLE UND KOLLEKTIVE
AUTORENSCHAFT IN DER ORALEN LITERATUR DER
TEMNE (SIERRA LEONE)
Von Wilhelm J. G. Möhlig
1. Einleitung
Es ist eine weitverbreitete Vorstellung, orale Literatur gehöre zum kollek¬
tiven Besitz aller Miglieder einer besümmten Kultur oder Gesellschaft, indivi¬
duelle Autorenschaft sei hingegen ein typisches Merkmal schrifdich verfaßter Literatur. Schon Finnegan' ging gegen eine zu simplizistische Auslegung dieses
Konzepts an, indem sie darauf hinwies, daß die afrikanischen Erzähler bei der
Ausgestaltung ihrer Themen einen großen Spielraum eigener schöpferischer
Gestaltung besitzen: „In all respects the narrator is free to choose his own
treatment and most stories arise from the combination and recombination of
motifs and episodes with which the individual is free to build..." Abgesehen
davon, daß es auch auf diesem Gebiet von Kultur zu Kultur Unterschiede gibt.
1 Rudi Finnegan, Oral Literature in Africa, Nairobi 1976, p. 386.
dürfte die Feststellung Finnegans im großen und ganzen aber doch auf viele Erzählkulturen Afrikas zutreffen.
Bei meinen oralliterarischen Forschungen unter den Temne in den Jahren
1983 und 1984 bin ich erstmals mit einem Erzähler zusammengetroffen, dessen
Kreativität über das bloße Ausgestalten an sich bekannter Geschichten weit
hinausgeht. Der Künstler selber, der den Namen Denkena trägt, behauptet von
sich - und seine Mitbürger t)estätigen dies - daß er ein Repertohe von über
einhundert Geschichten besitze, die er selber erfunden habe. Er lebt in der
Häuptlingsschaft Lokomasama zwischen Port Loko und Freetown. Obwohl er
erst ungefähr 30 Jahre alt ist, genießt er in seiner Häuptlingsschaft aufgrund sei¬
ner Erzählkunst ein hohes Ansehen.
Wie bei den meisten Völkern Sierra Leones so ist auch bei den Temne, die
etwa ein Drittel der Landesbevölkerung ausmachen, die Erzählkunst noch sehr
lebendig. Männer, Frauen und Kinder treten nach Einbmch der Dunkelheit bei
allen möglichen Anlässen, bei großen Festen ebenso wie beim nachbarschaft¬
lichen Zusammensitzen nach des Tages Arbeit, als Erzähler auf Im Gmnde kann
jeder Geschichten erzählen. Es gibt aber einige Männer und Frauen, darunter
erstaunlicherweise auch einige sehr junge Menschen die als besonders gute
Erzähler bekannt sind, und die man dämm zu besonderen Anlässen einlädt, ihre
Kunst vorzuführen. Der Einladende, mehr aber noch die Zuhörer machen dem
Künstler anläßhch seines Vortrags oder unmittelbar danach Geldgeschenke, die
durchaus als Honorar aufgefaßt werden. Wohl selten fallen die Geschenke aber
so ergiebig aus, daß der betreffende Erzähler davon leben könnte. In dieser Er¬
zähltradition steht auch Denkena, allerdings mit dem Unterschied, daß er
ausschließlich selber verfaßte Geschichten vorträgt, mit denen er seinen Le¬
bensunterhalt bestreitet.
Von Herrn Dr. A.K. Turay (Fourah Bay College) wird zur Zeit in enger
Zusammenarbeit mit mir ein Projekt durchgeführt, das unter anderem zum Ziel
hat, das gesamte Repertoire Denkenas aufzunehmen und literarisch zu ana¬
lysieren. In diesem Rahmen hatte ich im September 1984 Gelegenheit, einen
unmittelbaren Eindmek von Denkenas Kunst zu bekommen. Die nachfolgen¬
den Ausfühmngen stützen sich im wesentlichen auf Tonbandaufnahmen, die bei
diesem Besuch gemacht wurden. Zwar ist die Materialbasis noch schmal, aber
dennoch lassen sich bereits jetzt schon einige Aussagen darüber machen, wie
sich Denkenas Geschichten von der „koUektiven" Oralliteratur der Temne unter¬
scheiden. Als Vergleichsrahmen dienen mir dabei Geschichten, die ich ebenfalls
in Zusammenarbeit mit A.K. Turay 1983 und 1984 an anderen Orten im Temne-
Land aufnehmen beziehungsweise analysieren konnte.
