• Keine Ergebnisse gefunden

(1)Individuelle und kollektive Autorenschaft in der oralen Literatur der Temne 531 Literatur Flores, Toni

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "(1)Individuelle und kollektive Autorenschaft in der oralen Literatur der Temne 531 Literatur Flores, Toni"

Copied!
13
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Individuelle und kollektive Autorenschaft in der oralen Literatur der Temne 531

Literatur

Flores, Toni. 1985. „The Anthropology of Aeslhcücs", Dialectical Anthropology 10: 27^1.

Innes, Gordon. 1965. „The Function of the Song in Mende Folktales", Sierra Leone Language Review 4: 54-63.

Jones, A.M. & Hazel Carter. 1967. „The Style of a Tonga Historical Narrative", African Language Studies 8: 93-126.

Komora, Yuda. 1971. Makombe Maiupu. (Hadithi za Kikwctu, 4). Nairobi.

Komora, Yuda. 1972a. Mpopoo Nena Mpopoo Teka. (Hadithi za Kikwetu, 10). Nairobi.

Komora, Yuda. 1972b. Haguruka na Ningio. (Hadiüii za Kikwetu, 11). Nairobi.

Komora, Yuda. 1972c. Samatongo na Hadithi Nyingine. (Hadithi za Kikwetu, 12). Nairobi.

Lexikon der Afrikanistik. Afrikanische Sprachen und ihre Erforschung. Hrsg. v. Herrmann Jungraidimayr u. Wilhelm J.G. Möhlig. Berlin 1983.

Russell, Joan. \ . Communicative Competence in a Minority Group. A Sociolinguistic Study of the Swahili-Speaking Community in the Old Town, Mombasa. Leiden.

Russell, Joan. 1984. „Women's Narration: Performance and the Marking of Verbal Aspect". In Swahili Language and Society. (Beiträge zur Afrikanistik, Bd. 23). Hrsg. v. Jean Maw u.

David Parkin. Wien. S. 89-105.

INDIVIDUELLE UND KOLLEKTIVE

AUTORENSCHAFT IN DER ORALEN LITERATUR DER

TEMNE (SIERRA LEONE)

Von Wilhelm J. G. Möhlig

1. Einleitung

Es ist eine weitverbreitete Vorstellung, orale Literatur gehöre zum kollek¬

tiven Besitz aller Miglieder einer besümmten Kultur oder Gesellschaft, indivi¬

duelle Autorenschaft sei hingegen ein typisches Merkmal schrifdich verfaßter Literatur. Schon Finnegan' ging gegen eine zu simplizistische Auslegung dieses

Konzepts an, indem sie darauf hinwies, daß die afrikanischen Erzähler bei der

Ausgestaltung ihrer Themen einen großen Spielraum eigener schöpferischer

Gestaltung besitzen: „In all respects the narrator is free to choose his own

treatment and most stories arise from the combination and recombination of

motifs and episodes with which the individual is free to build..." Abgesehen

davon, daß es auch auf diesem Gebiet von Kultur zu Kultur Unterschiede gibt.

1 Rudi Finnegan, Oral Literature in Africa, Nairobi 1976, p. 386.

(2)

dürfte die Feststellung Finnegans im großen und ganzen aber doch auf viele Erzählkulturen Afrikas zutreffen.

Bei meinen oralliterarischen Forschungen unter den Temne in den Jahren

1983 und 1984 bin ich erstmals mit einem Erzähler zusammengetroffen, dessen

Kreativität über das bloße Ausgestalten an sich bekannter Geschichten weit

hinausgeht. Der Künstler selber, der den Namen Denkena trägt, behauptet von

sich - und seine Mitbürger t)estätigen dies - daß er ein Repertohe von über

einhundert Geschichten besitze, die er selber erfunden habe. Er lebt in der

Häuptlingsschaft Lokomasama zwischen Port Loko und Freetown. Obwohl er

erst ungefähr 30 Jahre alt ist, genießt er in seiner Häuptlingsschaft aufgrund sei¬

ner Erzählkunst ein hohes Ansehen.

Wie bei den meisten Völkern Sierra Leones so ist auch bei den Temne, die

etwa ein Drittel der Landesbevölkerung ausmachen, die Erzählkunst noch sehr

lebendig. Männer, Frauen und Kinder treten nach Einbmch der Dunkelheit bei

allen möglichen Anlässen, bei großen Festen ebenso wie beim nachbarschaft¬

lichen Zusammensitzen nach des Tages Arbeit, als Erzähler auf Im Gmnde kann

jeder Geschichten erzählen. Es gibt aber einige Männer und Frauen, darunter

erstaunlicherweise auch einige sehr junge Menschen die als besonders gute

Erzähler bekannt sind, und die man dämm zu besonderen Anlässen einlädt, ihre

Kunst vorzuführen. Der Einladende, mehr aber noch die Zuhörer machen dem

Künstler anläßhch seines Vortrags oder unmittelbar danach Geldgeschenke, die

durchaus als Honorar aufgefaßt werden. Wohl selten fallen die Geschenke aber

so ergiebig aus, daß der betreffende Erzähler davon leben könnte. In dieser Er¬

zähltradition steht auch Denkena, allerdings mit dem Unterschied, daß er

ausschließlich selber verfaßte Geschichten vorträgt, mit denen er seinen Le¬

bensunterhalt bestreitet.

