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Charles Taylor: Das sprachbegabte Tier

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© 2018 Zeitschrift für philosophische Literatur, lizenziert unter CC-BY-ND-3.0-DE

Taylor, Charles: Das sprachbegabte Tier. Grundzüge des menschlichen Sprachvermögens. Übersetzt von Joachim Schulte. Berlin: Suhrkamp 2017. 656 Seiten. [978-3-518-58702-7]

Rezensiert von Chiara Fioravanti (Christian-Albrechts-Universität Kiel)

Im Zentrum von Charles Taylors neuem Buch steht die Überzeugung, der Schlüssel zur Beantwortung der fundamentalen Frage nach dem Menschen liege in der Erkundung unseres Sprachvermögens. Dabei ist Taylors vorrangiges Anliegen aufzuzeigen,

daß dieses Vermögen mehr Formen annehmen kann, als man vermuten möchte. Will sagen: Dieses Vermögen umfaßt Fähigkeiten zur Erschaffung von Bedeutungen, die weit über die viel zu oft als zentral aufgefaßte Fähigkeit zur Codierung und Über-mittlung von Informationen hinausgehen. (7)

Aus dieser These ergibt sich auch Taylors Definition von Sprache, die sich nicht nur auf das (Wort-)Sprachliche bezieht, sondern darüber hinaus das ganze Spektrum symbolischer Formen (Ernst Cassirer), d.h. alle menschlichen Bedeutungssysteme und Zeichenpraktiken, miteinschließt. Taylors Plädoyer für eine Rückbesinnung auf die grundlegende Bedeutung von Sprache im menschlichen Leben sowie für einen weit umfassenden Sprachbegriff folgt unmittelbar aus seiner Bejahung sprachtheoretischer Ansichten, die auf die deutsche Romantik zurückzuführen sind.

Das Buch ist in drei Teile und insgesamt zehn Kapitel gegliedert. Im ersten Teil des Buches („Sprache und Konstitution“) zeichnet der Autor (wie bereits in Taylor 1985b) die historische Entwicklung der romantischen Sprachkonzeption aus den Überlegungen von Hamann, Herder und Hum-boldt nach und unterstreicht dabei die Unterschiede zu einem entgegenge-setzten sprachphilosophischen Lager: der sprachtheoretischen Traditionslinie von Hobbes, Locke und Condillac. Letztere sei eine „Bezeichnungstheorie“ (14) oder „Rahmentheorie“ (13), die Sprache lediglich als ein nützliches Werkzeug des Geistes auffasse, welches dem Menschen ermöglicht, sich auf bestimmte, bereits existierende Elemente – mentale Gegenstände oder unab-hängige Sachverhalte – zu beziehen. Sprache operiere in diesem Sinne in ei-nem von ihr unabhängigen Rahmen, der apodiktisch vorausgesetzt wird. Eine derartige Position biete kein adäquates Bild unserer Sprachfähigkeit, denn sie bleibt nach Taylors Ansicht in zwei Hinsichten atomistisch (vgl. 14). Sie gehe einerseits vom „Atomismus des Worts“ und andererseits vom „Atomismus des […] Subjekts“ (101) aus. Sprache sei ein Bündel einzelner Wörter, die wir in unserem Kopf – monologisch, leb- und leib-los – an unterschiedliche

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Ele-mente unseres Inneren oder Äußeren anheften. Für Taylor plädieren die Ver-treter_innen einer derartigen Sprachauffassung für unhaltbare mentalistische und reduktionistische Positionen.