Individuelle und kollektive Autorenschaft in der oralen Literatur der Temne 533
2. Spezifische Merkmale individueller Autorenschaft im Bereich der Textgliedemng
2.1 Übersicht über die Abschnitte der Temne-Erzähltexte
Im äußeren Aufbau sind die individuellen den kollektiven Geschichten
weitgehend gleich. In beiden Erzähltypen lassen sich in der Regel folgende fünf Abschnitte unterscheiden:
1. Präambel (Eröffnung)
2. Exposition (Vorstellung des Themas und der Hauptfiguren)
3. Aufbau eines Konflikts (in mehreren Episoden bzw. Szenen)
4. Lösung des Konflikts (Climax) 5. Abgesang (And-Climax)
6. Epilog (Moral oder ethiologische Erklärung).
Die eigentlichen Unterschiede zwischen der kollektiven und Denkenas
individueller Erzählkunst findet man im inneren Aufbau der einzelnen Ab¬
schnitte. Abgesehen davon, daß die äußere Textgliederung von der Erzähl¬
dramatik irgendwie universell vorgegeben ist, dürfte die weitgehende Über¬
einstimmung zwischen den individuellen und den kollektiven Geschichten in
diesem Bereich auch einfach daher rühren, daß Denkena aus der traditionellen
Erzählkunst hervorgegangen ist. Seine Loslösung wird sich nur allmählich
vollzogen haben. Möglicherweise ist dieser Prozeß, wie eine spätere Analyse
seines derzeitigen Repertoires ergeben könnte, auch heute noch nicht ganz
abgeschlossen.
2.2. Betrachtungen zur .Präambel'
Traditionell gehört zu jeder Geschichte eine Präambel. Diese besteht darin, daß irgendeiner, der eine Geschichte erzählen möchte, eine charakteristische
Passage, meistens ein Lied, aus dieser Geschichte vorträgt. Jemand aus der
Zuhörerschaft unterbricht ihn mit den Worten: „Laß deine Geschichte hören!"
oder „Was ist geschehen?" Unterbleibt diese Reaktion aus der Zuhörerschaft, darf der Betreffende seine Geschichte nicht erzählen. Ich war selber Zeuge einer
Vorstellung, wo die Zuhörer, wohl um den Erzähler zu necken, die fordernde
Formel längere Zeit absichtlich nicht sagten. Als der Erzähler dies merkte,
unterbrach er seinen Singsang mit den Worten „Auch wenn keiner von euch
mich fragt, was geschehen sei, erzähle ich euch meine Geschichte trotzdem" und
dann fing er ohne weitere Umschweife unter allgemeinem Gelächter mit seiner
Erzählung an.
Denkena pflegt seine Zuhörer vor der ersten Geschichte zu begrüßen, die
herkömmlichen Einleitungsformeln benutzt er jedoch nicht. Das mag durch die
besonderen Umstände seiner Auftritte bedingt sein. Wenn er die traditionelle
Einleitungsformel gebrauchte, würde er dadurch die Ernsthaftigkeit der
Einladung, die ihn zum Erzählort gebracht hat, induekt in Zweifel ziehen. Auch
sein Rang als allgemein anerkannter Meister der oralen Kunst würde es kaum
zulassen, daß er sein Publikum um Erlaubnis bittet, seine Geschichten erzählen
zu dürfen. Aus seiner Sicht sind die Werte genau umgekehrt verteilt: das
Publikum muß ihn bitten, seine Geschieben hören zu dürfen. Statt der her¬
kömmlichen Präambel wendet Denkena in der Einleitungsphase regelmäßig
zwei andere Techniken an, um die Zuhörer auf den Stoff seiner Erzählung
einzustimmen. Zum einen betont er die Authentizität seiner Geschichten, indem er vorgibt, die Ereignisse seiner Erzählungen mit eigenen Augen erlebt zu haben, auch wenn sie sich in grauer Vorzeit ereignet haben mögen. Zum anderen schickt er seinen eigentlichen Geschichten kürzere „Vorgeschichten" voraus, die mit der
Hauptgeschichte thematisch nur einen losen und oberflächlichen Zusam¬
menhang bilden. Wenn er mit seinen Erzählungen richdg in Fahrt gekommen ist,
verkettet er auch mehrere Geschichten miteinander, indem die jeweils
vorangehende Geschichte zur „Vorgeschichte" für die nachfolgende Geschichte wud. Als Beispiel sei folgende Hauptgeschichte dargestellt. Im Verlauf dieser
Abhandlung werde ich noch öfters darauf Bezug nehmen.
Ein charakterlich sehr ungleiches Brüderpaar, der eine draufgängerisch und rücksichtslos, der andere bedächüg und hilfsbereit, wird von der Mutter auf dem Sterbebett zu unbedingter Einuacht verpflichtet Unter Berufung auf den letzten Willen der Mutter bringt der Draufgänger den Bedachtsamen in allerlei gefährliche und sogar kriminelle Situationen. Gegen seine innere Überzeugung gibt der Bedächtige dem Draufgänger stets nach und muß deswegen auch alle Nachteile der jeweiligen Abenteuer mit erdulden. Schließlich erlegt der Draufgänger ein gefährliches Ungeheuer, auf dessen Tötung der König als Belohnung die Hälfte seines Reiches ausgesetzt hatte. In seiner Unrast ist der Draufgänger im Begriff die Belohnung zu verspielen.
Da verstößt der Bedachtsame erstmals gegen den letzten Willen der Mutter, Uennt sich vom Draufgänger und gibt sich selbst vor dem König als Töter des Ungeheuers aus. Er erhält daraufhin die Belohnung, während der Draufgänger leer ausgeht. Die Moral: Trotz kurzfristiger Erfolge zahlt sich Draufgängertum letzüich doch nicht aus.
