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Academic year: 2022

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Prolog

Mein Name ist Ivar Niederberger, ich bin Legasthe- niker, leide unter dem Tourette-Syndrom und ich bin Millionär. Nun könntest du sagen, dass Geld allein nicht glücklich macht. Stimmt, Geld allein macht nicht glücklich. Aber es beruhigt ungemein, und das ist ja auch schon was, nicht wahr?

Der Inhalt dieses Buches betrifft eigentlich nicht das Geld, es ist vielmehr dem Glück gewidmet. Der erste Satz hätte genauso gut lauten können: Mein Name ist Ivar Niederberger, ich bin Legastheniker, leide un- ter dem Tourette-Syndrom und ich bin glücklich. Dann aber hättest du das Buch höchstwahrscheinlich sofort wieder weggelegt. Denn, lass uns ehrlich sein, wen interessiert es schon, ob ich glücklich bin oder nicht?

Wenn du trotzdem weitergelesen hättest, so wärst du doch zumindest misstrauisch geworden. Millionäre kennst du sicherlich einige, aber wirklich glückliche Menschen, wie viele kennst du da? Zehn, drei oder etwa keinen einzigen?

Vielleicht gehört das Drama zum Leben wie das Salz in die Suppe. So gesehen war mein bisheriges Leben besonders «würzig». Ein wichtiger Bestandteil dieser

«Würze» sind auch meine dunkelsten Tage. Auch von diesen werde ich dir berichten. Von Tagen, an denen

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ich der Verzweiflung nahe stand. Von Tagen, an denen ich nicht mehr weiter wusste. Doch genau an diesen stellten sich die wichtigsten Weichen, da ich niemals den Kopf in den Sand gesteckt habe. So kann ich heute, wenn mich jemand fragt, was ich denn anders machen würde, wenn ich noch einmal von vorne anfangen könnte, aus vollster Überzeugung antworten: Ich wür- de alles genau so noch einmal machen.

Meine Geschichte ist, trotz oder gerade wegen der vielen Rückschläge, von denen du lesen wirst, eine durch und durch positive. Darum ist es mir sehr wich- tig, dass du dieses Buch nicht in Hetze liest, zwischen Tür und Angel, sondern dass du mit einer positiven Grundeinstellung an das «Projekt» herangehst. Nimm dir Zeit! Denn du willst ja schließlich etwas verändern, oder nicht?

Setz dich an einen Platz, an dem du dich wohl- fühlst, zu Hause oder auf die Bank unter deinem Lieb- lingsbaum oder an irgendeinen anderen Ort. Mach es dir gemütlich!

Keine Angst, ich werde dich nicht mit hochgesto- chenen philosophischen Abhandlungen zumüllen.

Ganz im Gegenteil, ich werde dir ganz einfach aus mei- nem Leben erzählen.

Meine Geschichte ist im Grunde simpel. Sieh dich trotzdem nicht als außenstehender Beobachter! Ver- suche teilzunehmen! Versuche, dieses Buch als einen Spiegel zu sehen und dir anhand dieses Spiegels Fra- gen über dein eigenes Leben zu stellen!

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Kritiker werden sagen: «Dieser Ivar Niederberger hat einfach nur Glück gehabt. Diese Biographie ist nichts als die pure Aneinanderreihung glücklicher Zufälle.»

Dem widerspreche ich schon jetzt, im Vorwort, ener- gisch. Natürlich kann ich mich «glücklich» schätzen, wenn ich in einem Land aufwachsen darf, das keinen Hunger und keine Kriege kennt; wenn ich Eltern habe, die mich hegen und pflegen, lieben und fördern; wenn ich gesund bin; wenn ich zur Schule gehen und einen anständigen Beruf erlernen oder gar studieren kann;

wenn ich eine schöne Frau fürs Leben finde und liebe und gesunde Kinder in die Welt setze. Mit Glück meine ich jedoch nicht das «gegebene» Glück, die Vorteile, in die ich hineingeboren werde oder die mir in den Schoß fallen, ohne dass ich auch nur den kleinsten Finger dafür rühre. Ich spreche, wie es so schön heißt, vom

«Glück des Tüchtigen». Vom Glück nämlich, das man sich erarbeiten muss. Diese Art von Glück anzustreben ist für viele Menschen zu anstrengend, die nicht mit- tel- oder langfristig an ihrem Glück arbeiten wollen.

