Proportion
Vortrag aus Anlaß der Aufstellung des Löwenjagdsarkophages aus der Sammlung Peter und Irene Ludwig im Antikenmuseum Basel Bernard Andreae
D i e griechisch-römische Kunst, für de
ren Kenntnis Peter L u d w i g soviel ge
tan hat, wird in fünf große Epochen eingeteilt:
1. die geometrische (1300-700 v. Chr.),
2. die archaische (700-480 v. Chr.), 3. die klassische (480-320 v. Chr.), 4. die hellenistische ( 3 2 0 - 3 0 v. Chr.), 5. die kaiserzeitliche
(30 v. Chr.-476 n . C h r . ) .
Aus jeder dieser Epochen sei ein Pro
portionssystem vorgeführt, auf das ich bei m e i n e n Studien gestoßen bin.
1. A m p h o r a 804 i m Nationalmuseum Athen.1 D i e Oberfläche der eiförmi
gen und mit einem trompetenför- migen Hals ausgestatteten A m p h o r a (Abb. 1) mit ihren beiden D o p p e l ö s e n - henkeln ist durch einen dichten Strei
fendekor gegliedert. M a n erkennt ei
nen dunklen Sockel, eine W a n d u n g , die mit verschiedenen, nach oben in ihrer Breite anwachsenden Mäander
bändern verziert ist, und eine am H e n kelansatz beginnende, sich z u m Hals
ansatz rundende Schulterzone, w o an der Stelle der weitesten Ausladung des Gefäßes ein Bildstreifen eingefügt ist.
U m für diesen Bildstreifen in d e m h o rizontalen Streifensystem B a u m zu ge
w i n n e n , sind rechts und links des Bildausschnittes die Mäanderstreifen senkrecht gestellt, so, als sollten sie
die horizontalen Streifen auseinander
stemmen.
In d e m Bild mit seinen geometrisch anmutenden Silhouettenfiguren ist die Aufbahrung einer Toten i m Z e n trum des Trauergeleites dargestellt.
D i e einzelnen Mäanderstreifen, die von unten nach oben in ihrer K o m plexität ansteigen - m a n sieht unten ei
nen Zinnenmäander, darüber einen Hakenmäander und noch darüber ei
nen T r e p p e n m ä a n d e r - , sind durch ein dreigliedriges Bahmensystem vonein
ander getrennt. Dieses besteht aus ei
ner über eine Punktlinie gezeichneten Bautenkette, die oben und unten von einer Schar dreier paralleler Linien be
gleitet wird. U m diese Linie zu gewin
nen, genügte es, den in Glanzton ge
tauchten Pinsel an die auf einer Töpfer
scheibe sich drehende Vase zu halten.
D i e Bautenkette wird auf die Weise g e w o n n e n , daß m a n zunächst eine Punktreihe auf die Oberfläche der langsam gedrehten Vase tupft u n d dann darüber zwei u m diesen Mittel
punkt gegeneinander versetzte Zick
zacklinien zeichnet.
D i e Frage ist, wie dieses ebenso ein
fache wie geniale Dekorationssystem, das aus Hunderttausenden von peni
blen Einzelstrichen konsequent aufge
baut ist, seine Proportion erhält. Es handelt sich ja u m eine G r o ß k o m p o s i tion, in der jeder einzelne Strich nicht
301
•
1 G e o m e t r i s c h e A m p h o r a , u m 760 v. Chr.
H . 1,55 m .
N a t i o n a l m u s e u m Athen, Inv.-Nr. 804
2 Proportionssystem der A m p h o r a m i t Hilfe einer Schnur
d e m Zufall überlassen ist, sondern sei
nen festen u n d im Gesamtsystem u n verrückbaren Platz zugewiesen bekam.
