SEKTION 8: IRANISTIK
SEKTIONSLEITER : W. EILERS
DAS SAFAVIDISCHE KÖNIGTUM UND
DER NIEDERGANG DES REICHES IM 17. JAHRHUNDERT
Von Hellmut Braun, Hamburg
Die meisten Reisenden, die im 16. oder 17. Jahrhundert aus Europa nach
Iran kamen und ihre Eindrücke von diesem Land für die Nachwelt nieder¬
schrieben, sind sich alle in einer Feststellung einig, nämhch darin, daß der
Schah ein sehr absoluter Herr seines Landes sei. Alle Reisenden kamen aus
absolut regierten Ländern in Europa, und doch fiel ihnen der Unterschied
aut. Verschiedene, die die Möghchkeit hatten, zwischen mehreren orientali¬
schen Staaten zu vergleichen, vor allem zwischen dem osmanischen, mogul¬
indischen und dem safavidischen Reich, stellen fest, daß der safavidische
Herrscher eine noch unumschränktere Stellung innehabe als die beiden
anderen Staatsoberhäupter. Es fehlt auch nicht der Superlativ: der Schah
ist der absoluteste König auf der ganzen Welt. Diese Feststellung traf der
Pater Sanson', dem wir eine wohl durchdachte und durchaus nüchterne
Darstellung des Aufbaus des persischen Staates in der zweiten Hälfte des
17. Jahrhunderts verdanken.
Der Schah saf avidischer Prägung nahm in der Tat eine einzigartige Stell-
lung ein. Das Bild des Königtums, das sich aus den zahlreichen Einzel¬
bemerkungen in persischen Quellen wie aus den teilweise sehr genauen
Beobachtungen und gut belegten Erkundigungen der europäischen Reisen¬
den gewinnen läßt, ist das Bild des Herrschers, des Königs schlechthin. Eine
Steigerung irgendwelcher Herrscherfunktionen ist nicht mehr denkbar, und
es fällt schwer, sich einen Menschen aus Fleisch und Blut vorzustellen, der
ein solches Amt hinreichend ausfüllen konnte. Es hat den Anschein, als ob
solch eine Leistung nur ein Übermensch hätte zustande bringen können.
Ich will zunächst versuchen, die besonderen Kennzeichen des Amtes und
der Person des safavidischen Schahs darzustellen, ohne daß ich die ver¬
schiedenen Elemente, die in diesen Vorstellungen zusammenlaufen, hier
analysieren könnte oder wollte. Im zweiten Teil meiner Ausführungen
möchte ich dann die Folgen, die eine solche Auffassung vom Königtiun für
das gesamte Staatswesen haben mußte, erörtern.
' Voyage ou relation de l'etat prdsent du royaums de Perse. - Paris 1695, S. 110.
I
Die Einzigartigkeit des Schahs läßt sich schon an einer Äußerlichkeit
ablesen : an der offenbaren Scheu, das Wort Schah zu gebrauchen. Normaler¬
weise wird von dem Herrscher weder als ,, Schah" gesprochen noch wird er
mit seinem persönlichen Namen benannt, sondern diesem Zweck dienen Um¬
schreibungen, in deren metaphorischer Bedeutung ein Bezug auf die all¬
gemeine Stellung des Schahs, seltener allerdings auf die Person eines be¬
stimmten zu erkennen ist^. Oft muß aus dem Zusammenhang oder auch
nur aus empirischem Wissen geschlossen werden, wer gemeint ist. Eine
kleine Auswahl derartiger Bezeichnungen sei hier angeführt: hätir-i 'älam-
ärä, der die Welt zierende Geist; hazrat-i zill-i ilähi, die Gegenwart des
göttlichen Schattens (oder Schutzes) ; säja-i parvardagär, der Schatten des
Schöpfers; jagäna-i zamän, der Einzigartige der Zeit; 'älam-panä bzw.