Zu dieser teilweise sehr dramatisch verlaufenden Geschichte gibt es eine
Vorgeschichte, in der in schwankhafter Weise der Ursprung der Mutter be¬
schrieben wird. Sie wird nicht wie normale Menschen geboren, sondem von
einem notorischen Langschläfer „erschnarcht".
Individuelle und kollektive Autorenschaft in der oralen Literatur der Temne 535
2.3. Unerschiede im Bereich der .Exposition'
Während in den traditionellen Erzählungen die Exposition im Umfang stets
knapp gehalten ist, um die Zuhörer möglichst schnell in die eigendiche Haupt¬
phase derGeschichte, den Aufbau eines Konflikts, zu führen, zieht Denkena die
Vorstellung der handelnden Charaktere und des Themas so sehr in die Länge,
daß die Zuhörer lange Zeit nicht wissen, worauf er eigentlich hinaus wül. Es ist
zunächst dieses Versteck- und Suchspiel, das die Zuhörer in Spannung bäh.
Noch ehe aber das Interesse erlahmt, pflegt Denkena, oft unter dem Gelächter der Zuhörer, die vielen Fäden, die er ausgelegt hat, mit wenigen Sätzen zu vereini¬
gen und dann mit dem Hauptteil seiner Geschichte zu beginnen.
In der oben in Umrissen dargestellten Geschichte von den beiden Brüdern
führt Denkena zunächst die Mutter der beiden ein. Obwohl ihre Funktion in der Hauptgeschichte allein darin besteht, daß sie auf dem Totenbett ihre beiden Söh¬
ne zu steter Einmütigkeit verpflichtet, woraus sich angesichts der ungleichen Charaktere der beiden der Konfliktstoff für den weiteren Aufbau der Handlung ergibt, schildert Denkena zunächst ihre Geburt. Bereits dadurch entsteht schon der Eindruck, daß sie die Hauptfigur derGeschichte sei. Danach bringt Denkena den Satz an: „Sie lebte erst drei Tage, als sie allen Verwandten erzählte, daß sie
nicht als Ehebrecherin, sonder als respeknerliche Ehefrau (auf die Welt)
gekommen sei". Hierdurch wüd eine Thematik angesprochen, die später in der
Hauptgeschichte keinerlei Bedeutung mehr hat. Nachdem er in ähnlicher Weise
noch zwei falsche Fährten gelegt hat, stellt Denkena endlich die beiden
Hauptfiguren der Geschichte vor: „Sie gebar Zwillingsknaben. Einer wurde
Draufgänger, der andere Bedachtsam genannt". Unmittelbar darauf folgt ein
Kommentar der bereits die Moral der Hauptgeschichte vorwegnimmt, ohne daß
dies aber die Zuhörer schon erkennen können: „Wenn ihr in dieser Welt ein Kind habt, das zu draufgängerisch ist, bitte, baut keine Hoffnungen darauf. Das be¬
dachtsame Kind wird gedeihen". Ehe Denkena die Sterbeszene schildert, aus der
die gesamte Haupthandlung ihren eigendichen Antrieb bezieht, weicht er
abermals vom direkten Weg ab: „Aber ich erzähle Dinge aus alter Zeit. Wenn
man damals in das Land der Toten gehen wollte, betrug der Taxi-Preis einen
Schilling. Heutzutage brauchen die Leute nichts zu bezahlen, wenn sie ins
Totenreich gehen. Wenn ihr an der Reihe seid, geht ihr, ohne einen Cent zu
bezahlen. Ob ihr es wollt oder nicht, wenn eure Zeit gekommen ist, geht ihr auf diese Reise". Inhaltlich steht diese Epidose dem Tod der Mutter in der un¬
mittelbar nachfolgenden Szene nahe. Auch der Gedanke vom Totenreich wud
danach noch einmal aufgegriffen, wenn sich die Zwillingsbrüder auf den Weg
machen, um ihre Mutter dort zu besuchen. Der Preis dieser Reise oder der an¬
dere Gedanke, ob man sich freiwillig oder gezwungen ins Totenreich begiebt,
spielt jedoch in der weiteren Geschichte überhaupt keine Rolle mehr. Es handelt
sich also auch hier um falsche Fährten. Nach mancherlei Verwirrungen dieser
Art, die alle im Abschnitt der Exposition stattfinden, nimmt Denkena endlich
den roten Faden der Hauptgeschichte mit folgenden Worten auf: „Es war viele
Jahre später, da schlug Draufgänger seinem Bruder Bedachtsam vor, sie sollten ins Totenreich reisen, um ihre Mutter zu i^esuchen. Bedachtsam stimmte sofort zu, denn sie sollten ja niemals uneins sein".
Ein traditioneller Erzähler bei den Temne hätte höchstwahrscheinlich die
ganze Exposition in drei Sätzen abgehandelt, wobei er zunächst die Brüder
vorgestellt hätte, dann das Vermächtnis der sterbenden Mutter, niemals uneins zu sein, und letzthch den Vorschlag des Draufgängers, die Mutter im Totenreich zu besuchen.