Genaue Messungen aller Abstände ergeben folgendes, nur mit Hilfe einer durch Dreiteilung u n d fortschreitende Halbierung in 3, 6, 12, 24 Teile ein
geteilten Schnur zuwege gebrachtes Gliederungssystem (Abb. 2):
D i e Vase w u r d e zunächst mit Hilfe einer Schnur in 36 Teile - 24 am Kör
per und 12 am Hals - unterteilt und dann nach d e m Gesetz der wachsen
den Glieder in 6 Abschnitte für den Sockel, 8 für die W a n d u n g , 10 für die Schulter und 12 für den Hals rhythmi
siert. D i e einzelnen Streifen w u r d e n
durch eine u m die Punktlinien der Gliederung gezeichnete Gitterkette getrennt u n d in übergreifenden Bezü
gen mit Blattkette, Zinnenmäander, Hakenmäander, Treppenmäander ge
füllt. Im Hauptstreifen die Aufbahrung der Leiche u n d die silhouettenhaften Figuren der Trauernden, am Hals la
gernde und äsende Wildtiere in ihrer Todesverfallenheit. Vasenform und Dekoration dieses m o n u m e n t a l e n Grabaufsatzes für ein Frauengrab der Zeit H o m e r s sind untrennbar aufein
ander abgestimmt. D i e Mäanderstrei
fen sind nicht beliebig angeordnet, sondern nach den Gesetzen einer G r o ß k o m p o s i t i o n in eine unverrück- 302
bare Beziehung gebracht. Eine ver
gleichbare Struktur weist auch die G r o ß k o m p o s i t i o n der Ilias auf: Ihre Teile sind miteinander verklammert.2
W i r haben es also mit einem Propor
tionssystem zu tun, das d e m Geist einer ganzen Epoche entspricht und deshalb zu Strukturäquivalenzen z w i schen so verschiedenen Kunstgattun
gen wie d e m Epos Ilias und diesem m o n u m e n t a l e n Meisterwerk griechi
scher Keramik führen kann.
2. In die archaische Epoche fällt die Entstehung der griechischen Großpla
stik unter d e m Einfluß ägyptischer Monumentalskulpturen. D i e griechi
schen Bildhauer ü b e r n e h m e n aus der
ägyptischen Kunst das Proportions
system des einfachen Quadratnetzes, das aufgetragen wurde und eine be
stimmbare Größe der einzelnen Glie- derdes Körpers festzulegen gestattete3
(Abb. 3, 4). D i e Griechen erfüllen da
bei die Körper mit einer neuen D y n a m i k , in der nicht nur die lastende Schwere, sondern auch die tragende Kraft z u m Ausdruck k o m m t . D i e Kör
perhälften durchzieht, korrespondie
rend z u m zurückgesetzten linken, den Körper nur abstützenden und z u m vor
gesetzten rechten, den Körper tragen
den Bein, eine Spannung, die sich in einer Z u s a m m e n z i e h u n g , das heißt Verschmälerung der Körperhälfte über d e m Standbein auswirkt.
< 3 Kleobis und Biton, u m 600 v. Chr. M a r m o r , H . 2,16 m . M u s e u m D e l p h i
4 Quadratnetz zur Pro- portionierung des M a r m o r blocks für die Skulpturen Kleobis' und Bitons (nach Robert Heidenreich)
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303
5 M e ß p u n k t e für die Proportionierung des Doryphoros von Polyklet, um 450 v. Chr., H . 2,02 m (nach Ernst Berger)
3. In klassischer Zeit wird der Kontra
post von Standbein und Spielbein ent
wickelt, der zu einer i m m e r größeren Beweglichkeit u n d raumgreifenden Körpergebärde weiterführt. Es ist klar, daß ein einfacher Schachbrettraster die komplizierten Proportionen dieser Körper nicht m e h r gewährleisten kann. D i e Darstellung des männlichen Körpers i m aufrechten Schrittstand be
rücksichtigt die Tatsache, daß das G e webe über d e m starren u n d in seinen A b m e s s u n g e n festliegenden K n o c h e n gerüst gespannte u n d gelockerte, das bedeutet zusammengezogene, ver
kürzte und auseinandergezogene, ver
längerte Körperpartien bildet. Dies läßt sich nicht mit e i n e m einzigen Maßstab erfassen. Deshalb entwickel
te der große argivische Bildhauer Poly
klet u m die Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. ein neues Proportionssystem, das er nach d e m N a m e n der Meßlatte
»Kanon« nennt u n d in einer leider bis auf wenige Sätze verlorenen Schrift er
klärt. Zugleich schafft er i m Dorypho
ros, der Idealgestalt eines jugendli
chen Speerträgers, die in mehreren Kopien erhalten ist, eine A n w e n d u n g dieses Proportionssystems. Dieses konnte Ernst Berger jetzt im Z u s a m m e n h a n g der kürzlich in Frankfurt ge
zeigten Polyklet-Ausstellung rekon
struieren4 (Abb. 5). Ich kann hier nur den G r u n d g e d a n k e n vortragen, daß an die Stelle des älteren starren R a sters drei i m wahrsten Sinne des W o r tes verschiedene Maßstäbe treten, von denen d e r e i n e , in der Achse der Figur anzulegende, das in einfachen Fuß
zahlen ausgedrückte N o r m a l m a ß dar
stellt. D e r andere ist u m 2 % verlängert, der dritte u m 2 % verkürzt. In der klein
sten griechischen Maßeinheit ausge
drückt, sind dies ein Maßstab von 98 Daktylen, einer von 100 u n d einer von 96, die m a n jeweils in vier, fünf und sechs Abschnitte einteilt, u m jeden Körperabschnitt messen zu k ö n n e n , je n a c h d e m , ob er d e m festen, d e m aus
einandergezogenen oder d e m zusam
mengeschobenen Bereich zuzuordnen ist.