Ich meine: Der Weg zum Glück ist das Glück selbst! Je stärker du dein Ziel liebst, desto unbändiger wird dein Wille. Wenn du wirklich willst, werden deine drecki- gen Hände und die Müdigkeit am Abend dich glück- lich machen. Diese Erkenntnis: «Tun – Glück schreibt man mit drei Buchstaben» begleitete mich mein ganzes Leben.

Ich will dir nicht vorschreiben, wie du zu leben hast. Vielleicht lebst du schon erfüllt und glücklich un- ter diesem oder irgendeinem anderen Motto. Wie ich

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aber unsere Gesellschaft, vor allem die jungen Men- schen unter uns einschätze, glaube ich, dass meine Bot- schaft vielen weiterhelfen und auch sie zu glücklichen Menschen machen wird.

Ich habe dieses Buch in drei Teile gegliedert. In die- sem ersten Teil möchte ich dir einen Einblick in mein Leben geben, dir von meiner Kindheit erzählen, von meiner Krankheit, meiner Schulzeit, meinen Lehrjah- ren. So wirst du verstehen, wie ich wurde wie ich bin und wie ich es schaffte, mein Leben selber zu gestalten.

Im zweiten Teil dieses Buches möchte ich meine Aussa- gen kritisch überprüfen und hinterfragen lassen. Dabei wird die fiktive Person Ivan Zweifel, der ewige Pessi- mist und notorische Spielverderber, unser aller «inne- rer Schweinehund» versuchen, meine Behauptungen in der Luft zu zerreißen und zu widerlegen. Natürlich werde ich dies nicht zulassen! Gegen unseren Ivan Zweifel zu kämpfen und ihn zu besiegen ist nämlich der wichtigste Schritt auf dem Weg ins Glück.

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Meine Zeit

Es war einmal... – so beginnen normalerweise Märchen.

Was du nun aber lesen wirst, ist absolut kein Märchen, sondern die Wahrheit über die Geschichte meines Le- bens. Manches wird dir banal erscheinen, nicht erwäh- nenswert, aber dein Einblick in mein Leben wird tiefer und tiefer werden, und du wirst mich verstehen. Nun gut, erlaube mir, geradewegs einzusteigen. Wie es viele Biographien eben so an sich haben, so beginnt auch die meine – natürlich – mit meinen Eltern.

Silvia, meine Mutter, und mein Vater Joseph – wir nannten ihn Johnny – arbeiteten im «Milchhüsli» in Binningen, das heute leider nicht mehr existiert. Da- mals führte mein Vater die Milchzentrale, während meine Mutter als Verkäuferin im Milchlädeli die Kund- schaft bediente und sich – so ganz nebenbei – zu Hause um Haushalt und Familie kümmerte. Als mein Bruder Herbert – wir nannten ihn Mike – bereits seinen sieb- zehnten Geburtstag hinter sich hatte, wurde meine Mutter noch einmal schwanger.

Bereits der Beginn meines Lebens war alles andere als gewöhnlich. Als erster von zweieiigen Zwillingen wurde ich nämlich genau zu Beginn der Narrenzeit am elften November des Jahres 1969 geboren. Der Chirurg schien ein Scherzkeks gewesen zu sein, denn als wäre mein ohnehin spezieller Geburtstag nicht schon ver-

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rückt genug, holte er mich exakt elf Minuten nach elf Uhr per Kaiserschnitt auf die Welt. Zwar bin ich des- wegen kein begeisterter Fasnächtler geworden, doch wer weiß, vielleicht hat dieser Arzt mir damit den Grundstein für meine Fröhlichkeit und meinen eige- nen Humor in die Wiege gelegt.

Und wie es bei zweieiigen Zwillingen so üblich ist, waren auch wir von Geburt an verschieden. Mein Bru- der blieb rothaarig und klein, während ich schwarz- haarig und groß wurde.

Wie uns die Familie prägt, genauso können auch die Ereignisse unserer Zeit unsere Entwicklung beeinflus- sen. So ist beispielsweise schon mein Geburtsjahr 1969 voller Symbole und Gleichnisse, die in der Welt tiefe Spuren hinterließen und vielleicht auch meinen Cha- rakter färbten.

Da war beispielsweise die Aufmerksamkeit um die Oskar-prämierte Verfilmung des Musicals «Oliver!», das die Geschichte von Oliver Twist erzählt. Du fragst, warum das für mein Leben wichtig war? Nun, wie Oli- ver Twist, der sich zeit seines Lebens mit schwierigen Situationen konfrontiert sah, so war auch ich stets flei- ßig und versuchte anständig und ehrlich zu bleiben.