Im Gegensatz zu dieser Theorie ist für Taylor die Sprachtheorie von Hamann, Herder und Humboldt eine „Konstitutionstheorie“ (14), die das Wesen der Sprache besser in den Griff bekommt. Laut den Angehörigen die-ser Traditionslinie konstituiert Sprache eine neue Art von Bewusstsein (in Herders Vokabular: Besonnenheit oder Reflexion). Sie eröffnet dem Menschen eine neue Dimension, die von jeglicher vorsprachlicher Erfahrung kategorial zu unterscheiden ist. Nichtsprachliche Wesen können auf Signale reagieren und besitzen kognitive Fähigkeiten, die ihnen ermöglichen, unterschiedliche Inputs zu verarbeiten sowie bestimmte Aufgaben zu erfüllen. Sprachbegabte Wesen ‚hausen‘ aber in einem ganz anderen Raum, in einer besonderen Welt im phänomenologisch-heideggerschen Sinne. Sie befinden sich nicht mehr in einem passiven Zustand gegenüber ihrer Umwelt, sondern nehmen ihre Um-gebung reflektierend wahr und artikulieren immer neue Bedeutungen. Indem der Mensch sprachliche Unterscheidungen trifft, gestaltet er seine Welt per-manent neu, in einem ständigen aktiven Prozess. Diese Sprachkonzeption be-schreibt Taylor als holistisch (vgl. 45), denn sie begreift das Sprachvermögen als den „Hintergrund“ (39) unseres gesamten Weltverständnisses und situiert Sprache unmittelbar im menschlichen (Zusammen-)Leben (vgl. 39).

Um zu verdeutlichen, wieso die These, Sprache sei per se ein konstituti-ves Vermögen, unsere Zustimmung verdient, stützt sich Taylor auf moderne Positionen, die die ontogenetische und phylogenetische Sprachentwicklung des Menschen erklären. Er bezieht sich einerseits auf Michael Tomasellos Theorie der gemeinsamen Aufmerksamkeit (vgl. 115 mit Verweis auf Tomasellos Spracherwerbstheorie in Constructing a Language [2005]). Andererseits verweist er auf Merlin Donalds (1991, 2001) Gedanken zu drei fundamentalen Facet-ten des Menschseins (Mimesis, Mythos und Theoriebildung), die uns erlauben sol-len, einige Vermutungen über die Hominiden-Entwicklung anzustellen. Der Grund, warum Taylor mit seinem Buch „die kreative Dimension des Aus-drucks“ (79) in Erinnerung rufen will, ist, dass er fürchtet, einige sprachtheo-retische Positionen des frühen 20. Jahrhunderts und der Gegenwart könnten unseren Blick auf das menschliche Sprachvermögen – und somit auf Funda-menten der menschlichen Existenz – verstellen. Diese Ansicht zu verdeutli-chen, ist die Aufgabe des zweiten Teils des Buchs („Vom Deskriptiven zum Konstitutiven“).

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Eine unreflektierte Übernahme einiger Überzeugungen von Hobbes & Co. sieht Taylor zunächst in der analytischen Philosophie von Gottlob Frege und in dem Strukturalismus von Ferdinand de Saussure. Taylor hebt hervor, dass beide Positionen sich zwar vom mentalistischen Atomismus verabschie-den und einen Bedeutungsholismus vertreten, in seinen Augen bleiben beide Sprachkonzeptionen dennoch in einem sterilen Formalismus gefangen. Ob-wohl Freges Logik das Primat des Satzes – und nicht das Primat des Wortes – würdigt und Saussures sprachwissenschaftlicher Ansatz Sprache als ein Sys-tem von Differenzen beschreibt, scheint sie weiter nicht zu interessieren – so Taylor –, dass das Wesen der Sprache ein konstituierendes und ein welt-tragendes ist. Hier bezieht er sich ausdrücklich auf Wittgensteins Philosophische Untersuchungen und möchte sprachphilosophische Positionen kritisieren, die das menschliche Sprachvermögen ausschließlich im Hinblick auf seine desig-native, erschließende (vgl. 93) Funktion betrachten und die Frage nach der Spra-che losgelöst von Fragen der (kulturellen) Praxis und Identität sowie den da-mit verbundenen ethischen und normativen Dimensionen stellen. In Taylors Augen lässt sich diese Art von Desinteresse für die existentielle (vgl. 93) Di-mension von Sprache, die den primären Zug unserer Sprachfähigkeit darstellt, auch noch in unserer Gegenwart wiederfinden, und zwar in jeglichen Theo-rien über Schimpansen- oder Computersprachen (vgl. 32) sowie in aktuellen postanalytischen Bedeutungstheorien, die unbekümmert auf eine extensiona-listisch-objektivistische Semantik pochen. In Bezug auf diesen letzten Punkt nimmt Taylor insbesondere Donald Davidson und Michael Dummett ins Vi-sier, kritisiert aber in gewisser Hinsicht auch einen ‚moderaten‘ Autor wie Ro-bert B. Brandom (vgl. 239), weil er im Namen hygienischer Ziele (vgl. 236) un-sere Fähigkeit, Behauptungen aufzustellen, als die absolut minimale Forde-rung an das menschliche Sprachvermögen definiert. Auch wenn dieses Vor-haben prinzipiell berechtigt sei und keine ausdrücklichen idealsprachlichen Ziele verfolge, fürchtet Taylor, dass Brandoms autonome diskursive Praxis (vgl. 240) doch einen viel zu großen und wichtigen Bereich des menschlichen Sprachvermögens ‚verpassen‘ könnte, weil sie die Kreativität unserer symboli-schen Praktiken auf Distanz hält. Da das Wesen der Sprache für Taylor aber genau in ihrem konstitutiv-expressivem Charakter besteht, ist es für ihn ein Fehler, die „kratylistische (figurative) Dimension“ (252) der Sprache „aus dem Scheinwerferlicht“ (258) zu nehmen. Zu dieser Dimension gehören wichtige sprachliche Phänomene wie Metaphern, Schablonen und Symbole, durch die wir unser Artikulationsvermögen ständig ausweiten. Nachdem Taylor das „Figu-rieren“ unseres Sprachvermögens (336) somit allgemein skizziert hat, geht er