D a ß die Klassik zu wesentlich k o m plizierteren Proportionssystemen fort
geschritten ist als die geometrische u n d die archaische Kunst, zeigt sich auch in der Architektur. Ich greife ei
nen der bedeutendsten und auf jeden Fall einen zukunftsweisenden Bau her
aus, die Propyläen der Akropolis zu Athen5 (Abb. 6, 7). Eine T ü r w a n d mit
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14
304
fünf von der Mitte nach außen propor
tional verkleinerten Offnungen wurde dergestalt in ein Gebäude mit zwei ge
raden Seitenwänden und zwei sechs- säuligen, an dorische Tempelfronten erinnernden Eingangsseiten einge
fügt, daß i m Inneren ein Höhenunter
schied von fünf Stufen überwunden w e r d e n konnte und vor der T ü r w a n d eine durch zwei Reihen von je drei io
nischen Säulen getragene Vorhalle entstand. D i e rückwärtige Halle sollte nur halb so tief sein und bedurfte des
halb keiner Innenstützen. Zur Propor- tionierung des ganzen Baus mußten nicht nur die A u ß e n m a ß e abgesteckt, sondern auch die L ä n g e n der Seiten
w ä n d e , die Linie der T ü r w a n d , die Breite der Offnungen und die Mittel
punkte der Säulen festgelegt werden.
M a n bediente sich dabei, dank eines genialen Einfalls des Architekten Mnesikles, eines einfachen Mittels, das m a n mit Schnüren auf d e m geeb
neten Baugrund aufschnüren konnte.
Es ist das sogenannte ägyptische D r e i eck, in d e m der Satz des Pythagoras A n w e n d u n g findet. W e n n m a n eine in 12 gleiche Abschnitte eingeteilte Schnur in der Weise zu einem Dreieck aufspannt, daß die Hypotenuse 5, die eine Kathete 4 und die andere 5 Teile ausmacht, so ist dieses Dreieck recht
winklig und fügt sich dementspre
chend in einen Halbkreis ein. Es er
weist sich, daß die Mittelpunkte der Ecksäulen auf einem Kreis von 1 Ple- thron, das sind 100 Fuß, Durchmesser liegen. Auf die beiden im Mittelpunkt dieses Kreises sich rechtwinklig kreu
zenden Durchmesser, das heißt an das Achsenkreuz, kann m a n nun auf bei
den Seiten ägyptische Dreiecke mit ei
ner Hypotenuse von 5 x 20, das heißt
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i : (
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100 Fuß anlegen. D i e Spitze dieser Dreiecke kann m a n nach rechts u n d links, oben u n d unten, vorn und h i n ten klappen und erhält so Schnittpunk
te mit der Verbindungslinie der Eck
säulen, die als Mittelpunkte für die bei
den mittleren Säulen dienen. Weitere Schnittpunkte legen den Ansatzpunkt der T ü r w a n d , die Achsen der I n n e n säulen und alles weitere fest, was ich hier nicht weiter ausführen kann. M a n
6 Athen, Propyläen der Akropolis von Mnesikles, 437-432 v. Chr.
7 Proportionssystem der Propyläen der Athener Akropolis mit Hilfe pythagoreischer Dreiecke (nach Edgar Wedepohl)
305
9 Proportionssystem in Form eines Pentagramms für das G a l l i e r m o n u m e n t Attalos' I. in P e r g a m o n , u m 220 v. Chr.
8 Sterbender Gallier (römische M a r m o r k o p i e nach d e m G a l l i e r m o n u m e n t Attalos' I. v o n Perga
m o n , u m 220 v. Chr.).