Ein weiteres, noch etwas höher gestochenes Beispiel ist Neil Armstrong, der am einundzwanzigsten Juli 1969 als erster Mensch den Mond betrat und der ganzen Welt verkündete: «Das ist ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein großer Sprung für die Menschheit!»

Im unerschütterlich positiven Glauben an die eigene

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Vision bewiesen die Amerikaner der Welt erfolgreich die Möglichkeit eines solch gewaltigen «Sprungs».

Auch ich entwickelte große Visionen und glaubte stets an meinen Erfolg! «Naiv», könntest du sagen. Ich sage:

Du hast recht! In meinem Fall bedeutet Naivität näm- lich Stärke!

Zurück zur Geschichte: Am Woodstock Music and Art Festival im August 1969 war der noch junge und damals unbekannte Sänger Joe Cocker einer der Höhe- punkte. Seine zappelnde und zuckende Bühnengestik wurde von da an sein Markenzeichen. Wie Joe Cocker in Woodstock mit seiner unverwechselbaren Interpre- tation von «With a Little Help from My Friends» die Massen in Hysterie versetzte, so lernte auch ich – als grottenschlechter Sänger wohlgemerkt – mit meiner ungeschminkten Art und so wie ich eben war, die Men- schen für mich zu gewinnen.

Selbstverständlich gab es in diesem Jahr noch viele andere Ereignisse, die wichtig waren, wie zum Beispiel die Vereidigung von Präsident Nixon. Doch die drei erstgenannten Ereignisse sollten meinem Leben von Anfang an Pate stehen. Ich glaube, jedem tut es gut, sich für das eigene Leben große Symbole zu schaffen und zu erhalten.

Die Voraussetzungen, in die du «hineingeboren» wirst wie auch die Geschichten und Begebenheiten, die dich begleiten – seien sie positiv oder negativ –, prägen dich auf eine unglaublich intensive Art und Weise. Für den einen sind die Bedingungen von Anfang an prächtig,

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für den anderen weniger gut. Es ist jedoch wichtig, dass du verstehst, dass nichts auf Dauer gut oder schlecht ist. Alles Gute kann sich zum Schlechten wenden, und genauso bieten sich in jedem noch so tiefen Tal Mög- lichkeiten, wieder ganz nach oben auf den Gipfel zu kommen. Ich kann es dir nicht verübeln, wenn du nun denkst: «Pah! Dieser Ivar wird in geordnete Verhältnis- se geboren, lässt sich von Mondflügen und Joe Cocker leiten und will mir dann erzählen, ich solle Schlechtes in Gutes verwandeln.» Bitte lass mich dir entgegnen:

Ja, auch ich durfte eine gehörige Portion der Art Glück genießen, für die ich nichts tun musste. Aber auch ich hatte, wie du zweifelsohne noch lesen wirst, mit einem Haufen Widrigkeiten zu kämpfen, für deren Existenz ich selber ebenfalls nichts konnte. Bitte verzeih meine Radikalität, wenn ich sage, dass es nichts auf der Welt gibt, das komplette Resignation rechtfertigt.

So schwer die Startbedingungen auch sind – wenn du einmal erkannt hast, was falsch läuft, wirkt das unglaublich befreiend, denn nun kannst du beginnen zu kämpfen. Zunächst gegen deinen inneren Schwei- nehund, dann für dein Ziel! Schau dir beispielsweise Deutschland kurz nach dem Zweiten Weltkrieg an – to- tal zerstört! Hier musste eine ganze Nation neuen Mut fassen, um an eine Zukunft glauben und wieder auf die Beine kommen zu können. Welchen Weg Deutschland im Anschluss ging, wissen wir alle. Oder Lance Arm- strong, der nach seiner schweren Krebserkrankung wieder aufstand und dann sechsmal in Folge die Tour de France gewann. Du wirst endlos viele Beispiele

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dieser Art finden. Es gibt einfach verdammt noch mal keinen vernünftigen Grund, seine Zweifel nicht zu bekämpfen! «Nutze dieses Buch wie einen Spiegel!», habe ich dir vorhin gesagt. Gelegenheiten wie diese meinte ich damit.

Ich hoffe, ich erschrecke dich nicht mit meiner di- rekten Art. Ich möchte nicht den Moralapostel spielen und erhebe keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit.

Aber ich glaube, dass viel zu oft der Arsch eben nicht aus dem Sessel gehoben wird.