Von Herrn Dr. A.K. Turay (Fourah Bay College) wird zur Zeit in enger

Zusammenarbeit mit mir ein Projekt durchgeführt, das unter anderem zum Ziel

hat, das gesamte Repertoire Denkenas aufzunehmen und literarisch zu ana¬

lysieren. In diesem Rahmen hatte ich im September 1984 Gelegenheit, einen

unmittelbaren Eindmek von Denkenas Kunst zu bekommen. Die nachfolgen¬

den Ausfühmngen stützen sich im wesentlichen auf Tonbandaufnahmen, die bei

diesem Besuch gemacht wurden. Zwar ist die Materialbasis noch schmal, aber

dennoch lassen sich bereits jetzt schon einige Aussagen darüber machen, wie

sich Denkenas Geschichten von der „koUektiven" Oralliteratur der Temne unter¬

scheiden. Als Vergleichsrahmen dienen mir dabei Geschichten, die ich ebenfalls

in Zusammenarbeit mit A.K. Turay 1983 und 1984 an anderen Orten im Temne-

Land aufnehmen beziehungsweise analysieren konnte.

(3)

Individuelle und kollektive Autorenschaft in der oralen Literatur der Temne 533

2. Spezifische Merkmale individueller Autorenschaft im Bereich der Textgliedemng

2.1 Übersicht über die Abschnitte der Temne-Erzähltexte

Im äußeren Aufbau sind die individuellen den kollektiven Geschichten

weitgehend gleich. In beiden Erzähltypen lassen sich in der Regel folgende fünf Abschnitte unterscheiden:

1. Präambel (Eröffnung)

2. Exposition (Vorstellung des Themas und der Hauptfiguren)

3. Aufbau eines Konflikts (in mehreren Episoden bzw. Szenen)

4. Lösung des Konflikts (Climax) 5. Abgesang (And-Climax)

6. Epilog (Moral oder ethiologische Erklärung).

Die eigentlichen Unterschiede zwischen der kollektiven und Denkenas

individueller Erzählkunst findet man im inneren Aufbau der einzelnen Ab¬

schnitte. Abgesehen davon, daß die äußere Textgliederung von der Erzähl¬

dramatik irgendwie universell vorgegeben ist, dürfte die weitgehende Über¬

einstimmung zwischen den individuellen und den kollektiven Geschichten in

diesem Bereich auch einfach daher rühren, daß Denkena aus der traditionellen

Erzählkunst hervorgegangen ist. Seine Loslösung wird sich nur allmählich

vollzogen haben. Möglicherweise ist dieser Prozeß, wie eine spätere Analyse

seines derzeitigen Repertoires ergeben könnte, auch heute noch nicht ganz

abgeschlossen.

2.2. Betrachtungen zur .Präambel'

Traditionell gehört zu jeder Geschichte eine Präambel. Diese besteht darin, daß irgendeiner, der eine Geschichte erzählen möchte, eine charakteristische

Passage, meistens ein Lied, aus dieser Geschichte vorträgt. Jemand aus der

Zuhörerschaft unterbricht ihn mit den Worten: „Laß deine Geschichte hören!"

oder „Was ist geschehen?" Unterbleibt diese Reaktion aus der Zuhörerschaft, darf der Betreffende seine Geschichte nicht erzählen. Ich war selber Zeuge einer

Vorstellung, wo die Zuhörer, wohl um den Erzähler zu necken, die fordernde

Formel längere Zeit absichtlich nicht sagten. Als der Erzähler dies merkte,

unterbrach er seinen Singsang mit den Worten „Auch wenn keiner von euch

mich fragt, was geschehen sei, erzähle ich euch meine Geschichte trotzdem" und

dann fing er ohne weitere Umschweife unter allgemeinem Gelächter mit seiner

Erzählung an.

(4)

Denkena pflegt seine Zuhörer vor der ersten Geschichte zu begrüßen, die

herkömmlichen Einleitungsformeln benutzt er jedoch nicht. Das mag durch die

besonderen Umstände seiner Auftritte bedingt sein. Wenn er die traditionelle

Einleitungsformel gebrauchte, würde er dadurch die Ernsthaftigkeit der

Einladung, die ihn zum Erzählort gebracht hat, induekt in Zweifel ziehen. Auch

sein Rang als allgemein anerkannter Meister der oralen Kunst würde es kaum

zulassen, daß er sein Publikum um Erlaubnis bittet, seine Geschichten erzählen

zu dürfen. Aus seiner Sicht sind die Werte genau umgekehrt verteilt: das

Publikum muß ihn bitten, seine Geschieben hören zu dürfen. Statt der her¬

kömmlichen Präambel wendet Denkena in der Einleitungsphase regelmäßig

zwei andere Techniken an, um die Zuhörer auf den Stoff seiner Erzählung

einzustimmen. Zum einen betont er die Authentizität seiner Geschichten, indem er vorgibt, die Ereignisse seiner Erzählungen mit eigenen Augen erlebt zu haben, auch wenn sie sich in grauer Vorzeit ereignet haben mögen. Zum anderen schickt er seinen eigentlichen Geschichten kürzere „Vorgeschichten" voraus, die mit der

Hauptgeschichte thematisch nur einen losen und oberflächlichen Zusam¬

menhang bilden. Wenn er mit seinen Erzählungen richdg in Fahrt gekommen ist,

verkettet er auch mehrere Geschichten miteinander, indem die jeweils

vorangehende Geschichte zur „Vorgeschichte" für die nachfolgende Geschichte wud. Als Beispiel sei folgende Hauptgeschichte dargestellt. Im Verlauf dieser

Abhandlung werde ich noch öfters darauf Bezug nehmen.