gahän-panä, der Zuflucht für die Welt ist; pädMh-i 'älam, der Herrscher
der Welt; zät-i humäjün, bä-kamäl, aqdas oder ähnlich, das Glückswesen,
der Herr der Vollkommenheit, die heiligste Person usw. Die direkte Anrede
für den Schah von Männern, die in einem engeren, persönlichen Verhältnis
zu ihm standen, war gewöhnlich qiblajam, d. h. meine Gebetsrichtung, der,
der für mich Richtpunkt, zunächst und in erster Linie in religiöser, dann
auch in jeder anderen Hinsicht ist. Während in den Chroniken die Benennun¬
gen für die lebenden Herrscher noch durchaus wechseln - das Umgekehrte
gibt es auch - sind für die verstorbenen feststehende Umschreibungen, so¬
genannte post-mortem-Titel^, üblich. Sie lauten, wobei gewisse Abwei¬
chungen möglich sind, z. B. für 'Abbäs I. : navväb-i gitl-sitän-i firdaus-makän (oder ' illijln-äsjän), der die Welt eroberte und im Paradiese weilt.
Wenn das Wort Schah (säh) erscheint, dann bezieht es sich meist auf ver¬
storbene Herrscher und steht in Verbindung mit dem post-mortem-Titel.
In diesem Zusammenhang kann auch die sehr selten gebrauchte Bezeichnung
Großkönig, sahansäh, stehen. Beide Ausdrücke werden aber nur für den
iranischen Herrscher gebraucht. Niemals wird der osmanische Sultan, der
erste özbekische Chan oder ein europäischer Herrscher Schah genannt. Die
Benennung der Mogulkaiser zeigt noch eine weitere Tendenz der saf avidisch-
persischen Quellen: für sie wird meist der persönliche Name, nicht der üb¬
liche und bekannte Herrschername gebraucht, so Salim, nicht Gahängir, so
2 Eine vergleichende Untersuchung über ähnliche Erscheinungen in anderen
islamischen Reichen steht noch aus.
^ Die post-mortem-Titel der meisten safavidischen Herrscher erscheinen bei
Heribert Busse, Untersuchungen zum islamischen Kanzleiwesen, Kairo 1959
(= Abh. d. Dt. Archäol. Inst. Kairo, Isl. Reihe, Bd 1), im Index ,, Titel und
IBeinamen" S. 236-238; einige Titel auch bei Minobsky in Tadhkirat al-mulük,
a manual of Safavid administration, London 1943 (= E. J. W. Gibb Memorial
Series. N.S. 16), S. 109, Anm. 1.
Das safavidische Königtum 943
für dessen Nachfolger Hurram, nicht Sähgahän. Diese Herrschernamen ver¬
körpern in ihrem Wortsinn einen Anspruch auf Weltherrschaft, die die An¬
hänger der Safaviden nicht anerkennen konnten.
Während das Wort pädsäh allgemein auf jeden souveränen Herrscher im
asiatischen oder europäischen Bereich angewandt werden konnte, war die
gewöhnliche Bezeichnung für einen Herrscher im Sinne von König das
Wort väli, das eigentlich nicht souveräner Herrscher bedeutet, sondern
denjenigen bezeichnet, der die Macht im Auftrage eines souveränen Herr¬
schers ausübt. So heißen die osmanischen Sultane meist väli-i Rüm, die
Mogulkaiser väli-i Hindüstän, die özbekischen Chane väli-i Buhärä oder
Türkistän, der russische Zar väli-i Arüs. Außerdem ist väli der terminus
technicus für die Vasallenfürsten des safavidischen Reiches, die unter der
Oberhoheit des Schahs, meist als Angehörige einheimischer Dynastien, ihr
Land regierten, das zugleich Provinz des safavidischen Reiches war, z. B.
der väli-i Ourgistän oder Kärtil, der väli-i 'Arabistän u. a. m. Es besteht also
in der Theorie grundsätzlich kein Unterschied etwa zwischen dem zuletzt
genannten väli und dem osmanischen Sultan.
In der geschilderten Anwendungsweise des Wortes Schah ist also der deut¬
liche Niederschlag der einzigartigen Stellung des safavidischen Schahs zu
erkennen. Kein anderer Herrscher war ihm gleich. Das Begehren, Oberherr,
und wenn auch nur in der Theorie, über alle anderen Herrscher zu sein,
manifestiert sich nicht nur im Alleinanspruch auf das Wort Schah, sondern
auch in der Degradierung der anderen Herrscher zu seinen Verwesern, zu
väliivulät.