Lass uns wieder zurückkommen zu meiner Biogra- phie. Kurz vor Weihnachten, ich war damals gera- de vier Jahre alt, rief meine Mutter mich und meinen Zwillingsbruder Benno zu sich. Es war ein Sonntag, und zwar ein besonders düsterer, das weiß ich noch genau, als wärs erst gestern gewesen. Ehrfürchtig und gespannt lauschten wir am warmen Kamin den Wor- ten unserer Mutter: Es sei nun an der Zeit, die Liste mit unseren Weihnachtswünschen fürs Christkindlein zu erstellen. So saßen wir also zusammen und überlegten uns lange, welche Wünsche wir uns vom Weihnachts- kind erfüllen lassen wollten. Geduldig schrieb meine Mutter alle unsere Wünsche auf ein großes Blatt Papier.

Dann bemalten wir die Wunschliste noch mit bunten Sternchen, falteten und legten sie schließlich in einem Kuvert auf den Fenstersims.

Mein Herz schlug höher und in meinen Gedan- ken ging ich alle Wünsche noch einmal der Reihe nach durch: ein roter Ball mit weißen Punkten, ein neues

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Fahrrad, blau musste es sein, eine elektrische Eisen- bahn mit Berglandschaft und Tunnel, ein Spielzeugzoo mit indischen und afrikanischen Elefanten und vieles andere mehr. Ach ja, und der allergrößte Wunsch war ein Schlagzeug mit allem was dazugehört.

Mein Bruder und ich konnten es kaum erwarten.

Viele Türchen im Adventskalender mussten noch ge- öffnet werden, noch viele Tage bis Weihnachten. Und obwohl die Tage stetig kürzer wurden, schienen sie mir doch endlos länger als üblich.

Doch dann war es endlich so weit, Heiligabend stand vor der Tür. Unter Anleitung und Hilfe unseres Vaters durften wir den knorrigen Weihnachtsbaum mit den reichverzierten Kugeln und den selbst gebastelten Papiersternen schmücken, dazu kamen noch weiße Kerzen, Girlanden und kleine rote Äpfel. Alles sah so wunderschön aus. Als auch Mutter damit zufrieden war, mussten wir wieder zurück in unser Zimmer. Wie du dir selber vorstellen kannst, war dieser Moment kaum auszuhalten, dennoch blieben wir artig im Zim- mer, damit das Christkindlein, das leise durchs ange- lehnte Fenster in die warme Stube schwebte, nicht ge- stört wurde, wenn es uns all die Geschenke unter den Weihnachtsbaum legte.

Endlich! Endlich erklang leise das Glöckchen und mein Bruder und ich stürmten fröhlich und voller Er- wartung aus dem Zimmer hinein in die Stube. Mut- ter und Vater saßen mit feuchten Augen auf dem Sofa.

Der bunte Weihnachtsbaum, die brennenden Kerzen, überall kleine Lichter, es war einfach traumhaft. Doch

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vom Christkindlein war nichts zu sehen, keine Spur, nicht einmal ein Hauch davon. Natürlich reagierten wir enttäuscht, schließlich hatten wir uns so darauf ge- freut und geduldig ausgeharrt, um das heilige Wesen wenigstens einmal zu Gesicht zu bekommen. Wir seien nicht die einzigen Kinder, welche das Christkind besu- chen müsse, und die Zeit sei nun mal knapp, so dass es mächtig pressieren müsse, um alle Kinder glücklich machen zu können, wurden wir von unserer Mutter getröstet. Aber es hatte uns ja Geschenke gebracht, al- lein der Gedanke daran brachte uns über unsere Ent- täuschung hinweg. Als wir die vielen bunten Pakete unter dem prächtigen Weihnachtsbaum entdeckten, große und kleine, lange und schmale, war das Christ- kind endgültig zur Nebensache geworden.

Bevor wir uns aber ans Auspacken machen durf- ten, mussten mein Bruder und ich noch dem obligaten Weihnachtsessen beiwohnen. Obwohl uns Mutter mit ihrer exzellenten Kochkunst immer wieder in Staunen versetzte und wir ihre Küche schon damals über alles liebten, verspürten wir an diesem Abend verständli- cherweise nicht den kleinsten Hunger. Nachdem wir den kulinarischen Teil endlich hinter uns hatten, kam das leidige Pflichtprogramm, das mir wiederum end- los lang und sinnlos erschien. Mein Vater spielte DJ und legte einen Weihnachtshit nach dem anderen auf.

Später las unsere Mutter aus einem dicken goldenen Weihnachtsbuch die heilige Geschichte. Nach «Oh du Fröhliche» und «Oh Tannenbaum» war es dann endlich so weit. Bescherung! Die Geschenke wurden

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verteilt und ich machte mich sogleich daran die Weih- nachtslieferung zu überprüfen.