Ein charakterlich sehr ungleiches Brüderpaar, der eine draufgängerisch und rücksichtslos, der andere bedächüg und hilfsbereit, wird von der Mutter auf dem Sterbebett zu unbedingter Einuacht verpflichtet Unter Berufung auf den letzten Willen der Mutter bringt der Draufgänger den Bedachtsamen in allerlei gefährliche und sogar kriminelle Situationen. Gegen seine innere Überzeugung gibt der Bedächtige dem Draufgänger stets nach und muß deswegen auch alle Nachteile der jeweiligen Abenteuer mit erdulden. Schließlich erlegt der Draufgänger ein gefährliches Ungeheuer, auf dessen Tötung der König als Belohnung die Hälfte seines Reiches ausgesetzt hatte. In seiner Unrast ist der Draufgänger im Begriff die Belohnung zu verspielen.

Da verstößt der Bedachtsame erstmals gegen den letzten Willen der Mutter, Uennt sich vom Draufgänger und gibt sich selbst vor dem König als Töter des Ungeheuers aus. Er erhält daraufhin die Belohnung, während der Draufgänger leer ausgeht. Die Moral: Trotz kurzfristiger Erfolge zahlt sich Draufgängertum letzüich doch nicht aus.

Zu dieser teilweise sehr dramatisch verlaufenden Geschichte gibt es eine

Vorgeschichte, in der in schwankhafter Weise der Ursprung der Mutter be¬

schrieben wird. Sie wird nicht wie normale Menschen geboren, sondem von

einem notorischen Langschläfer „erschnarcht".

(5)

Individuelle und kollektive Autorenschaft in der oralen Literatur der Temne 535

2.3. Unerschiede im Bereich der .Exposition'

Während in den traditionellen Erzählungen die Exposition im Umfang stets

knapp gehalten ist, um die Zuhörer möglichst schnell in die eigendiche Haupt¬

phase derGeschichte, den Aufbau eines Konflikts, zu führen, zieht Denkena die

Vorstellung der handelnden Charaktere und des Themas so sehr in die Länge,

daß die Zuhörer lange Zeit nicht wissen, worauf er eigentlich hinaus wül. Es ist

zunächst dieses Versteck- und Suchspiel, das die Zuhörer in Spannung bäh.

Noch ehe aber das Interesse erlahmt, pflegt Denkena, oft unter dem Gelächter der Zuhörer, die vielen Fäden, die er ausgelegt hat, mit wenigen Sätzen zu vereini¬

gen und dann mit dem Hauptteil seiner Geschichte zu beginnen.

In der oben in Umrissen dargestellten Geschichte von den beiden Brüdern

führt Denkena zunächst die Mutter der beiden ein. Obwohl ihre Funktion in der Hauptgeschichte allein darin besteht, daß sie auf dem Totenbett ihre beiden Söh¬

ne zu steter Einmütigkeit verpflichtet, woraus sich angesichts der ungleichen Charaktere der beiden der Konfliktstoff für den weiteren Aufbau der Handlung ergibt, schildert Denkena zunächst ihre Geburt. Bereits dadurch entsteht schon der Eindruck, daß sie die Hauptfigur derGeschichte sei. Danach bringt Denkena den Satz an: „Sie lebte erst drei Tage, als sie allen Verwandten erzählte, daß sie

nicht als Ehebrecherin, sonder als respeknerliche Ehefrau (auf die Welt)

gekommen sei". Hierdurch wüd eine Thematik angesprochen, die später in der

Hauptgeschichte keinerlei Bedeutung mehr hat. Nachdem er in ähnlicher Weise

noch zwei falsche Fährten gelegt hat, stellt Denkena endlich die beiden

Hauptfiguren der Geschichte vor: „Sie gebar Zwillingsknaben. Einer wurde

Draufgänger, der andere Bedachtsam genannt". Unmittelbar darauf folgt ein

Kommentar der bereits die Moral der Hauptgeschichte vorwegnimmt, ohne daß

dies aber die Zuhörer schon erkennen können: „Wenn ihr in dieser Welt ein Kind habt, das zu draufgängerisch ist, bitte, baut keine Hoffnungen darauf. Das be¬

dachtsame Kind wird gedeihen". Ehe Denkena die Sterbeszene schildert, aus der

die gesamte Haupthandlung ihren eigendichen Antrieb bezieht, weicht er

abermals vom direkten Weg ab: „Aber ich erzähle Dinge aus alter Zeit. Wenn

man damals in das Land der Toten gehen wollte, betrug der Taxi-Preis einen

Schilling. Heutzutage brauchen die Leute nichts zu bezahlen, wenn sie ins

Totenreich gehen. Wenn ihr an der Reihe seid, geht ihr, ohne einen Cent zu

bezahlen. Ob ihr es wollt oder nicht, wenn eure Zeit gekommen ist, geht ihr auf diese Reise". Inhaltlich steht diese Epidose dem Tod der Mutter in der un¬

mittelbar nachfolgenden Szene nahe. Auch der Gedanke vom Totenreich wud

danach noch einmal aufgegriffen, wenn sich die Zwillingsbrüder auf den Weg

machen, um ihre Mutter dort zu besuchen. Der Preis dieser Reise oder der an¬

dere Gedanke, ob man sich freiwillig oder gezwungen ins Totenreich begiebt,

spielt jedoch in der weiteren Geschichte überhaupt keine Rolle mehr. Es handelt

sich also auch hier um falsche Fährten. Nach mancherlei Verwirrungen dieser

(6)

Art, die alle im Abschnitt der Exposition stattfinden, nimmt Denkena endlich

den roten Faden der Hauptgeschichte mit folgenden Worten auf: „Es war viele

Jahre später, da schlug Draufgänger seinem Bruder Bedachtsam vor, sie sollten ins Totenreich reisen, um ihre Mutter zu i^esuchen. Bedachtsam stimmte sofort zu, denn sie sollten ja niemals uneins sein".