Der Safavidenschah erhebt Anspruch auf die Herrschaft über die ganze
Welt. Hierin spiegelt sich die schiitische Anschauung, daß dem Propheten
Muhammad nicht nur die geistliche, sondern auch die weltliche Macht zu¬
komme und daß diese Macht sich auf die leiblichen Nachkommen vererbe.
Seit dem Ende des 15. Jahrhunderts gibt es die, offenbar ad hoc erfundene
Tradition, wonach der Stammbaum der Safaviden auf die Reihe der schüti¬
schen Imame und damit auf 'All, den Schwiegersohn des Propheten und
diesen selbst zurückzuführen sei. Doch ist der safavidische Schah kein
Imam, sondern lediglich Stellvertreter - ich erinnere an das erste Element
der post-mortem-Titel: nawäbjnuvväb, Plural von nä'ib, Stellvertreter.
Sollte der entrückte zwölfte Imam plötzlich wieder erscheinen, so hätte der
Schah seine Stelhmg mit allen ihren Rechten an diesen übergeben müssen.
Wie lebendig dieser Glaube noch im 17. Jahrhundert war, zeigt die Tatsache,
daß man in Isfahan und in zwei weiteren Städten Ställe unterhielt, in denen
immer gesattelte Pferde bereitstanden, damit dem erscheinenden Imam so¬
fort ein Reittier zur Verfügung gestellt werden könnte*.
* Gegen diese religiösen Ansprüche des safavidischen Schahs bildete sich im
Damit, daß die Schabe nur Stellvertreter des Imams waren, entfiel nach
der allgemeinen und herrschenden Anschauung die Anforderung an die
Könige, wie die Imame im höchsten Grade rein und weise zu sein. Anderer¬
seits ergibt sich aus einer solchen Auslegung des HerrscherbegrifFs ein An¬
spruch auf die unumschränkte Ausübung der Macht in dem Bereich, der
unter der Herrschaft des Safavidenschahs steht. Für diesen existieren kei¬
nerlei Einrichtungen oder Bestimmungen, die seine Entscheidungs- oder
Verfügungsgewalt einschränken. Seine Befehle bedürfen keiner, auch noch
so formalen Bestätigung oder Billigung durch eine zweite Person ; keine In¬
stitution des Staates verfügt über die Möglichkeit, entscheidend mitzu¬
bestimmen. Der Schah war nach dem religiösen und weltlichen Gesetz un¬
umschränkter Herr in seinem Lande. Oder umgekehrt ausgedrückt: das
Reich ruhte ganz allein auf den Schultern des Schahs. Gewiß führte der
Großwesir im großen ganzen die Staatsgeschäfte, aber er handelte und ent¬
schied - zumindest in der Theorie - nur im direkten Auftrage des Schahs.
Unter einem Schah, der die Regierungsgeschäfte maßgeblich bestimmte,
war der Großwesir dessen ausführendes Organ.
Dieselbe unumschränkte Stellung hatte der Schah im Rechtswesen inne.
Er war in seinen Entscheidungen an kein Gesetzbuch, an keine Vorschriften
irgendwelcher Art gebunden. Er sprach Recht nach Gesichtspunkten, die
für ihn persönlich von Bedeutung waren, nach seinem eigenen Gutdünken.
Das Justizwesen war gut durchorganisiert und arbeitete ohne den Schah.
Aber dieser hatte die Möglichkeit, alle, auch schon abgeschlossene Fälle,
neu aufzurollen. Der oberste Richter des Reiches, der Reichsprofoß, divän-
begi, konnte kein Urteil fällen, ohne dieses vorher mit dem Schah bespro¬
chen zu haben.