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in den letzten zwei Kapiteln des zweiten Teils des Buchs, welche im Folgen-den näher betrachtet werFolgen-den, ausführlicher darauf ein.

Im Kapitel „Konstitution 1: Die Artikulation von Bedeutung“ beschreibt er, wie semantische Innovation erfolgt und wie es möglich ist, „daß sich Kul-turen entwickeln, verändern und ausdifferenzieren“ (355). Taylor unterschei-det zunächst drei Formen von semantischer Logik. Sprachliche Neuerungen auf dem Gebiet der Gegenstände, die unabhängig von unseren Beschrei-bungen existieren, erfolgen durch die (a) „Logik des Bezeichnens“ (363): Wir entdecken z.B. eine neue Blume oder ein neues Nagetier und geben ihnen einen Namen. Ähnlich verhalte es sich mit der semantischen (b) Logik der Naturwissenschaften, die Modelle oder Paradigmen entwickeln, um diese unabhängigen Gegenstände in eine (bestimmte) Form zu zwingen: Ein Bei-spiel dafür wäre die Atomtheorie. Im Bereich dieser biologischen (vgl. 178) oder instrumentellen (vgl. 340) Bedeutungen zeige sich bereits die schöpferische Kraft der Sprache, allerdings nur in ihrer Verschlüsselungsfunktion, d.h. bloß in Form einer ganz bestimmten Facette unseres konstitutiven Sprachvermö-gens. Hier erkennen wir zwar, dass „uns die Sprache für neue Möglichkeiten empfänglich machen kann“ (93), weil wir gewisse begriffliche Unterscheidun-gen treffen können, die in unsere Erfahrung Ordnung brinUnterscheidun-gen, dennoch greift unser „expressives Verhalten“ (95) nicht tief in unser Leben ein. Im Zentrum der semantischen (c) „Logik der Konstitution“ (363) stehen dagegen metabiolo-gische bzw. menschliche Bedeutungen (vgl. 344). Gemeint sind Bedeutungen, die unsere Affekte bzw. Intuitionen einschließen. Menschliche Bedeutungen, so erklärt Taylor weiter, werden erst durch sprachliche Artikulation möglich und existieren in unserem Deutungshorizont nur als „Bedeutungsknäuel“ (354): Man könne z.B. Begriffe wie ‚Stolz‘ oder ‚Schande‘ nicht unabhängig von den Tätigkeiten verstehen, die wir als ehrbar oder entwürdigend bezeichnen, sowie man sie nicht von spezifischen moralischen und ästhetischen Konstella-tionen innerhalb einer kulturspezifischen Weltdeutung trennen könne.