Ein traditioneller Erzähler bei den Temne hätte höchstwahrscheinlich die

ganze Exposition in drei Sätzen abgehandelt, wobei er zunächst die Brüder

vorgestellt hätte, dann das Vermächtnis der sterbenden Mutter, niemals uneins zu sein, und letzthch den Vorschlag des Draufgängers, die Mutter im Totenreich zu besuchen.

2.4 Kontrastierende Betrachtung des Abschnitts ,Aufbau eines Konflikts'

In den traditionellen Erzählungen der Teinne ist der individuellen Kreativität

der Erzähler insbesondere im zweiten Abschnitt, wo es um den Aufbau eines

Konflikts geht, ein weiter Spielraum gelassen. Im allgemeinen setzt sich dieser

Teil aus drei bis vier Episoden zusammen, die gegeneinander durch „Zwi¬

schenergebnisse" abgsetzt sind. Inhaltlich und der äußeren Form nach werden diese Episoden möglichst so gestaltet, daß sie die Spannung der Zuhörer stetig

erhöhen. Gute Erzähler erkennt man an ihrer Fähigkeit, wie spannungsvoll sie

diesen Erzählteil darzubieten verstehen. Eine kleine Geschichte aus dem Nord¬

osten des Temne-Gebiets mag dies veranschaulichen:

Ein prächtig anzusehender Vogel wird von der Sonne ausgebrütet. Er kennt also seine Mutter nicht. Nach dem Schlüpfen macht er sich auf den Weg, die Mutter zu suchen. Er begegnet allerlei häßUchen oder tölpelhaften Vögeln, die vorgeben, seine Mutter zu sein. Zur Probe läßt er sie vorsingen (jeweils eine neue Episode), stellt dabei den Betrug fest, bestraft sie (Zwi¬

schenergebnis) und sucht weiter, bis er am Ende seine echte Mutter findet. Die Spannung wird von Episode zu Episode dadurch erhöht, daß die Probegesänge und die Schilderungen des äußeren Gehabes der angeblichen Mütter immer grotesker ausfallen bzw. die Strafen immer dreister.

In Denkenas Erzählungen enthält der Aufbauteil wesendich mehr Episoden.

Bisher konnten bis zu zehn gezählt werden. Die meisten dieser Episoden sind

mehrteilig strukturiert, so daß sie, allein genommen, ihrerseits kleine Geschich¬

ten darstellen. In der Erzählung von dem ungleichen Brüderpaar kommt zu

Beginn der Reise ins Totenreich eine Episode vor, in der die Brüder einen rei¬

chen Mann ermorden, um seinen Besitz an sich zu bringen. Die Szene beginnt

damit, daß der Reiche die beiden zur Übernachtung in sein Haus bittet. Er

schlachtet zu ihren Ehren zwei Kühe und richtet ihnen ein Gastmal aus. Entge¬

gen dem Rat seiner Frauen läßt er sie überdies in seinem eigenen Zimmer

schlafen. In der Nacht weckt der Draufgänger seinen bedachtsamen Zwil-

(7)

Individuelle und kolleküve Autorenschaft in der oralen Literatur der Temne 537

lingsbruder und überredet ihn zum Mord am Gastgeber. Die ganze Szene ist über viele Sätze hinweg auf den Mord hin ausgerichtet. Wie in der Climax einer tra¬

ditionellen Erzählung handelt Denkena diesen Höhepunkt mit nur einem

einzigen Satz ab. Danach führt er die ganze Episode auf kürzestem Wege zum

Ende. Ein Wechselgesang leitet anschließend zu einer neuen Szene über.

Die einzelnen Episoden des Aufbauteils sind bei Denkena nicht nur mehr¬

teilig strukturiert, sie werden auch häufig durch Exkurse unterbrochen. Dabei

handelt es sich um Passagen, in denen der Erzähler aus dem Ablauf der Ge¬

schichte heraustritt und bestimmte Handlungen oder Verhaltensweisen von

außen her reflektiert. So findet sich in der soeben geschilderten Raubmord-

Szene beispielsweise folgende Passage: „Möge uns Gott vor den Gefahren des

Draufgängertums bewahren!". Eine derartige Technik konnte ich allerdings auch bei traditionellen Erzählern beobachten. Typisch für Denkena ist, daß bei

ihm derartige Kommentare häufiger vorkommen und daß diese inhaltlich stets

auf die Moral der Geschichte hin ausgerichtet sind. Meiner Meinung nach setzt Denkena dieses Mittel ganz bewußt ein, um den Zuhörern bei der komplizierten Struktur seiner Geschichten die Übersicht über die Thematik zu erhalten.

Wie bei den traditionellen Erzählern, so ist auch bei Denkena der Gang der

Handlungen im Aufbauteil durch häufige Wechselgesänge unterbrochen. In den

traditionellen Geschichten finden diese Wechselgesänge zwischen den Zuhö¬

rern und dem Erzähler statt. Bei Denkena wüd die Rolle der Zuhörer weitgehend

von mitgebrachten Helfern übernommen. Dies ist erforderlich, weil Denkenas

Lieder wie auch seine Erzählungen bei den Temne eben nicht allgemein bekannt sind. Denkena und seine Helfer begleiten die Lieder auf einer selbstgebauten Guitarre. Musikinstrumente kommen auch in traditionellen Erzählsituationen

gelegentlich zum Einsatz. Es handelt sich somit hier bei Denkena wiederum um

die Weiterführung eines in der Erzählkultur der Temne an sich bekannten Aus¬

drucksmittels.