2.4 Kontrastierende Betrachtung des Abschnitts ,Aufbau eines Konflikts'
In den traditionellen Erzählungen der Teinne ist der individuellen Kreativität
der Erzähler insbesondere im zweiten Abschnitt, wo es um den Aufbau eines
Konflikts geht, ein weiter Spielraum gelassen. Im allgemeinen setzt sich dieser
Teil aus drei bis vier Episoden zusammen, die gegeneinander durch „Zwi¬
schenergebnisse" abgsetzt sind. Inhaltlich und der äußeren Form nach werden diese Episoden möglichst so gestaltet, daß sie die Spannung der Zuhörer stetig
erhöhen. Gute Erzähler erkennt man an ihrer Fähigkeit, wie spannungsvoll sie
diesen Erzählteil darzubieten verstehen. Eine kleine Geschichte aus dem Nord¬
osten des Temne-Gebiets mag dies veranschaulichen:
Ein prächtig anzusehender Vogel wird von der Sonne ausgebrütet. Er kennt also seine Mutter nicht. Nach dem Schlüpfen macht er sich auf den Weg, die Mutter zu suchen. Er begegnet allerlei häßUchen oder tölpelhaften Vögeln, die vorgeben, seine Mutter zu sein. Zur Probe läßt er sie vorsingen (jeweils eine neue Episode), stellt dabei den Betrug fest, bestraft sie (Zwi¬
schenergebnis) und sucht weiter, bis er am Ende seine echte Mutter findet. Die Spannung wird von Episode zu Episode dadurch erhöht, daß die Probegesänge und die Schilderungen des äußeren Gehabes der angeblichen Mütter immer grotesker ausfallen bzw. die Strafen immer dreister.
In Denkenas Erzählungen enthält der Aufbauteil wesendich mehr Episoden.
Bisher konnten bis zu zehn gezählt werden. Die meisten dieser Episoden sind
mehrteilig strukturiert, so daß sie, allein genommen, ihrerseits kleine Geschich¬
ten darstellen. In der Erzählung von dem ungleichen Brüderpaar kommt zu
Beginn der Reise ins Totenreich eine Episode vor, in der die Brüder einen rei¬
chen Mann ermorden, um seinen Besitz an sich zu bringen. Die Szene beginnt
damit, daß der Reiche die beiden zur Übernachtung in sein Haus bittet. Er
schlachtet zu ihren Ehren zwei Kühe und richtet ihnen ein Gastmal aus. Entge¬
gen dem Rat seiner Frauen läßt er sie überdies in seinem eigenen Zimmer
schlafen. In der Nacht weckt der Draufgänger seinen bedachtsamen Zwil-
Individuelle und kolleküve Autorenschaft in der oralen Literatur der Temne 537
lingsbruder und überredet ihn zum Mord am Gastgeber. Die ganze Szene ist über viele Sätze hinweg auf den Mord hin ausgerichtet. Wie in der Climax einer tra¬
ditionellen Erzählung handelt Denkena diesen Höhepunkt mit nur einem
einzigen Satz ab. Danach führt er die ganze Episode auf kürzestem Wege zum
Ende. Ein Wechselgesang leitet anschließend zu einer neuen Szene über.
Die einzelnen Episoden des Aufbauteils sind bei Denkena nicht nur mehr¬
teilig strukturiert, sie werden auch häufig durch Exkurse unterbrochen. Dabei
handelt es sich um Passagen, in denen der Erzähler aus dem Ablauf der Ge¬
schichte heraustritt und bestimmte Handlungen oder Verhaltensweisen von
außen her reflektiert. So findet sich in der soeben geschilderten Raubmord-
Szene beispielsweise folgende Passage: „Möge uns Gott vor den Gefahren des
Draufgängertums bewahren!". Eine derartige Technik konnte ich allerdings auch bei traditionellen Erzählern beobachten. Typisch für Denkena ist, daß bei
ihm derartige Kommentare häufiger vorkommen und daß diese inhaltlich stets
auf die Moral der Geschichte hin ausgerichtet sind. Meiner Meinung nach setzt Denkena dieses Mittel ganz bewußt ein, um den Zuhörern bei der komplizierten Struktur seiner Geschichten die Übersicht über die Thematik zu erhalten.
Wie bei den traditionellen Erzählern, so ist auch bei Denkena der Gang der
Handlungen im Aufbauteil durch häufige Wechselgesänge unterbrochen. In den
traditionellen Geschichten finden diese Wechselgesänge zwischen den Zuhö¬
rern und dem Erzähler statt. Bei Denkena wüd die Rolle der Zuhörer weitgehend
von mitgebrachten Helfern übernommen. Dies ist erforderlich, weil Denkenas
Lieder wie auch seine Erzählungen bei den Temne eben nicht allgemein bekannt sind. Denkena und seine Helfer begleiten die Lieder auf einer selbstgebauten Guitarre. Musikinstrumente kommen auch in traditionellen Erzählsituationen
gelegentlich zum Einsatz. Es handelt sich somit hier bei Denkena wiederum um
die Weiterführung eines in der Erzählkultur der Temne an sich bekannten Aus¬
drucksmittels.