Mit diesen Prärogativen war der Schah auch unumschränkter Herr über
Leben und Tod, ja auch über Hab und Gut seiner Untertanen. Zahlreich
sind die überlieferten Geschichten, die schildern, wie bedenkenlos die Herr¬
scher ihre Vorrechte gegenüber ihren Untertanen anwandten. Für den euro¬
päischen Betrachter war dabei die Art und Weise, wie sich die Untertanen
im safavidischen Reich gegenüber offensichthch unberechtigten Übergriffen
der Herrscher verhielten, noch erstaunlicher als die Übergriffe selbst. Alles,
was vom Schah kam, sei es Gunst oder Unbill, kam für den Iraner aus einer
anderen, für die gewöhnhchen Menschen unzugänglichen Welt. Es war
quasi-göttliche Fügung. Nach allem, was überhefert ist, waren die Men¬
schen ihrer Religion sehr stark und leidenschafthch verbunden. Nur aus
dieser Grundhaltung ist es erklärlich, daß der Glaube aUenthalben ver¬
breitet war, den Unwillen des Schahs zu erregen, bedeute das schlimmste
Unglück, das einem widerfahren konnte.
17. Jahrhundert vor allen Dingen in der schütischen Geistlichkeit eine gewisse
Opposition, die nooh eigens untersucht werden muß.
Das safavidische Königtum 945
Die Lage war auf ahen Gebieten ähnhch. Alles, was im öfFentlichen Leben
geschah, war auf den Schah ausgerichtet, denn er konnte, wenn der wollte,
überall eingreifen. Der Schah war der Angelpunkt, um den sich alles drehen
mußte tmd auch drehte. Der Schah verkörperte gleichsam das Staatswesen.
Ist es nicht notwendigerweise so, daß damit die Person, die diese Stelle
innehat, und ihr Wirken von ausschlaggebender Bedeutung für Gedeih
und Verderb des ganzen Staatswesens ist ?
II
Es kann nicht zweifelhaft sein : die Theorie des safavidischen Königtums
war, wenn auch in folgerichtiger Weiterentwicklung alter Anschauungen,
überspannt. Die in diesem Amt gebündelte Machtfülle war unheimlich. In
der Praxis mußte ihre Durchführung angesichts der Realität des Menschen
auf Schwierigkeiten stoßen. Nur ein Mensch mit außergewöhnlichen cha¬
rakterlichen und geistigen Gaben hätte einem solchen Amte gerecht werden
können; oder: nur eine sorgfältige Vorbereitung hätte einen Menschen
vielleicht befähigen können, ein solches Amt auszufüllen. Und hier begannen
schon die Fehler, die verhängnisvolle Wirkungen nach sich zogen. Keiner
der safavidischen Prinzen - zumindest im 17. Jahrhundert - wurde auf das
Herrscheramt vorbereitet. Schlimmer noch, es wurde den Prinzen mit List
und Gewalt unmöglich gemacht, selber etwas dafür zu tun. Der schwerste
Vorwurf, diese Situation herbeigeführt zu haben, lastet auf 'Abbäs I. Er
hat mit der Anordnung, die Prinzen nicht wie sonst übhch zu Männern zu
erziehen, sondern sie im Harem unter Eunuchen und Frauen aufwachsen zu
lassen, die wahrscheinlich wichtigste Ursache für die Entartung des König¬
tums verschuldet. Der Grund für diese Anordnung, die von allen safavidi-
schern Herrschern nach 'Abbäs I. beibehalten wurde, lag in dem Mißtrauen
und der Furcht des regierenden Schahs vor seinen heranwachsenden Söhnen.
Die Erfahrung hatte es gelehrt: jeder Prinz glaubte sich zur Herrschaft be¬
stimmt und suchte so bald wie irgend möglich, den Thron zu erringen. Da
aber ein Thronfolger gebraucht wurde, sperrte man die Prinzen ganz von
der übrigen Welt ab und erzog sie zwischen den hohen Mauern des Harems
im königlichen Palast in der Hauptstadt. Geistig und meist auch körperlich
unentwickelt, des Umgangs mit Menschen entwöhnt, trat ein solcher Prinz
erst zu dem Zeitpunkt in die Welt, wenn er zum Schah gekrönt wtude.
Es erscheint nicht vorstellbar, daß ein Prinz, der die entscheidenden Ent¬
wicklungsjahre in dieser Umwelt zugebracht hat, sich später von all diesen
ihm selbstverständlich erscheinenden Vorstellungen hätte lösen können.
Auch der Schah selbst lebte ja weitgehend in dieser Welt des Harems; es
war gar nicht so, daß er täglich oder nächtlich in diese Atmosphäre zurück-
kehrte, nein, er lebte vielmehr in üir und ließ sich immer seltener oder
schließlich kaum mehr aus ihr herauslocken. Das war die zwingende Folge.