Ein Süukturelement im Aufbauteil der Geschichten, das ich bisher nur in

Denkenas Erzählungen gefunden habe und von dem ich daher vermute, daß es

seine eigene Erfindung ist, besteht aus schwankhaften „Intermezzi", die an spannenden Stellen mitten in die Szenen der Hauptgeschichte hinein eingefügt

werden. Sie haben inhaltlich nichts oder nur ganz oberflächlich etwas mit der

eigentlichen Geschichte zu tun. Zum Beispiel findet sich in der Szene, wo die

ungleichen Brüder mit dem Ungeheuer zusammentreffen, folgendes Inter¬

mezzo:

„In jenen Tagen, von denen ich spreche, waren die Heuschrecken die Schneider Bevor die Heuschrecke das Schneiderhandwerk aufgab, nähte sie sich selber ein Kleid. Dabei fiel jedoch der Kragen zu groß aus. Bis zum heuügen Tage kann man daher die Wellenlinien hinter dem Hals sehen. Und wenn sich eine Heuschrecke an ihre Nähmaschine erinnert, macht sie „Kerrrrrr".

Diejenigen, die das nicht verstehen, meinen, die Heuschrecke weine. In Wirklichkeit erinnert sie sich jedoch nur an ihre Nähmaschine".

(8)

2.5 Bemerkungen zu den Abschnitten ,Climax', , And-Climax' und .Epilog'

In einem besonderen Abschnitt, den ich technisch als ..Climax" bezeichne,

wird in den Temne-Erzählungen die Handlung zur Konflikdösung geführt.

Danach folgen regelmäßig zwei oder drei Sätze, in denen berichtet wird, wie die übrigen Folgen der Konfliktlösung aussehen, technisch „Anti-Climax" genannt.

Das Ende einer Erzählung besteht häufig in einer expliziten Formulierung der

Moral der Geschichte oder in einer ethiologischen Erklärung. Ich bezeichne

diesen Abschnitt technisch als ..Epilog". In der bereits zitierten Geschichte vom

jungen Vogel, der seine Mutter suchte, lautet zum Beispiel der Schlußsatz der

mir vorliegenden Version: ..In ihrer Freude (darüber, daß sie sich gefunden hatten), schlugen sie so sehr mit den Flügeln, daß der Sturm, der dadurch ent¬

facht wurde, die Berge schuf, die ihr heute seht".

Auch Denkenas Erzählungen folgen diesem Bauplan. Während jedoch bei

einem traditionellen Erzähler aus Gründen der Dramatik diese Abschnitte

möglichst knapp formuliert werden, versteht es Denkena, durch eingestreute

Lieder und Kommentare auch hier zu dehnen und auszugestalten, ohne daß dabei

die Zuhörer die Spannung verlieren. Als Beispiel sei hier die Climax der Ge¬

schichte von den ungleichen Brüdem zidert:

„Der Bedachtsame ging und erstattete Bericht (über die Tötung des Ungeheuers), wobei er vor Angst schwitzte. Der König war so erfreut, daß er seinen Leuten auftrug. Bedachtsam auf den Prunksessel zu setzen und mit ihm durch die Stadt zu tanzen. - Es war ein lieblicher Anblick an jenem Tage. (Kommentar Denkenas, dem ein Wechselgesang folgt). -

Erzähler: Ich, Bedachtsam, ich habe die Königswürde bekommen.

Chor: Ja, gewiß!

Erzähler: Die Königswürde hat mich umarmt.

Chor: Ja, die Königswürde gehört dir, gehört dir.

Erzähler: Jedermann soll mir Luft zufächeln!

Es ist schön, König zu sein.

Chor: Ja, gewiß!

Erzähler: Es ist schön, König zu sein.

Chor: Ja, das Königreich gehört dir, gehört dir.

Erzähler: Ich habe das Ungeheuer getötet.

Chro: Ja, gewiß!

Erzähler: Fragt nur Denkena!

Chor: Ja, das Königreich gehört dir, gehört dir.

Da wurde ich vor Freude überwältigt. Bedachtsam sah so gut auf dem

Prachtsessel aus (Kommentar Denkenas)". - Der Epilog in dieser Geschichte unterscheidet sich im Gegensatz zur Climax nicht von dem einer traditionellen Erzählung. Er lautet: „Ein Draufgänger bleibt trotz seiner Dreistigkeit arm. Frist kein Kind, das Erfolg haben wird".

(9)

Individuelle und kollektive Autorenschaft in der oralen Literatur der Temne 539

3. Spezifische Merkmale individueller Autorenschaft im Bereich von Stil und Inhalt

3.1 Vergleichende Bemerkungen zum Stil

Die stilistische Ausgestaltung einer Geschichte ist weitgehend abhängig von

der Bildung, der Begabung und der Inspiration eines Erzählers. In der tra¬

ditionellen Ezählkunst der Temne ist daher der individuellen Kreativität auf

diesem Gebiet auch ein weiter Spiehaum gegeben. Die nachfolgend aufge¬

führten Stilelemente kennzeichnen den Stil Denkenas im Kontrast zu dem

ö-aditionellen Erzählgut, das bisher aufgezeichnet wurde. Ich möchte nicht

anschließen, daß bei einer größeren Sammlung das eine oder andere, im

Augenblick noch als spezifisch für Denkena erscheinende Stilmerkmal auch bei

traditionellen Erzählern nachgewiesen werden kann.