Ach du liebe Scheiße! Nicht einmal die Hälfte von dem, was ich bestellt hatte, war geliefert worden, statt- dessen erhielt ich lauter nutzloses Zeugs. Statt einer elektrischen Eisenbahn bekam ich eine aus Holz, dazu gestrickte Socken, einen Pyjama, einen neuen Geifer- latz und ein Puzzle, bestehend aus fünftausend Teilen.

Das war die ganze Ausbeute.

Mannomann, was für ein Reinfall! Wie hättest du auf diese Pleite reagiert? Ich auf jeden Fall war stock- sauer, auf das bescheuerte Christkind und auf die gan- ze Welt!

Im nächsten Jahr war ich fest entschlossen, mir das nicht noch mal gefallen zu lassen. Ich würde das Ganze professioneller angehen. Aus den zahlreichen, von den Spielzeughändlern jeweils kurz vor der Ad- ventszeit verschickten Katalogen suchte ich mir nun meine Geschenkwünsche zusammen. Diese schnitt ich mit der Schere vorsichtig aus und klebte sie der Rei- he nach auf ein Blatt Papier. Penibel genau übertrug ich neben den Bildchen Artikelnamen, Artikelnummer, den Preis und die Seitenzahl, geduldig überwacht von meiner Mutter, da ich noch nicht schreiben konnte und eigentlich auch nicht wusste, was die einzelnen Zahlen und Buchstaben zu bedeuten hatten. Diesmal würde nichts mehr schiefgehen und ich war der festen Über- zeugung, dem Christkindlein auf diese Weise viel Zeit eingespart zu haben.

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So hatte ich alles bestens eingefädelt und war stolz auf meine Arbeit. Wieder gingen die Adventstage nur lang- sam vorbei. Türchen um Türchen wurde geöffnet und dann, nach beinahe endlosem Warten, war es endlich wieder so weit, Heiligabend. Wieder mussten wir im Kinderzimmer warten, bis das Glöcklein erklang. Ab ins Wohnzimmer! Und wieder keine Spur vom Christ- kind, einzig das halb geöffnete Fenster als Indiz, dass es wirklich da gewesen war. Eigentlich war mir das nun egal. Hauptsache, es hatte die richtigen Geschen- ke mitgebracht. Was jetzt kommt, kennst du ja schon:

Beinschinken, Weihnachtsgeschichte, falsch gesungene Weihnachtshits und so weiter. Endlich wurden die Ge- schenke verteilt. Mein Herz pochte und meine Erwar- tungen waren riesig.

Gab es denn sowas?! Trotz all meiner Bemühungen war die Lieferung schon wieder vollkommen falsch.

Taschentücher, gestrickte Socken (diesmal in Rot), eine Strickjacke, zwei Bücher (dabei konnte ich noch nicht einmal lesen) und ein Teddybär, obwohl ich auf der Wunschliste klipp und klar unter anderem das Schlag- zeug und das blaue Fahrrad vermerkt hatte.

Schwer enttäuscht, stocksauer und gekränkt wur- de mir damals bewusst, dass ich mich auf absolut nie- manden verlassen konnte, noch nicht einmal auf das Christkind. Sollten meine Wünsche also in Erfüllung gehen, so musste ich selbst dafür sorgen. Eine harte Er- kenntnis für einen fünfjährigen Jungen, aber eine weg- weisende für meine Zukunft.

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Was ich dir mit dieser Geschichte eigentlich sagen möchte: Je mehr Erwartungen du «auslagerst» und in andere steckst, desto größer wird die Gefahr, ent- täuscht zu werden. Wenn du in der Scheiße steckst, dann suche einen Weg, dich alleine daraus zu befreien.

Warte nicht, bis dir jemand hilft, sondern hilf dir selbst.

Das kannst du nämlich besser als du glaubst.

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Tics und Jobs

Mit der Zeit wurde Mutter die Arbeit im «Milchhüsli»

zu viel. Um uns Kindern mehr Zeit widmen zu kön- nen, gab sie die Stelle schließlich auf und blieb fortan bei uns zu Hause. Das hieß, dass mein Vater nun allei- ne das Geld für die Familie heranschaffen musste. Not- gedrungen wechselte er daraufhin den Arbeitsplatz. In der Markthalle, in der Obst und Gemüse en gros ge- handelt wurden, arbeitete er zunächst als Chauffeur.