Dies war so bei Safi wie bei Sulaimän. Dabei hatten beide von der Natur
gute Gaben mitbekommen ; vielleicht war SafT aufs ganze gesehen ein etwas
primitiverer Mensch, dafür versackte aber Sulaimän um so tiefer. Etwas
anders war es bei 'Abbäs II. Bei ihm war es entscheidend, daß er schon im
zarten Alter von zehn Jahren erfuhr, daß es auf der Welt noch etwas anderes
als die stickige Luft des Harems gab. Sein späteres Leben ist aber der Be¬
weis dafür, daß diese Harenisluft auch den angeblich freien Monarchen noch
mit aller Zähigkeit umklammert hielt. Er stieß zwar einerseits in Bereiche
des ÖfFentlichen und auch des geistigen Lebens vor, empfing und erteilte
Impulse, aber er blieb mit einem anderen Teil seiner Persönlichkeit wieder
der Welt des Harems verhaftet.
Es war jedoch nicht allein der Harem, der für die Entfaltung der Persön¬
lichkeit des Herrschers hinderlich war. Es war die Struktur des ganzen Hofes.
Auch die Männer des Hofes, und seien es die wichtigsten Würdenträger, lagen
vor dem Schah im Staub. Der Schah und sein Wille waren - in der Theorie -
alles. Wie war es aber, wenn der Schah nicht über einen unbeirrbaren Willen
verfügte ? Der Herrscher wurde zwangsläufig das manipulierte Opfer seiner
Hof leute. Ein kluger Großwesir, der sich um eine saubere und kontinuierliche
Staatsführung bemühte, hatte es sehr, sehr schwer. Die tüchtigen Gro߬
wesire Safis und Sulaimäns verdienen daher eine besondere Würdigung. Es
sind dies in erster Linie Mirzä Muhammad Taqi (1634-1645) und Saih-'Ali
Hän Zangana (um 1673-1690). Nach dem vorgezeichneten Verhältnis
zwischen dem Schah und seinem Wesir konnte der Minister, vollends dann,
wenn er kaum mehr einen direkten Zugang zum Herrscher hatte, wie es sich
unter Sulaimän entwickelte, lediglich versuchen, den Stand der Dinge zu
halten. Keine weiterführende Initiative konnte von ihm ausgehen, kein
kühner Entschluß. Dieser Zustand wucherte, alles ansteckend, in sämtlichen
Zweigen der Staatsverwaltung weiter. So kam es zur allgemeinen Stagna¬
tion.
Bei einem Staatswesen, in dem alles auf den Herrscher ausgerichtet ist,
in dem Leib und Leben, Hab und Gut dem Gesetz nach Eigentum des
Schahs sind, in dem von seiten des Schahs oder der zentralen Oberbehörden
keine scharfe Kontrolle mehr ausgeübt wird, in dem die Sendlinge des
Schahs alles für ihren hohen Auftraggeber herauszupressen versuchen, was
irgend möghch ist, in einem solchen Staatswesen mußte die Staatsmoral
immer weiter absinken. Die Folge war, daß zur Stagnation die Schrumpfung
kam.
Mit dem Nachlassen der aktiven Beeinfiussung der öfFentlichen Meinung
durch den Schah konnten zunehmend auch jene Kräfte wieder stärkeren
Einfluß gewinnen, die durch weitschauende und großzügig denkende Herr-
Das safavidische Königtum 947
scher zurückgedrängt worden waren. Zu nennen ist hier das Wiedererstarken der schütischen Geisthchkeit, das zu einer Einengung der in den Jahrzehnten
davor von den Reisenden so lobend erwähnten geistigen Freiheit führte.
Dies war nicht nur für die Nichtmushme, sondern auch für die Muslime
selbst spürbar. Diese Entwicklung hatte zwar auch gute Folgen, wenn etwa,
allerdings erst unter Sultän Husain, der übermäßige Alkoholgenuß, wenig¬
stens zeitweise, bei Hofe etwas eingedämmt wurde. Aufs ganze überwogen
aber die negativen Folgen, die auf der Linie der Stagnation, der Zurück¬
drängung persönlicher Initiative lagen. Die sich ergebende Drosselung des
Verkehrs mit Europa hatte wiederum eine Schrumpfung der Handels¬
beziehungen zur Folge.