Das hervorstechendste Srilelement in den Geschichten Denkenas besteht

darin, daß Denkena stets selber eine Rolle in der Ich-Form übernimmt. In der

Geschichte von den ungleichen Brüdern findet sich in der bereits genannten

Episode vom Raubmord folgender Passus:

„Als sie sich zum Essen niedersetzten, wurde auch ich eingeladen. Ich schlug aber die Einladung aus. Stattdessen lief ich umher und beobachtete alles ganz genau, um euch die Begebenheiten erzählen zu können. Ich erzähle nicht geme Lügen".

Meist handelt es sich wie hier um die Rolle eines Beobachters. Gelegenüich tritt Denkena aber auch als Retter in der Not auf, als Tröster oder als Zeuge. Der

dadurch hervorgerufene Gegensatz zwischen einem ich-bezogenen, authen¬

tischen Bericht und dem ganz offensichtlich fiktiven und phantastischen Inhalt

der Erzählungen übt auf die Zuhörerschaft nach eigenen Auskünften eine be¬

sondere Faszination aus.

Wie bereits erwähnt, verwendet Denkena vorwiegend Lieder und Wechsel¬

gesänge, die dem Publikum noch nicht bekannt sind. Die darin verwendete

Wortwahl ist wie mir meine Gewährsleute versichern, poetisch überhöht. Da

Denkena nicht davon ausgehen kann, daß seine komplizierten Wechselgesänge

von den Zuhörern schnell aufgegriffen werden können, bringt er Gehilfen mit,

die die respondierende Rolle der Zuhörerschaft übernehmen. Auch bei Erzählern

traditioneller Geschichten habe ich gelegentlich beobachten können, daß

unbekannte Lieder verwendet wurden. In diesen Fällen übten die Erzähler die

Lieder an Ort und Stelle mit den Zuhörer ein oder sie gaben Regieanweisungen ans Publikum: „An diese Stelle müßt ihr wie folgt antworten: '...'".

Ein weiteres Stilmittel Denkenas besteht darin, die Grenzen zwischen heute und der grauen Vorzeit zu verwischen. Er erreicht dies dadurch, daß er Elemente der modemen Zivilisation in seine Geschichten, die alle „zu jener Zeit" spielen,

(10)

einbezieht. Das Ungeheuer, das der draufgängerische Bruder zur S trecke bringt, wohnt beispielsweise auf einem Baum, der so umfangreich ist, „daß ein Taxi ei¬

nen Tag braucht, um drum herumzufahren". Oder in einer anderen Episode heißt

es: „In der grauen Vorzeit wurden die Toten nicht beerdigt, sondem in beson¬

deren Gebäuden aufbewahrt. Wenn der Doktor vorbeikam, brauchte er den

Leichen nur eine Spritze zu geben. Selbst wenn jemand schon vor tausend Jahren gestorben war, wachte er dadurch mit der Vitalität eines Fünfzehnjährigen wie¬

der auf. Auf die Zuhörer wirken derartige Verbindungen oft grotesk, was Ge¬

lächter und allgemeine Heiterkeit hervorruft.

Im Vergleich zu traditionellen Erzählungen kommt die ungewöhnliche,

assoziative Verbindung von Gegenständen und Eigenschaften in den Geschich¬

ten Denkenas überaus häufig vor. Sprechende Hausgeräte, Blätter, die Men¬

schen fressen, und Eidechsen, die gefällte Bäume durch Berühren mit dem Kopf

wieder aufrichten, sind uns aus dem europäischen Märchen duchaus geläufig, in

afrikanischen Erzählungen, so auch in denen der Temne, kommen sie jedoch

eher selten vor. Denkena benutzt dieses Mittel jedoch nicht nur, um dadurch den Gang der Handlung nach Art des „Dens ex machina" zu beeinflussen, sondern,

von der Handlung her gesehen, in höchst überflüssiger Weise, ganz einfach um

seine Erzählungen auszuschmücken. Derartige Elemente verlangsamen den

Gang der Handlung und tragen so zur Erhöhung der Spannung bei. Abgesehen

davon, scheint von ihnen aber auch eine eigene ästhetische Faszination auf die Zuhörer auszugehen.

In den traditionellen Erzählungen sind die handelnden Charaktere ganz

überwiegend, ähnlich der Commedia del Arte oder dem Kasperletheater,

stereotyp angelegt: z.B. die eifersüchtige Hauptfrau in einem polygamen Haus¬

halt, die böse Stiefmutter, das ungehorsame Kind, das nicht dem Rat der Eltern

bei der Partnerwahl folgt, usw. In Denkenas Geschichten schimmern derartige

Elemente zwar auch durch, trotzdem sind seine Figuren irgendwie immer

individuell gestaltet. Dazu gehört, daß sie einen Namen tragen oder daß sie

Empfindungen zeigen. Das Stilmittel, möglichst spezifisch zu sein, zeigt sich

auch daran, daß Ortschaften mit eigenen Namen belegt werden, obwohl dies

vom Inhalt oder vom Gang der Geschichten her völlig unerheblich ist. Auch bei

Mengen- und Zeitangat)en ist Denkena sehr konkret. Beispielsweise baute ein

Mann ein Haus mit „173 Stockwerken". Mit Bezug auf sich selber sagt Denke¬

na, daß sein Geist bereits 400 Jahre, 4 Monate, 4 Stunden und 4 Minuten vor der

Geburt seines Körpers geschaffen wurde. Derartige Individualisierungen und

Konkredsiemngen dienen meines Erachtens dazu, den Charakter der Au¬

thentizität der Geschichten zu unterstützen. Sie scheinen mir ganz auf derselben

funktionalen Ebene zu liegen wie die häufig eingesn-euten Bemerkungen: „Ich

erzähle nicht geme Lügen" oder „ich habe dies mit eigenen Augen angesehen".