L . 1,85 m . Kapitolinisches M u s e u m , R o m
10 P e n t a g r a m m u n d hypothetische A n o r d n u n g der Figuren des Gallier
m o n u m e n t s Attalos' I. in Pergamon, u m 220 v. Chr.
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k a n n z e i g e n , d a ß n i c h t n u r d e r G r u n d r i ß , s o n d e r n a u c h d e r A u f r i ß d e s G e b ä u d e s m i t H i l f e d i e s e s P r o p o r t i o n s s y
s t e m s g e w o n n e n w u r d e , d a s a u s d e r H o r i z o n t a l e b e n e i n d i e V e r t i k a l e b e n e g e k l a p p t w o r d e n w a r .
3 0 6
4. Besonders interessant wird diese V e r w e n d u n g von regelmäßigen pytha
goreischen Dreiecken für ein k o m p l e xes Proportionssystem, w e n n wir uns n u n der hellenistischen Kunst z u w e n den und das Inbegriffbild einer helle
nistischen Skulpturengruppe, die gro
ßen Attalischen Gallier, ins Auge fas
sen.6 Erhalten sind von dieser u m 223 v. Chr. i m Athenaheiligtum der A k r o - polis von Pergamon aufgestellten G r u p p e nur römische Kopien, darun
ter der Gallierfürst u n d sein W e i b in der S a m m l u n g Ludovisi und der Ster
bende Gallier i m Kapitolinischen M u seum (Abb. 8). Auf der Basis des letzte
ren findet sich eine rätselhafte B e zeichnung7 einer geometrischen Figur aus drei konzentrischen Kreisen, mit kreuz und quer laufenden L i n i e n , die sich bei genauerem Hinsehen als die L i n i e n eines nur teilweise ausgeführ
ten Pentagramms erweisen (Abb. 9).
Ich glaube, diese L i n i e n als die K o m positionslinien des G r u p p e n m o n u ments (Abb. 10) deuten zu können, das auf einem zylindrischen M a r m o r s o k - kel an einer durch komplizierte Zirkel
schläge und Fluchtlinien festgelegten Stelle des von drei Säulenhallen einge
faßten Heiligtums lag. Das M o n u m e n t stand dabei so, daß es für den in das Heiligtum Eintretenden vor freiem H i m m e l erschien und nicht von e i n e m architektonischen Hintergrund hinter
schnitten wurde. Das Pentagramm diente nur dazu, die Achsen der rings u m den sich selbst tötenden Anführer niedersinkenden oder schon hinge
streckten Gallier festzulegen. Diese sollten sich nicht, w i e es eine ältere Bekonstruktionszeichnung a n n i m m t , symmetrisch u m die zentrale Figur aufbauen (so zeigt es etwa der Vierströ
m e b r u n n e n Berninis auf der Piazza N a v o n a in Born), sondern sie sollten, der ungeraden Fünfzahl entsprechend, eine Art Drall u m das Z e n t r u m des Kreises erhalten, der aber nicht d e m Zufall, sondern einem strengen Pro
portionsgesetz anvertraut wird.
5. Es ist klar, daß diese Entwicklung nicht i m m e r so weitergehen konnte, sondern daß m a n auf einer späteren Stufe wieder an einfachere Propor
tionsgesetze anknüpfen, diese aber entsprechend d e m eigenen K u n s t w o l len abwandeln mußte. Dies kann das letzte Beispiel aus der römischen Kai
serzeit lehren.
Ich stieß darauf, als ich versuchte, einen fragmentierten m o n u m e n t a l e n Sarkophag in der Glyptothek in M ü n chen zu ergänzen8 (Abb. 11, 12). D i e beiden Seitenwände und das Mittel
stück des Sarkophages, die aus d e m Kunsthandel nach M ü n c h e n gelang
ten, lehrten, daß diese Fragmente zu e i n e m Sarkophag der Klasse der L ö - wenjagdsarkophage gehören mußten.
D a ich 250 dieser Sarkophage i m C o r pus der römischen Sarkophagreliefs9
behandelt hatte, war es nicht schwer, aufgrund der Darstellung, des Stiles, der A b m e s s u n g e n und der M a r m o r b e schaffenheit zu erkennen, daß zwei verstreute Fragmente, das Pferd des Löwenjägers in Chapel Hill, North Ca
rolina, und das Vorderteil des L ö w e n in der Privatsammlung des Bauunter
n e h m e r s Torno in Mailand, vorhan
den waren.