Ein Süukturelement im Aufbauteil der Geschichten, das ich bisher nur in
Denkenas Erzählungen gefunden habe und von dem ich daher vermute, daß es
seine eigene Erfindung ist, besteht aus schwankhaften „Intermezzi", die an spannenden Stellen mitten in die Szenen der Hauptgeschichte hinein eingefügt
werden. Sie haben inhaltlich nichts oder nur ganz oberflächlich etwas mit der
eigentlichen Geschichte zu tun. Zum Beispiel findet sich in der Szene, wo die
ungleichen Brüder mit dem Ungeheuer zusammentreffen, folgendes Inter¬
mezzo:
„In jenen Tagen, von denen ich spreche, waren die Heuschrecken die Schneider Bevor die Heuschrecke das Schneiderhandwerk aufgab, nähte sie sich selber ein Kleid. Dabei fiel jedoch der Kragen zu groß aus. Bis zum heuügen Tage kann man daher die Wellenlinien hinter dem Hals sehen. Und wenn sich eine Heuschrecke an ihre Nähmaschine erinnert, macht sie „Kerrrrrr".
Diejenigen, die das nicht verstehen, meinen, die Heuschrecke weine. In Wirklichkeit erinnert sie sich jedoch nur an ihre Nähmaschine".
2.5 Bemerkungen zu den Abschnitten ,Climax', , And-Climax' und .Epilog'
In einem besonderen Abschnitt, den ich technisch als ..Climax" bezeichne,
wird in den Temne-Erzählungen die Handlung zur Konflikdösung geführt.
Danach folgen regelmäßig zwei oder drei Sätze, in denen berichtet wird, wie die übrigen Folgen der Konfliktlösung aussehen, technisch „Anti-Climax" genannt.
Das Ende einer Erzählung besteht häufig in einer expliziten Formulierung der
Moral der Geschichte oder in einer ethiologischen Erklärung. Ich bezeichne
diesen Abschnitt technisch als ..Epilog". In der bereits zitierten Geschichte vom
jungen Vogel, der seine Mutter suchte, lautet zum Beispiel der Schlußsatz der
mir vorliegenden Version: ..In ihrer Freude (darüber, daß sie sich gefunden hatten), schlugen sie so sehr mit den Flügeln, daß der Sturm, der dadurch ent¬
facht wurde, die Berge schuf, die ihr heute seht".
Auch Denkenas Erzählungen folgen diesem Bauplan. Während jedoch bei
einem traditionellen Erzähler aus Gründen der Dramatik diese Abschnitte
möglichst knapp formuliert werden, versteht es Denkena, durch eingestreute
Lieder und Kommentare auch hier zu dehnen und auszugestalten, ohne daß dabei
die Zuhörer die Spannung verlieren. Als Beispiel sei hier die Climax der Ge¬
schichte von den ungleichen Brüdem zidert:
„Der Bedachtsame ging und erstattete Bericht (über die Tötung des Ungeheuers), wobei er vor Angst schwitzte. Der König war so erfreut, daß er seinen Leuten auftrug. Bedachtsam auf den Prunksessel zu setzen und mit ihm durch die Stadt zu tanzen. - Es war ein lieblicher Anblick an jenem Tage. (Kommentar Denkenas, dem ein Wechselgesang folgt). -
Erzähler: Ich, Bedachtsam, ich habe die Königswürde bekommen.
Chor: Ja, gewiß!
Erzähler: Die Königswürde hat mich umarmt.
Chor: Ja, die Königswürde gehört dir, gehört dir.
Erzähler: Jedermann soll mir Luft zufächeln!
Es ist schön, König zu sein.
Chor: Ja, gewiß!
Erzähler: Es ist schön, König zu sein.
Chor: Ja, das Königreich gehört dir, gehört dir.
Erzähler: Ich habe das Ungeheuer getötet.
Chro: Ja, gewiß!
Erzähler: Fragt nur Denkena!
Chor: Ja, das Königreich gehört dir, gehört dir.
Da wurde ich vor Freude überwältigt. Bedachtsam sah so gut auf dem
Prachtsessel aus (Kommentar Denkenas)". - Der Epilog in dieser Geschichte unterscheidet sich im Gegensatz zur Climax nicht von dem einer traditionellen Erzählung. Er lautet: „Ein Draufgänger bleibt trotz seiner Dreistigkeit arm. Frist kein Kind, das Erfolg haben wird".
Individuelle und kollektive Autorenschaft in der oralen Literatur der Temne 539
3. Spezifische Merkmale individueller Autorenschaft im Bereich von Stil und Inhalt
3.1 Vergleichende Bemerkungen zum Stil
Die stilistische Ausgestaltung einer Geschichte ist weitgehend abhängig von
der Bildung, der Begabung und der Inspiration eines Erzählers. In der tra¬
ditionellen Ezählkunst der Temne ist daher der individuellen Kreativität auf
diesem Gebiet auch ein weiter Spiehaum gegeben. Die nachfolgend aufge¬
führten Stilelemente kennzeichnen den Stil Denkenas im Kontrast zu dem
ö-aditionellen Erzählgut, das bisher aufgezeichnet wurde. Ich möchte nicht
anschließen, daß bei einer größeren Sammlung das eine oder andere, im
Augenblick noch als spezifisch für Denkena erscheinende Stilmerkmal auch bei
traditionellen Erzählern nachgewiesen werden kann.