Schließlich sei in diesem Zusammenhang nochmals auf die „Intermezzi"

verwiesen, durch die Denkena den Gang der eigentlichen Handlung zur

(11)

Individuelle und kollektive Autorenschaft in der oralen Literatur der Temne 541

Erhöhung der Spannung unterbricht. Sie stellen in sich eigenständige Geschich¬

ten dar, die auch unabhängig von der Hauptgeschichte erzählt werden könnten.

Von der Struktur her erscheinen sie allerdings im Vergleich zu den „echten"

Erzählungen verkürzt. Sie bestehen in der Regel nur aus den drei Abschnitten

Exposition, Aufbauphase und Climax. Das bereits oben genannte Intermezzo-

S tück von den Heuschrecken als Schneider soll hier durch ein weiteres Beispiel ergänzt werden:

„In jenen Tagen liehen sich die Kakerlaken vom Huhn Geld, um ein Geschäft zu gründen. Seither ziehen sie es vor, eher in einer Flasche mit Palmöl zu sterben, als einem Huhn zu l)egcgnen. Denn wenn sieauf ein Huhn treffen, sagt dieses zu ihnen: ,Wo ihr nun bankrott seid, mache ich mir nicht mehr die Mühe, nach meinem Geld zu fragen, nach meinen leeren Taschen oder nach Reis' . Und dann frißt es die Kakerlaken als Rückzahlung einfach auf.

Die Exposition dieses Intermezzo-Stücks steckt überwiegend in den beiden

ersten Sätzen. Das ebenfalls dazugehörende Element der erfolglosen Geschäfts¬

gründung ist danach von den Zuhörern zwar schon zu erahnen, wird aber

ausdrücklich erst in der danach folgenden Aufbauphase, genauer gesagt, in der

direkten Rede des Huhns nachgeliefert. Die Climax des Stücks findet sich im

lapidaren Schlußsatz. Diese Intermezzi sind durchwegs Schwänke und als

solche beim Publikum sehr beliebt. Ihr Reiz besteht darin, daß sie in einer

verfremdenden Weise bestimmte, an sich alltägliche Elemente miteinander

verknüpfen. Kakerlaken gibt es am Erzählort als lästiges Ungeziefer in Mengen.

Eine Kakerlake, die in einer Flasche mit Palmöl ertrunken ist, dürfte daher jedem

Zuhörer schon einmal vorgekommen sein. Daß Hühner Kakerlaken fressen, ist

ebenfalls eine allgemein beobachtbare Tatsache. Die Geschichte bringt diese

Elemente in einen an sich nicht bestehenden Zusammenhang, indem sie den

Kakerlaken die Rolle der erfolglosen Unternehmer und den Hühnern die Rolle

der geprellten Kreditgeber zuweist. Die Darsteller aus dem Tierreich aus¬

zuwählen hat seine Parallele in den auch bei den Temne weit verbreiteten

Tiergeschichten, stellt also an sich im Vergleich zur traditionellen Wortkunst keine Neuerung dar. Typisch für diese Art von Tiergeschichten, die als Inter¬

mezzi in andere Geschichten eingefügt sind, ist jedoch die ungewöhnliche

Rollenzuweisung. Kakerlaken treten im traditionellen Erzählgut nicht als Un¬

ternehmer auf, und Hühner nicht als Kreditgeber. Besonders wichtig ist dabei

das thematische Element des Mißerfolgs, des Mißgeschicks oder des Geprellt¬

werdens.

(12)

3.2 Vergleichende Bemerlcungen zum Textinhalt

Sicherlich ist meine Sammlung von oralen Texten sowohl aus dem Munde

Denkenas als auch von anderen Temne-Erzählern noch zu klein, um bereits

Allgemeines über die Inhalte aussagen zu können. Es ist jedoch auffällig, daß

zwischen den Inhalten individueller und kollektiver Wortkunst grundlegende

Unterschiede bisher nicht hervorgetreten sind. Im Vordergrund beider Gattun¬

gen stehen allgemein menschliche Konflikte, gekennzeichnet durch Eifersucht,

Haß, Liebe, Neid usw., wobei Denkena, wie schon erwähnt, eine stärkere Per-

sonifiziemng der handelnden Figuren vornimmt. Man hat bei ihm das Gefühl,

daß er in seinen Geschichten ganz konkrete Personen, zu denen es lebende oder tote Vorbilder gibt, nachzeichnet. Demgegenüber verwendet ein gewöhnlicher

Erzähler im allgemeinen stereotype Charaktere, deren Handlungs- und Verhal¬

tensweisen geradezu vorhersagbar sind, sobald der Erzähler sie beim Namen

genannt hat.

Insgesamt ist die Temne-Literatur durch einen großen Motivreichtum

gekennzeichnet. Neben traditionell afrikanischen Motiven, zu denen sich Ge¬

genstücke übrigens sowohl in Ost- als auch in Südwestafrika finden, kommen

Modve vor, die eigentlich im Vorderen Orient, in Asien oder in Europa be¬

heimatet sind. In Anbetracht der Tatsache, daß diese Motive nahtlos in ihre

afrikanischen Kontexte integriert sind, kann man die ursprünglich europäischen

oder asiatischen Motive kaum als eine Folge der europäischen Kolonialzeit an¬

sehen. Ich neige stattdessen eher zu der Ansicht, sie als Zeugnisse alter, trans-

saharanischer Kulturbeziehungen anzusehen, die durch die Vermittlung anderer

afrikanischer Völker schließlich auch die Kultur der Temne voll durchdrungen haben.