Das Pferd paßte Bruch auf Bruch an den Beiter, das Fragment mit d e m L ö w e n aber hat an keiner Stelle Bruch
kontakt mit den übrigen Fragmenten.
I m m e r h i n sieht m a n die Bruchstelle,
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11 Lö w e n j a g d s a r k o p h a g der M ü n c h e n e r G l y p t o t h e k m i t zugehörigen Frag
m e n t e n aus M a i l a n d und Chapel Hill, u m 280 n. Chr.
12 Proportionssystem des m i t zugehörigen F r a g m e n ten in M a i l a n d u n d Chapel Hill ergänzten L ö w e n j a g d - sarkophages in der Glyptothek M ü n c h e n , u m 280 n . C h r . , 1,30 x 2,80 x 0,69 m ( Z e i c h n u n g : G . Tilia)
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2.80m
w o der linke Vorderhuf des Pferdes u n mittelbar vor d e m Bug des L ö w e n an
saß. M a n kann also den Abstand v o m Pferd u n d auch den v o m oberen und unteren Rand des Sarkophages ab
schätzen, aber eine genaue E i n o r d nung des Fragmentes in die Relief
komposition ist so nicht möglich.
Hier k o m m t nun das Proportionssy
stem zu Hilfe, mittels dessen die Figu
ren i m Rechteckbild der Sarkophag
front verteilt w u r d e n . Dieses System konnte durch das Studium und den Vergleich zahlreicher Sarkophagre
liefs herausgefunden und durch viele Messungen bestätigt werden.
308
Es w i r d auf einfache Weise durch Aufschnürung g e w o n n e n und legt den schöpferischen Geist in keiner Weise fest, da m a n in jedes Quadratnetz ein
fügen kann, was m a n will, und doch ei
nen sicheren Anhalt für die gleichmä
ßige und wohlproportionierte Vertei
lung der Massen gewinnt.
Das Quadratnetz, das durch Quadra
tur und Triangulation entsteht, wird in folgenden Schritten direkt auf die rechteckige Front des quaderförmigen Sarkophages - in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts waren die m o numentalen Sarkophage gewöhnlich doppelt so lang w i e hoch - aufge
schnürt. Aufschnürung bedeutet, daß m a n eine in Farbe getauchte Schnur über die Ebene der Front spannt und einmal kurz gegen den Stein schnellen läßt, so daß die Farbe der Schnur auf der Steinoberfläche haftet.
Zunächst legt m a n die Mittelsenk
rechte fest. Sodann zeichnet m a n in die beiden rechts und links entstehen
den quadratischen Felder die Diagona
len ein und legt durch deren Schnitt
punkte die Mittelsenkrechten der Quadrate und die Mittelwaagerechte des ganzen Feldes. Dadurch wird je
des der beiden Quadrate rechts u n d links in vier kleinere Quadrate einge
teilt, in die m a n die Diagonalen, die Mittelsenkrechten und Mittelwaage
rechten eintragen kann. M a n könnte dieses Verfahren fortsetzen, bis m a n eine Art Millimeterpapier erhält. M a n hat sich bei den Sarkophagen, soweit wir sehen, mit acht senkrechten u n d vier waagerechten Bahnen begnügt und die stehenden Figuren sowie den Reiter der Löwenjagdsarkophage ent
w e d e r in eine solche Bahn hineinge
stellt oderihre Körperachsen mit einer
der senkrechten Linien z u s a m m e n f a l len lassen. D i e Mittelwaagerechten ge
hen durch den Ansatz der Beine, die untere liegt unter den Knien, die obere legt die Schulterhöhe fest. D i e K o p f h ö he beträgt die Hälfte eines der klei
nen Quadrate, so daß die Figuren die schlanke Proportion von acht K o p f h ö hen haben, die es gestattet, sie in einer Art Figurenmauer dicht aneinanderge- drängt vor den Reliefgrund zu stellen.
Interessant wäre es nun, zu verfolgen, w i e sich die Komposition, die m a n bei d e m u m 260 entstandenen Sarkophag in R e i m s beobachtet, bei d e m etwa zwanzig Jahre später geschaffenen Sar
kophag in M ü n c h e n verändert hat.