Das hervorstechendste Srilelement in den Geschichten Denkenas besteht
darin, daß Denkena stets selber eine Rolle in der Ich-Form übernimmt. In der
Geschichte von den ungleichen Brüdern findet sich in der bereits genannten
Episode vom Raubmord folgender Passus:
„Als sie sich zum Essen niedersetzten, wurde auch ich eingeladen. Ich schlug aber die Einladung aus. Stattdessen lief ich umher und beobachtete alles ganz genau, um euch die Begebenheiten erzählen zu können. Ich erzähle nicht geme Lügen".
Meist handelt es sich wie hier um die Rolle eines Beobachters. Gelegenüich tritt Denkena aber auch als Retter in der Not auf, als Tröster oder als Zeuge. Der
dadurch hervorgerufene Gegensatz zwischen einem ich-bezogenen, authen¬
tischen Bericht und dem ganz offensichtlich fiktiven und phantastischen Inhalt
der Erzählungen übt auf die Zuhörerschaft nach eigenen Auskünften eine be¬
sondere Faszination aus.
Wie bereits erwähnt, verwendet Denkena vorwiegend Lieder und Wechsel¬
gesänge, die dem Publikum noch nicht bekannt sind. Die darin verwendete
Wortwahl ist wie mir meine Gewährsleute versichern, poetisch überhöht. Da
Denkena nicht davon ausgehen kann, daß seine komplizierten Wechselgesänge
von den Zuhörern schnell aufgegriffen werden können, bringt er Gehilfen mit,
die die respondierende Rolle der Zuhörerschaft übernehmen. Auch bei Erzählern
traditioneller Geschichten habe ich gelegentlich beobachten können, daß
unbekannte Lieder verwendet wurden. In diesen Fällen übten die Erzähler die
Lieder an Ort und Stelle mit den Zuhörer ein oder sie gaben Regieanweisungen ans Publikum: „An diese Stelle müßt ihr wie folgt antworten: '...'".
Ein weiteres Stilmittel Denkenas besteht darin, die Grenzen zwischen heute und der grauen Vorzeit zu verwischen. Er erreicht dies dadurch, daß er Elemente der modemen Zivilisation in seine Geschichten, die alle „zu jener Zeit" spielen,
einbezieht. Das Ungeheuer, das der draufgängerische Bruder zur S trecke bringt, wohnt beispielsweise auf einem Baum, der so umfangreich ist, „daß ein Taxi ei¬
nen Tag braucht, um drum herumzufahren". Oder in einer anderen Episode heißt
es: „In der grauen Vorzeit wurden die Toten nicht beerdigt, sondem in beson¬
deren Gebäuden aufbewahrt. Wenn der Doktor vorbeikam, brauchte er den
Leichen nur eine Spritze zu geben. Selbst wenn jemand schon vor tausend Jahren gestorben war, wachte er dadurch mit der Vitalität eines Fünfzehnjährigen wie¬
der auf. Auf die Zuhörer wirken derartige Verbindungen oft grotesk, was Ge¬
lächter und allgemeine Heiterkeit hervorruft.
Im Vergleich zu traditionellen Erzählungen kommt die ungewöhnliche,
assoziative Verbindung von Gegenständen und Eigenschaften in den Geschich¬
ten Denkenas überaus häufig vor. Sprechende Hausgeräte, Blätter, die Men¬
schen fressen, und Eidechsen, die gefällte Bäume durch Berühren mit dem Kopf
wieder aufrichten, sind uns aus dem europäischen Märchen duchaus geläufig, in
afrikanischen Erzählungen, so auch in denen der Temne, kommen sie jedoch
eher selten vor. Denkena benutzt dieses Mittel jedoch nicht nur, um dadurch den Gang der Handlung nach Art des „Dens ex machina" zu beeinflussen, sondern,
von der Handlung her gesehen, in höchst überflüssiger Weise, ganz einfach um
seine Erzählungen auszuschmücken. Derartige Elemente verlangsamen den
Gang der Handlung und tragen so zur Erhöhung der Spannung bei. Abgesehen
davon, scheint von ihnen aber auch eine eigene ästhetische Faszination auf die Zuhörer auszugehen.
In den traditionellen Erzählungen sind die handelnden Charaktere ganz
überwiegend, ähnlich der Commedia del Arte oder dem Kasperletheater,
stereotyp angelegt: z.B. die eifersüchtige Hauptfrau in einem polygamen Haus¬
halt, die böse Stiefmutter, das ungehorsame Kind, das nicht dem Rat der Eltern
bei der Partnerwahl folgt, usw. In Denkenas Geschichten schimmern derartige
Elemente zwar auch durch, trotzdem sind seine Figuren irgendwie immer
individuell gestaltet. Dazu gehört, daß sie einen Namen tragen oder daß sie
Empfindungen zeigen. Das Stilmittel, möglichst spezifisch zu sein, zeigt sich
auch daran, daß Ortschaften mit eigenen Namen belegt werden, obwohl dies
vom Inhalt oder vom Gang der Geschichten her völlig unerheblich ist. Auch bei
Mengen- und Zeitangat)en ist Denkena sehr konkret. Beispielsweise baute ein
Mann ein Haus mit „173 Stockwerken". Mit Bezug auf sich selber sagt Denke¬
na, daß sein Geist bereits 400 Jahre, 4 Monate, 4 Stunden und 4 Minuten vor der
Geburt seines Körpers geschaffen wurde. Derartige Individualisierungen und
Konkredsiemngen dienen meines Erachtens dazu, den Charakter der Au¬
thentizität der Geschichten zu unterstützen. Sie scheinen mir ganz auf derselben
funktionalen Ebene zu liegen wie die häufig eingesn-euten Bemerkungen: „Ich
erzähle nicht geme Lügen" oder „ich habe dies mit eigenen Augen angesehen".