So griff eins ins andere. Das Reich stand noch scheinbar in alter Weise da.
Der Schah regierte scheinbar wie immer. Eine lange Friedenszeit ließ Handel
und Wandel noch lange Zeit blühen. Der Glanz der Feste war nicht geringer
als ehedem; die Geschenke, die die Beziehungen zwischen den Menschen
glätten sollten, waren üppiger als je. Dennoch wurden die Staatseinnahmen
geringer, die Aussaugung größer. Ungerechtigkeiten und Übergriffe kleiner
Machthaber nahmen zu. Jeder suchte in steigendem Maße wenigstens sein
Leben so vorteilhaft wie möglich zu führen oder zu verkaufen. Wenn ir¬
gendwann einmal das Schicksal hart zugreifen sollte, so mußte es an der
Bereitschaft wie auch an den Mitteln fehlen, solchen Ereignissen ebenso
hart zu begegnen. Dieses Schicksal kam in Gestalt von Mahmüd Galzä'I,
dem Afghanen - und das zweihundertjährige Reich der Safaviden stürzte
zusammen.
PERSISCHEN LITERATURPROSA
Von Richard Flower, Berlin
Sadeq Hedayät und seine Zeit
Es ist allgemein bekannt, daß die moderne Literatur im Iran mit der Ver¬
öfFentlichung von ,,yek-i bud yek-i nä-bud" von Mohammad Jämal-zade im
Jahre 1921 begann. Diese Sammlung von sechs Novellen (mit einer Einlei¬
tung, die die Ziele der neuen Literatur darlegt) bheb vorläufig das einzige
Beispiel des neuen Geistes in der persischen Literatur. Junge und fortschritt-
hchere inteUektuelle ICreise fanden es genial, während die reaktionären
klerikalen und traditionellen Gruppen es aufs heftigste verurteilten und als
gotteslästerhch und unpatriotisch verdammten. Auch Zeitungen, die wag¬
ten, die NoveUen zu veröfFenthchen, wurden lauthals von den Mollas de¬
nunziert und bedroht. Diese Gruppen setzten sich durch den ihnen günstigen
Verlauf der Geschichte der nächsten Zeit vorläufig durch, und wenige inter¬
essierten sich für „yek-i bud yek-i nä-bud" . Hedayät soUte der erste sein, jene Richtung, die Jämal-zade eingeschlagen hatte, fortzuführen.
Sadeq Hedayät, ein Urenkel von Reza Qoli Xan Hedayät, dem Direktor
des Daroi-Fonun, wurde am 17. Februar 1903 in einer hohen Teheraner
Beamtenfamilie geboren. Er absolvierte die französische Missionarschule
St. Louis 1925 und ging dann mit einem Regierungsstipendium zuerst nach
Belgien imd dann nach Frankreich, wo er 1926-1930 lebte und studierte
(Paris und Besanfon). Er konnte sich schwer entscheiden, ob er Architekt,
Kunsthistoriker, Maler oder Zahnarzt werden sollte. Er wurde mit der euro¬
päischen Literatur vertraut und entdeckte eine stärkere dichterische Nei¬
gung in sich, als er vorher gespürt hatte. Er las besonders gern Tschechow,
Dostojewski, Kafka, Maupassant, Poe, Sartre und Stefan Zweig. Er be¬
gann, vorislamische iranische Sprachen und die Kultur der iranischen Antike
zu studieren, kehrte aber 1930 ohne Abschluß nach Teheran zurück, wo er
in verschiedenen unbedeutenden SteUen arbeitete, ohne den Einfluß seiner
Familie in Anspruch zu nehmen, um in jenen hohen Staatsdienst hineinzu¬
kommen, in dem sie seit zwei Generationen gedient hatte. Seine in Europa
vertieften hterarischen Interessen führte er weiter. Mit Bozorg 'Älävi,
Mäs'ud Färzad und Mojtäba Minovi zusammen bildete Hedayät einen
Literaturkreis, der sich ironisch „rdb'e" (,,die Vierer") nannte - im Gegensatz