Auf die Vorliebe Denkenas, den traditionellen Motiven modeme Attribute

der nachkolonialen Zivilisation beizugesellen, wurde bereits im Zusammenhang seiner stilistischen Eigenarten eingegangen. Diese Erzähltechnik hat natürlich

auch einen inhahlichen Aspekt, der in diesem Zusammenhang nochmals zu

erwähnen ist.

4. Schlußbemerkung

Bei dem Erzähler Denkena aus Lokomasama handelt es sich um einen indi¬

viduellen Autor, der sich einerseits der stilisrischen und formalen Möglichkei¬

ten der oralen Literatur bedient, um seine ganz persönliche Kreativität auf

diesem Gebiet zu entfalten, andererseits aber auch von diesen Möglichkeiten

irgendwie abhängig ist, indem ihm die Oralität im Vergleich zu einem schrei¬

benden Autor gewisse Beschränkungen in seiner künstlerischen Wirkung

auferlegt. Wenn wir orale Kunstwerke auf Schallträger aufnehmen und dadurch

(13)

Saharisch und Hamitosemiüsch 543

aus der einmaligen Erzählsituation herauslösen, dann schaffen wir neue Objelc- te mit einer eigenen Individualität und mit einer Lebensdauer, die, ungleich den

herkömmlichen Werken der oralen Kunst, über den Augenblick ihrer Schöp¬

fung und Gestaltung weit hinausreichen. Diesen neuen Objekten kommt eine

eigene künsderische Qualität zu, so daß der orale Autor an ihrem weiteren

Schicksal ein legitimes Interesse haben muß. Auch der Erzähler kollektiver

Wortkunst hat eigene Urheberrechte. Man trägt ihnen in der Regel dadurch

Rechung, daß man vorder Aufzeichnung seine Zustimmung einholt. Bei einem

Erzähler individueller Wortkunst sind die Urheberrechte jedoch umfassender.

Für die Feldforschungsmethodik bedeutet dies vor allem, daß man über die bloße

Zustimmung zu permanenter Aufzeichnung hinaus dem oralen Autor die

Mitschnitte von den Aufführungen seiner Kunstwerke vorlegt, damit er sie wie

ein schriftlich schaffender Autor stilistisch überarbeiten und gegebenenfalls der

neuen Verbreitungsart außerhalb einer konkreten Zuhörerschaft anpassen kann.

Darin liegt eine ganz neue Dimension der Zusammenarbeit zwischen dem ora¬

len Künstler und dem aufzeichnenden Wissenschaftler, die sicherlich noch

weiterer, instensiver Ueberlegungen bedarf.

SAHARISCH UND HAMITOSEMITISCH

Von Karel Peträcek, Prag

1.0. Das Saharische (SAH) wird heute meistens nach J.H. Greenberg dem

Nilo-Saharanischen zugeordnet, doch fmdet diese Zuordnung nicht immer

Zustimmung und es werden andere Beziehungen vorausgesetzt, die nach We¬

sten (H.G. Mukarovsky 1981 im Rahmen des West-Sahelischen; R. Nicolai

1984), nach Osten (O. Köhler 1975, über die nubosaharische Zone im Rahmen

der nilosaharanischen Nordregion; der saharische Grenzraum bei Th. C. Schade¬

berg 1981) oder explizit zum Hamitosemitischen (HS) führen (E. Cerulli 1961;

H.G. Mukai-ovsky 1981, u.a.).

Die innere Gliederung des SAH bietet keine größeren Probleme. Man

rechnet mit drei oder zwei Untergruppen. Wir schlagen folgende Gliederung

vor: Gruppe BER (BeRi-Sagawa, Berti-Sagato, Bideyat-Baele) im Osten, im

Westen die Gruppen TU (Tuda, Daza-Tubu) und KAN (Kanuri, Kanembu).

Laut unserer lexikalischen Analyse (Körperteile) teilte sich das Proto-

Saharische (P-SAH) zuerst in die Gruppen BER und TU, die KAN-Gruppe

entwickelte sich später aus der TU-Gruppe. Dies bezeugen klar folgende Ziffern,

die die Distribution der saharischen Wurzeln in den einzelnen Gruppen

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Bantsch Bugo, Jakob Prandtauer, Der Klosterarchitekt des österreichischen Barock. Ein Führer durch Landschaft, Geschichte

Belting, Hans, Heinrich Dilly, Wolfgang Kemp, Willibald Sauerländer und Martin Warnke (Hrsg.): Kunstgeschichte.. Eine Einführung,

Blumenthal, Elke (Hg.), Literatur und Politik im pharaonischen und ptolemäischen Ägypten.. Vorträge der Tagung zum Gedenken an Georges

auf Türen und Schlösser und lässt es (normalerweise, außer im Jemen und in den Vereinigten Staaten) nicht zu, dass Schusswaffen ebenso leicht zu erwer- ben sind wie

Man kann sich bei der Interpretation der nationalsozialistischen Ideologie eines Hinweises von Broszat bedienen, der zwar einige ideologische Fixpunkte, wie den Antisemitismus, den

Längst nicht alle diese Wendungen sind Kenningar, obwohl sich auch einige dieser typisch germanischen Wendungen für G o t t finden:.. rodera raedend 1555 (Regierer) wuldres

Die Fußnoten müssen zwingend über die Fußnotenfunktion des Textverarbeitungsprogrammes ein- gefügt werden (nicht manuell) und sind in Times New Roman, Schriftgröße 10 pt, bei

Gemalt wurde er von Emil Beurmann 1862-1951, der nicht nur Kunstmaier war, sondern auch Verfasser zahlreicher literarischer Werke, auch satirischer baseldeutscher Gedichte,