Schließlich sei in diesem Zusammenhang nochmals auf die „Intermezzi"
verwiesen, durch die Denkena den Gang der eigentlichen Handlung zur
Individuelle und kollektive Autorenschaft in der oralen Literatur der Temne 541
Erhöhung der Spannung unterbricht. Sie stellen in sich eigenständige Geschich¬
ten dar, die auch unabhängig von der Hauptgeschichte erzählt werden könnten.
Von der Struktur her erscheinen sie allerdings im Vergleich zu den „echten"
Erzählungen verkürzt. Sie bestehen in der Regel nur aus den drei Abschnitten
Exposition, Aufbauphase und Climax. Das bereits oben genannte Intermezzo-
S tück von den Heuschrecken als Schneider soll hier durch ein weiteres Beispiel ergänzt werden:
„In jenen Tagen liehen sich die Kakerlaken vom Huhn Geld, um ein Geschäft zu gründen. Seither ziehen sie es vor, eher in einer Flasche mit Palmöl zu sterben, als einem Huhn zu l)egcgnen. Denn wenn sieauf ein Huhn treffen, sagt dieses zu ihnen: ,Wo ihr nun bankrott seid, mache ich mir nicht mehr die Mühe, nach meinem Geld zu fragen, nach meinen leeren Taschen oder nach Reis' . Und dann frißt es die Kakerlaken als Rückzahlung einfach auf.
Die Exposition dieses Intermezzo-Stücks steckt überwiegend in den beiden
ersten Sätzen. Das ebenfalls dazugehörende Element der erfolglosen Geschäfts¬
gründung ist danach von den Zuhörern zwar schon zu erahnen, wird aber
ausdrücklich erst in der danach folgenden Aufbauphase, genauer gesagt, in der
direkten Rede des Huhns nachgeliefert. Die Climax des Stücks findet sich im
lapidaren Schlußsatz. Diese Intermezzi sind durchwegs Schwänke und als
solche beim Publikum sehr beliebt. Ihr Reiz besteht darin, daß sie in einer
verfremdenden Weise bestimmte, an sich alltägliche Elemente miteinander
verknüpfen. Kakerlaken gibt es am Erzählort als lästiges Ungeziefer in Mengen.
Eine Kakerlake, die in einer Flasche mit Palmöl ertrunken ist, dürfte daher jedem
Zuhörer schon einmal vorgekommen sein. Daß Hühner Kakerlaken fressen, ist
ebenfalls eine allgemein beobachtbare Tatsache. Die Geschichte bringt diese
Elemente in einen an sich nicht bestehenden Zusammenhang, indem sie den
Kakerlaken die Rolle der erfolglosen Unternehmer und den Hühnern die Rolle
der geprellten Kreditgeber zuweist. Die Darsteller aus dem Tierreich aus¬
zuwählen hat seine Parallele in den auch bei den Temne weit verbreiteten
Tiergeschichten, stellt also an sich im Vergleich zur traditionellen Wortkunst keine Neuerung dar. Typisch für diese Art von Tiergeschichten, die als Inter¬
mezzi in andere Geschichten eingefügt sind, ist jedoch die ungewöhnliche
Rollenzuweisung. Kakerlaken treten im traditionellen Erzählgut nicht als Un¬
ternehmer auf, und Hühner nicht als Kreditgeber. Besonders wichtig ist dabei
das thematische Element des Mißerfolgs, des Mißgeschicks oder des Geprellt¬
werdens.
3.2 Vergleichende Bemerlcungen zum Textinhalt
Sicherlich ist meine Sammlung von oralen Texten sowohl aus dem Munde
Denkenas als auch von anderen Temne-Erzählern noch zu klein, um bereits
Allgemeines über die Inhalte aussagen zu können. Es ist jedoch auffällig, daß
zwischen den Inhalten individueller und kollektiver Wortkunst grundlegende
Unterschiede bisher nicht hervorgetreten sind. Im Vordergrund beider Gattun¬
gen stehen allgemein menschliche Konflikte, gekennzeichnet durch Eifersucht,
Haß, Liebe, Neid usw., wobei Denkena, wie schon erwähnt, eine stärkere Per-
sonifiziemng der handelnden Figuren vornimmt. Man hat bei ihm das Gefühl,
daß er in seinen Geschichten ganz konkrete Personen, zu denen es lebende oder tote Vorbilder gibt, nachzeichnet. Demgegenüber verwendet ein gewöhnlicher
Erzähler im allgemeinen stereotype Charaktere, deren Handlungs- und Verhal¬
tensweisen geradezu vorhersagbar sind, sobald der Erzähler sie beim Namen
genannt hat.