Kurze Zeit später hätte er das Geschäft übernehmen können, dazu fehlte aber leider das nötige Startkapital.

Glücklicherweise übernahm der neue Besitzer der Fir- ma meinen Vater gleich mit.

Die Wochentage liefen stets nach demselben Mus- ter ab. Morgens um halb fünf verließ mein Vater die Wohnung, damit er pünktlich um fünf mit der Arbeit beginnen konnte. Als Angestellter belieferte er morgens Gastrobetriebe und Kantinen mit frischem Obst und Gemüse. Über den Mittag kam er jeweils nach Hause.

Das Essen, welches unsere Mutter jeden Tag aufs Neue liebevoll zubereitete – sie ist noch heute eine tolle Kö- chin –, stand dann bereits auf dem Tisch. Gemeinsam saßen wir dann beisammen und jeder erzählte, was er so erlebt hatte. Während sich Mutter danach um den Abwasch kümmerte, legte sich Vater zufrieden für eine halbe Stunde auf das Sofa, döste ein wenig vor sich

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hin und lauschte mit einem Ohr den DRS 1-Nachrich- ten im Radio. Kurz darauf stand er schon wieder auf den Beinen, um pünktlich um ein Uhr seinen klappri- gen VW-Bus wiederum mit frischer Ware zu beladen, welche er nachmittags als eigener Chef seiner privaten Kundschaft lieferte.

Nach einem langen, harten Arbeitstag, so gegen sieben, kam Vater dann meist müde und abgekämpft nach Hause. Nach dem Abendessen musste er noch den Lieferwagen ausräumen, um für den darauffol- genden Tag startklar zu sein. Meinen Vater, einen gut- mütigen und liebenswerten Mann so schuften zu sehen beeindruckte mich schon damals als kleinen Jungen.

Mit fünf Jahren kam ich dann zusammen mit mei- nem Bruder Benno in den Kindergarten. Damals war für mich die Welt noch in Ordnung. Doch allmählich zeichnete sich etwas Merkwürdiges in mir ab. Ich be- kam immer häufiger komische Zuckungen und gab vermehrt unkontrollierte Laute und Bewegungen von mir – die ersten Anzeichen meiner sonderbaren Krankheit. Ich verstand damals nicht, was diese Din- ge auslöst. Ich, aber auch meine Eltern und Brüder reagierten mit Befremden auf meine unkontrollierten Ausbrüche. Du kannst dir überhaupt kein Bild davon machen, wie schlimm dies alles für mich war. Obwohl ich es nicht wollte, kamen Laute aus meinem Mund und ich schleuderte die Arme hoch, es war schrecklich.

Ich versuchte all dies zu unterdrücken, doch so sehr ich mich auch bemühte, es gelang mir einfach nicht,

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mich auch nur ein kleines bisschen zu beherrschen. Es ist schwierig, dir zu beschreiben, was da genau in mir ablief und bis heute abläuft. Das furchtbare Gefühl zu wissen, nicht Herr seiner selbst zu sein, ist vielleicht am ehesten mit einem Schluckauf vergleichbar. Je mehr du versuchst, ihn zu unterdrücken, desto mehr nimmt er dich ein, desto mehr beschäftigt er dich, desto mehr macht er dir zu schaffen.

Mit dem Eintritt in die Primarschule begann dann meine Odyssee der Schwierigkeiten. Als der Schularzt mich untersuchte, meinte er salopp, die Zuckungen würden spätestens mit der Pubertät wieder verschwin- den. So überließ er mich meinem weiteren Schicksal. Er sollte sich täuschen. Später brachten mich meine Eltern zur genaueren Abklärung zum Kinderarzt, schließlich wollten sie diesen Absonderlichkeiten endlich auf den Grund gehen. Darauf wurde mir das Tourette-Syn- drom diagnostiziert, benannt nach dem französischen Arzt Georges Gilles de la Tourette, der die Symptoma- tik bereits um 1885 erstmals auf wissenschaftlicher Ba- sis beschrieb. De la Tourettes Arbeit geriet im Laufe der Zeit jedoch wieder in Vergessenheit, so dass in der Fol- ge meist falsche Diagnosen gestellt wurden. Erst in den 1990er Jahren trat die Krankheit vor allem in Deutsch- land wieder verstärkt in das öffentliche Interesse.