D e r L ö w e , das Symbol des alles dahin
raffenden Todes, wurde gewaltig ver
größert, der Grabherr, der ihn besiegt und damit ewiges L e b e n gewinnt, ge
rät i m wahrsten Sinne des Wortes in größere Bedrängnis, er wird u m eine halbe Bahn aus der Mitte nach links gedrängt, die hinter i h m stehenden Fi
guren w u r d e n von drei auf zwei redu
ziert, das heißt, der Offizier, der d e m Grabherrn das Pferd z u m letzten Auf
bruch i m Tode zuführt, wird auf die lin
ke Nebenseite verdrängt. Ich m u ß mir, da es h i e r u m die Frage der Proportio
nen geht, alle weiteren Ausführungen versagen u n d abschließend feststellen, daß in diesem Fall die Entdeckung des Proportionssystems zur Ergänzung ei
nes epochalen Meisterwerkes der spätantiken Kunst, des einzigen m o n u mentalen Löwenjagdsarkophages in einem deutschen M u s e u m , verholfen hat. Vor einigen Jahren boten sich die Fragmente dieses Meisterwerkes in der M ü n c h e n e r Glyptothek eher trau
rig, in einer für das Publikum unver
ständlichen Form dar. Nach der Einfü-
15 Lö w e n j a g d s a r k o p h a g (Fragment), u m 270 n. Chr. A n t i k e n m u s e u m Basel u n d S a m m l u n g L u d w i g , Leihgabe S a m m l u n g L u d w i g
14 D e r L ö w e n j a g d s a r k o p h a g aus der S a m m l u n g L u d w i g m i t darübergespanntem Raster zur B e s t i m m u n g der K o m p o s i t i o n mit Hilfe von Quadratur und Triangulation
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gung der Fragmente in Chapel Hill und M a i l a n d m i t Hilfe von Abgüssen kann die Phantasie des Betrachters die ganze eindrucksvolle Szene leicht er
gänzen.
In der Archäologie ist die Entdek- kung der e i n e m Kunstwerk zugrunde
liegenden Proportion nicht nur für die historische E r k u n d u n g des Entwick
lungsvorgangs und damit der Aussage eines Kunstwerkes wichtig, sondern auch für die Wiederherstellung vieler nur in Bruchstücken ü b e r k o m m e n e r Werke. Das Wichtigste bleibt jedoch die historische Erkenntnis, die sich nicht mit e i n e m W o r t zusammenfas
sen läßt.
Es gibt zwar eine antike Definition von Vitruv ( D e Architectura III 1,1), die sich auf alle vorgeführten Beispiele an
w e n d e n läßt. Sie lautet: »Proportio est ratae partis m e m b r o r u m in o m n i ope- re totaque c o m m o d u l a t i o ex qua ratio efficitur symmetriarum.« (»Totaque«
[in der Uberlieferung] von den Her
ausgebern in »totoque« oder »totius- que« verändert; dt.: »Proportion ist die totale U b e r e i n s t i m m u n g des berech
neten Teils der Glieder i m ganzen W e r k , woraus die Gesetzmäßigkeit der Symmetrien entsteht.«)
Ich m e i n e aber, daß diese Definition zu allgemein ist, u m eine historische Differenzierung zu erlauben. Das Er
gebnis unserer Untersuchung läßt sich vielmehr zu der These verdichten, daß auch die Proportion d e m geschichtli
chen W a n d e l unterworfen ist und je
de Kunstepoche sich ein ihrem Kunst
wollen, das heißt auch K ü n d e n - W o l - len, angemessenes Proportionssystem schaffen muß.
Interessant ist, daß m a n in g e o m e trischer Zeit ein System paralleler L i -
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nien verwendet, in archaischer einen rechtwinkligen Raster, in klassischer Zirkelschläge und pythagoreische Dreiecke, in hellenistischer Penta
g r a m m e u n d in römischer Quadratur und Triangulation, also die Verbin
dung von rechtwinkligem Raster und Diagonalen. Diese fünf Systeme sind für alle Zeiten grundlegend geblieben.
Postscriptum:
Von besonderem Interesse war n u n ein Experiment, das ich vor den Teil
n e h m e r n an der Vortragsveranstal-
15 Detail der linken Seite des L ö w e n j a g d s a r k o p h a - ges aus der S a m m l u n g L u d w i g mit darüber
gespanntem Raster
311
tung i m A n t i k e n m u s e u m Basel an d e m Lö w e n j a g d s a r k o p h a g der S a m m lung L u d w i g (Abb. 13) unmittelbar ausführen konnte. Ich hatte mit Hilfe einer exakten Fotografie den b e i m M ü n c h e n e r Sarkophag gefundenen Proportionsraster angelegt u n d da
nach berechnet, w i e hoch und wie lang der links und unten abgebrochene Sar
kophag ursprünglich gewesen sein m u ß . Aufgrund dieser M a ß e fertigte Karl Faltermeier einen R a h m e n des Vorderseitenfragmentes an, der die vermutlich ursprüngliche G r ö ß e der Sarkophagfront umfaßte (Abb. 14,15).