Insgesamt ist die Temne-Literatur durch einen großen Motivreichtum
gekennzeichnet. Neben traditionell afrikanischen Motiven, zu denen sich Ge¬
genstücke übrigens sowohl in Ost- als auch in Südwestafrika finden, kommen
Modve vor, die eigentlich im Vorderen Orient, in Asien oder in Europa be¬
heimatet sind. In Anbetracht der Tatsache, daß diese Motive nahtlos in ihre
afrikanischen Kontexte integriert sind, kann man die ursprünglich europäischen
oder asiatischen Motive kaum als eine Folge der europäischen Kolonialzeit an¬
sehen. Ich neige stattdessen eher zu der Ansicht, sie als Zeugnisse alter, trans-
saharanischer Kulturbeziehungen anzusehen, die durch die Vermittlung anderer
afrikanischer Völker schließlich auch die Kultur der Temne voll durchdrungen haben.
Auf die Vorliebe Denkenas, den traditionellen Motiven modeme Attribute
der nachkolonialen Zivilisation beizugesellen, wurde bereits im Zusammenhang seiner stilistischen Eigenarten eingegangen. Diese Erzähltechnik hat natürlich
auch einen inhahlichen Aspekt, der in diesem Zusammenhang nochmals zu
erwähnen ist.
4. Schlußbemerkung
Bei dem Erzähler Denkena aus Lokomasama handelt es sich um einen indi¬
viduellen Autor, der sich einerseits der stilisrischen und formalen Möglichkei¬
ten der oralen Literatur bedient, um seine ganz persönliche Kreativität auf
diesem Gebiet zu entfalten, andererseits aber auch von diesen Möglichkeiten
irgendwie abhängig ist, indem ihm die Oralität im Vergleich zu einem schrei¬
benden Autor gewisse Beschränkungen in seiner künstlerischen Wirkung
auferlegt. Wenn wir orale Kunstwerke auf Schallträger aufnehmen und dadurch
Saharisch und Hamitosemiüsch 543
aus der einmaligen Erzählsituation herauslösen, dann schaffen wir neue Objelc- te mit einer eigenen Individualität und mit einer Lebensdauer, die, ungleich den
herkömmlichen Werken der oralen Kunst, über den Augenblick ihrer Schöp¬
fung und Gestaltung weit hinausreichen. Diesen neuen Objekten kommt eine
eigene künsderische Qualität zu, so daß der orale Autor an ihrem weiteren
Schicksal ein legitimes Interesse haben muß. Auch der Erzähler kollektiver
Wortkunst hat eigene Urheberrechte. Man trägt ihnen in der Regel dadurch
Rechung, daß man vorder Aufzeichnung seine Zustimmung einholt. Bei einem
Erzähler individueller Wortkunst sind die Urheberrechte jedoch umfassender.
Für die Feldforschungsmethodik bedeutet dies vor allem, daß man über die bloße
Zustimmung zu permanenter Aufzeichnung hinaus dem oralen Autor die
Mitschnitte von den Aufführungen seiner Kunstwerke vorlegt, damit er sie wie
ein schriftlich schaffender Autor stilistisch überarbeiten und gegebenenfalls der
neuen Verbreitungsart außerhalb einer konkreten Zuhörerschaft anpassen kann.
Darin liegt eine ganz neue Dimension der Zusammenarbeit zwischen dem ora¬
len Künstler und dem aufzeichnenden Wissenschaftler, die sicherlich noch
weiterer, instensiver Ueberlegungen bedarf.
SAHARISCH UND HAMITOSEMITISCH
Von Karel Peträcek, Prag
1.0. Das Saharische (SAH) wird heute meistens nach J.H. Greenberg dem
Nilo-Saharanischen zugeordnet, doch fmdet diese Zuordnung nicht immer
Zustimmung und es werden andere Beziehungen vorausgesetzt, die nach We¬
sten (H.G. Mukarovsky 1981 im Rahmen des West-Sahelischen; R. Nicolai
1984), nach Osten (O. Köhler 1975, über die nubosaharische Zone im Rahmen
der nilosaharanischen Nordregion; der saharische Grenzraum bei Th. C. Schade¬
berg 1981) oder explizit zum Hamitosemitischen (HS) führen (E. Cerulli 1961;
H.G. Mukai-ovsky 1981, u.a.).
Die innere Gliederung des SAH bietet keine größeren Probleme. Man
rechnet mit drei oder zwei Untergruppen. Wir schlagen folgende Gliederung
vor: Gruppe BER (BeRi-Sagawa, Berti-Sagato, Bideyat-Baele) im Osten, im
Westen die Gruppen TU (Tuda, Daza-Tubu) und KAN (Kanuri, Kanembu).
Laut unserer lexikalischen Analyse (Körperteile) teilte sich das Proto-
Saharische (P-SAH) zuerst in die Gruppen BER und TU, die KAN-Gruppe
entwickelte sich später aus der TU-Gruppe. Dies bezeugen klar folgende Ziffern,
die die Distribution der saharischen Wurzeln in den einzelnen Gruppen