Der zweite schwere Schlag ließ nicht lange auf sich warten. Schon bald wurde neben meinem Tourette- Syndrom auch noch eine schwere Legasthenie festge- stellt, der Grund, warum ich bis heute mit Buchstaben auf Kriegsfuß stehe. Es war schlimm zu sehen, wie

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meine Mitschüler um mich herum Fortschritte mach- ten, während ich auf ein und derselben Stelle verharr- te. Toll, das war genau das, was zu meinem Glück noch gefehlt hatte. Natürlich hatten beide Diagnosen nicht gerade eine positive Wirkung auf mein Lernverhalten und so kam es, wie es zwangsläufig kommen musste:

Ich gehörte bald zum Kreis derjenigen Schüler, welche die Schule und die damit verbundenen Aufgaben nicht sonderlich schätzten. Ganz im Gegenteil, ich war eine richtige Niete, ein Versager, eine Null. Im Sprachge- brauch meiner Mitschüler war ich ein «Spasti», dabei haben Spastiker mit anderen Problemen zu kämpfen, spastische Ausbrüche haben mit dem Tourette-Syn- drom fast nichts gemeinsam. Der Schule konnte ich bald nichts Positives mehr abgewinnen, ja, ich begann sogar sie zu hassen.

Schon bald war ich für die ordentliche Schule nicht mehr tragbar, und so waren sich auch alle schnell einig, mich in diejenige erste Klasse zu schicken, die doppelt so lange dauerte wie die normale. Brachte natürlich nichts! Genauso wenig wie der nächste Wech- sel in die Sprachheilschule in Riehen, wo man mich mit intensivem Einzel- und Therapieunterricht eindeckte.

«Schwätzi» nannten wir Schüler diesen Einzelunter- richt, da wir vor allem viel reden und spielen durften anstelle des mühsamen Paukens. Erfolglos! Desillusio- niert schob man mich nach zwei Jahren wieder weiter, und zwar zurück nach Binningen in eine Kleinklasse, obwohl (und das ist das Perfide daran) sowohl Tou- rette als auch Legasthenie mit Intelligenz nichts im

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Geringsten zu tun haben. Heute nimmt man an, dass auch Wolfgang Amadeus Mozart am Tourette-Syn- drom litt.

Da war ich nun also, in der Deppenklasse. Hier waren punktuell schwächelnde Schüler wie ich in der Minderheit, die meisten waren tatsächlich ein bisschen doof. Und so war es nicht weiter verwunderlich, wenn die Fragen der Lehrer nur ahnungsloses Schulterzu- cken ernteten oder, wenn überhaupt, komplett dämli- che Antworten. Wie beispielsweise Hansli auf die Auf- forderung des Lehrers, das Zweimalzwei aufzuzählen, aus voller Überzeugung antwortete, das Einmaleins könne er besser. Wie frustrierend! Schulmüdigkeit, Motivations- und Interessenslosigkeit waren an der Tagesordnung. Doch wie eine Münze zwei unter- schiedliche Seiten hat, so konnte ich auch diesem Schlamassel noch Positives abgewinnen.

Meine persönliche Erfahrung hat mir gezeigt, dass im Grunde alle Dinge im Leben zwei Seiten besitzen:

eine gute und eine schlechte. Verlierst du deine Stelle, ist das negativ, also schlecht. Aber es gibt eben auch Positives: In der Schweiz zum Beispiel bist du in der Regel durch die Arbeitslosenversicherung zumindest für eine gewisse Zeit relativ gut abgesichert. So hast du plötzlich Zeit, über deine berufliche Situation nachzu- denken: Was würdest du bei der nächsten Anstellung anders machen? Gefällt dir deine Arbeit überhaupt?

Könntest du dich vielleicht weiterbilden? Vielleicht kannst du die Gelegenheit nutzen dich selbständig zu

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machen oder dich auf sonst eine Weise zu verwirkli- chen, zu der du vorher keine Möglichkeit hattest.

Verlässt dich nach Jahren dein Partner, wirst du dies zunächst kaum als positiv empfinden. Doch kannst du dir auch hier einige Fragen stellen: Wie war die Beziehung eigentlich? Fühltest du dich uneinge- schränkt wohl? Die neue Freiheit, tun und lassen zu können was du willst, ist ja auch nicht ohne, oder?

Ich jedenfalls hatte durch meinen «Sonderweg»

vom einen auf den anderen Tag plötzlich keinen Schul- stress mehr. Es gab keine Paukerei und auch sonst kei- ne besonderen schulischen Anstrengungen, so dass ich mehr Zeit hatte, mich auf anderen Ebenen weiterzu- entwickeln.