A m oberen u n d a m unteren Rand w a ren in gleichem Abstand voneinander je neun Haken, am rechten und am lin
ken R a n d je fünf H a k e n angebracht, wobei die H a k e n in den Ecken doppelt gezählt werden. O h n e den Sarkophag und den R a h m e n je gesehen zu haben, spannte ich nun über diese H a k e n eine
senkrecht, waagerecht u n d diagonal verlaufende Schnur, und siehe, es er
gab sich eine v o l l k o m m e n überzeu
gende Proportionierung der einzelnen Figuren u n d der G e s a m t k o m p o s i t i o n . D i e Position des Löwenjägers zu Pfer
de w i r d durch die senkrechte Mittel
linie festgelegt. Dieser Reiter n i m m t mit s e i n e m Pferd genau die beiden mittleren senkrechten B a h n e n ein, w ä h r e n d alle anderen Figuren durch je eine B a h n festgelegt sind. D e r L ö w e springt aus der rechten unteren Ecke genau in der Diagonalen hoch. D i e waagerechte Mittellinie geht exakt durch den Ansatz der Beine der auf
recht stehenden Figuren. Das Experi
m e n t kann als eine Art Neunerprobe auf die Richtigkeit der Hypothese gel
ten, daß die m o n u m e n t a l e n r ö m i schen Sarkophagreliefs mit Hilfe einer aufgeschnürten Quadratur u n d Trian
gulation proportioniert w u r d e n .
A n m e r k u n g e n
1 Bernard A n d r e a e : Z u m D e k o r a t i o n s s y stem der geometrischen A m p h o r a 804 i m N a t i o n a l m u s e u m Athen. - I n : Stu- dies in Classical Art und Archaeology presented to Peter H e i n r i c h von B l a n - ckenhagen, N e w York 1979, S. 1-16.
2 Vgl. Bernard A n d r e a e , H e l l m u t Flashar:
Strukturäquivalenzen zwischen den H o m e r i s c h e n E p e n u n d der frühgriechi
schen Vasenkunst. - In: Poetica. Z e i t schrift für Sprach- und Literaturwissen
schaft, 9,1977, S. 217-265.
3 Robert H e i d e n r e i c h : Ü b e r d i e B i l d u n g s gesetze einer archaischen Statue. - I n : Corolla L u d w i g Curtius, Stuttgart 1937, S. 67-71, Taf. 11.
4 Ernst Berger ( H g . ) : D e r E n t w u r f des Künstlers. B i l d h a u e r k a n o n in der A n t i ke u n d Neuzeit, Basel 1992.
5 Edgar W e d e p o h l : M a ß g r u n d und G r u n d m a ß der Propyläen von Athen. -
I n : B o n n e r Jahrbücher, 161,1961, S. 2 5 2 bis 262.
6 Filippo Coarelli: II » G r a n d e D o n a r i o « d i Attalo I. - I n : I Galli e T h a l i a , R o m a 1978, S. 231-255. M a r i n a M a t t e i : II Galato C a - pitolino, R o m a 1988. Lise H a n n e s t a d : G r e e k s and Celts. - I n : Centre and Peri- phery in the Hellenistic W o r l d , ed. Per Bilde, A a r h u s 1993, S. 15-38.
7 M a r i n a Mattei (s. A n m . 6), S. 33, Fig. 27.
8 Bernard A n d r e a e : D i e S y m b o l i k der L ö w e n j a g d , O p l a d e n 1985. Vgl. ders.: Z u r K o m p o s i t i o n des großen L u d o v i s i s c h e n Schlachtsarkophages. - In: W i s s e n schaftliche Zeitschrift der Universität Rostock, 17, 1968, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, H . 7/8, S. 6 3 5 - 6 3 9 , Taf. 835 f.
9 Corpus der antiken Sarkophagreliefs I 2, D i e r ö m i s c h e n Jagdsarkophage, Berlin 1980.