Obwohl ich damals am Samstag noch in die Schule musste und auch mein Vater morgens zur Arbeit fuhr, freute ich mich die ganze Woche hindurch wie ein klei- nes Kind auf das bevorstehende Wochenende. Den Mittag konnte ich kaum abwarten, denn dann durften mein Bruder Benno und ich unserem Vater helfen den Lieferwagen abzuladen. Für diese Arbeit erhielt je- der von uns zehn Franken pro Woche. So verdienten wir unser erstes Taschengeld – ziemlich viel sogar für die damalige Zeit. Durch diese ersten Früchte meines Schaffens kam ich erstmals in Kontakt mit der Freude, die mir das Arbeiten mein Leben lang bereiten sollte.

Das große Vorbild meiner Kindheit war – neben meinem geschäftigen Vater – mein großer Bruder Mike, den ich erst so richtig kennenlernen durfte, als meine Eltern abseits des städtischen Treibens mitten

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auf einem Zeltplatz in Mumpf am Rhein ein mobiles Heim kauften. In diesem kleinen Paradies roch die Luft nach Freiheit und Unabhängigkeit, hier verbrachten wir vom Frühling bis tief in den Herbst jedes Wochen- ende und auch all unsere Ferientage. In fantastischer Geselligkeit wurde gefestet und gefeiert, getrunken, gegessen, geschwatzt und gespielt. Und wir waren mittendrin. Davon fühlte sich auch Mike angezogen.

Immer sonntags aß er mit uns zu Mittag. Ich bewun- derte ihn sehr. Mein großer Bruder war für mich der Größte, denn er hatte eine eigene Wohnung, einen Job, eine Freundin und war unabhängig. Und er war so cool. Zuhause und auf dem Campingplatz fühlte ich mich wohl und geborgen. Vielleicht ist dies einer der Gründe, weshalb es mich bis heute nie wirklich in die Ferne gezogen hat.

Etwa zu dieser Zeit – es war im Dezember – kam ich zu meinem ersten richtigen Job: Eines Tages stand ich mit der Taufpatin meines Bruders Benno in einem Blu- mengeschäft, in dem ein Lieferjunge mit fahrbarem Untersatz gesucht wurde. Zwar hatte ich noch keine Mofaprüfung in der Tasche, trotzdem bewarb ich mich mit der Begründung, dass ich gesund sei, ein Fahrrad besäße und zwei starke Beine hätte, das müsse doch reichen. Und es reichte! Zuhause erzählte ich meiner Mutter voller Stolz von meiner Errungenschaft. Mein Vater, ebenfalls begeistert, montierte mir einen um- funktionierten Bierkasten für den Transport der Blu- men hinten auf mein Fahrrad.

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Je nach Distanz erhielt ich für meine Fahrten mehr oder weniger an Lohn. Für einen Blumenstrauß im Umkreis von zwei Kilometern gab es einen Franken fünfzig. Für die zwölf Kilometer nach Riehen und zurück gab es dann schon sechs Franken. Brutal war die Fahrt nach St. Chrischona, allein der Hinweg betrug zwölf Kilo- meter den Berg hinauf. So arbeitete ich zwei Jahre, bei Sonne, Regen, Schnee und Sturm – komplett ohne Spe- zialkleidung, wie sie die Fahrradkuriere heute tragen.

Einmal stand ich vor der Eingangstüre eines et- was edleren Hauses. Ich läutete, einmal, zweimal. Ich hörte Schritte und Hundeknurren. Schwungvoll öffne- te sich die Tür, und vor mir stand, flankiert von zwei Dobermännern, eine Frau, Mitte vierzig und splitter- fasernackt! Sie sei gerade unter der Dusche gewesen, meinte sie trocken und hielt mir eine Zehnfrankennote entgegen. Damals, ich war ja gerade erst vierzehn Jahre alt, stieg mir die Schamesröte ins Gesicht. Schnell hielt ich den Blumenstrauß vor meine Augen und angelte blind nach dem Trinkgeld.

Eine andere Begegnung hatte ich, als mich eine äl- tere Frau anbrüllte und mir zu verstehen gab, dass sie meine Lieferung nicht annehmen werde. Sie stand of- fensichtlich im Streit mit einer anderen Dame, die sich mit diesem Blumenstrauß für irgendetwas entschuldi- gen wollte. So fuhr ich also mit dem Strauß zurück zum Blumengeschäft. Doch so einfach gab sich meine Che- fin nicht geschlagen. Die Blumen seien schon bezahlt, so meine Arbeitgeberin. Also schwang ich mich wieder auf meinen Sattel, radelte zu der Alten und klingelte.

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