Nachdem er zwischen den verschiedenen semantischen Logiken unter-schieden hat, ist Taylor bereit, genauer zu erklären, wie menschliche Bedeu-tungen Bestandteil unserer Welt werden. Dafür beschreibt er das, was er „Leiter der Artikulation“ (432) nennt, welche aus drei Sprossen bestehe. Die erste Sprosse ist die „enaktive Umsetzung“ (427): Taylors berühmtes Beispiel ist die Verkörperung des ‚Macho‘-Seins seitens eines Bikers. Auf der zweiten Sprosse befindet sich die sprachliche Artikulierung: Wir nennen z.B. die Art des In-der-Welt-Seins des Bikers ‚Machismus‘. Die dritte Sprosse wird von theoretischen Erklärungen besetzt, die die Rolle der betreffenden Bedeutung

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in unserem Leben erklären und eventuell problematisieren sollen. Taylor be-tont, dass die drei Sprossen in keinerlei chronologischer oder gar wertender Reihenfolge geordnet sind, sondern in einem hermeneutischen Verhältnis zu-einander stehen. An dieser Stelle beruft er sich auf Paul Ricœurs Modell des discourse mixte (vgl. 431, mit Verweis auf Ricœurs Réflexion faite [1995]), das ver-ständlich machen soll, inwiefern es möglich sei, soziopolitische, ökonomische und kulturelle Entwicklungen als Tatsachen zu behandeln, d.h. wie unabhän-gige Gegenstände. Dies sei unabdingbar, wenn wir in der Lage sein sollen, diese Tatsachen zu deuten bzw. zu hinterfragen und die Leiter der Artikula-tion in Bewegung zu halten: Nur so könne die Korrektur unserer Ansichten bzw. unserer meta-biologischen Landschaften (vgl. 371f.) erfolgen. Besonders wichtig sei dieses Verfahren in Bezug auf ethische und normative Fragen, auf die Taylor auf vielen Seiten ausführlich eingeht.

Das Kapitel „Konstitution 2: Die schöpferische Kraft des Diskurses“ be-fasst sich mit einer anderen wichtigen Konstitutionsweise: den zwischen-menschlichen Verhältnissen. Während das vorausgehende Kapitel die seman-tische Bedeutungsartikulation thematisiert, wendet sich Taylor hier der Prag-matik zu. Dennoch distanziert er sich von der PragPrag-matik à la John L. Austin und John Searle, die sich in seinen Augen zu stark auf einzelne Performativa innerhalb der kommunikativen Routine beschränkt. Taylor verweist auf Émile Benveniste und Ervin Goffman als Inspirationen für seine Überlegungen, die nicht so sehr das punktuelle Sprachereignis thematisieren, sondern um die Bedingungen und Normen unseres Miteinanders kreisen, die durch unsere unterschiedlichen Ausdrucksformen in Kraft treten. Er zieht unter anderem das Beispiel der Ehe heran, um zu verdeutlichen, dass nicht nur im semanti-schen, sondern auch im pragmatischen Bereich die Leiter der Artikulation ständig am Werk ist und dass wir immer wieder neue Bedeutungen und In-stitutionen innerhalb diskursiver Praktiken festsetzen bzw. miteinander aus-handeln. Ähnliches passiere auf der Ebene der unterschiedlichen Sprachfor-men, der „Register“ (512), innerhalb einer bestimmten Sprachgemeinschaft. Taylor verweist auf Michail Bachtins Begriff der „Heteroglossie“ (513), die verdeutlicht, dass wir auch in der Sprache, in der wir ‚zu Hause‘ sind, ständig soziale Normen definieren: So sprechen wir mit Freund_innen anders als mit Arbeitskolleg_innen und wiederum anders als mit unseren Großeltern, und verfestigen durch unsere sprachlichen „Rituale“ (522) bestimmte Gemein-schaftsstrukturen. Diese Erkenntnis ist für Taylor erhellend, wenn es darum geht, die Möglichkeiten gesellschaftlichen Wandels aufzuzeigen, und hier ver-weist er auf die Arbeit Michel Foucaults. Schließlich bemerkt Taylor, dass die

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semantischen und die pragmatischen Konstitutionsformen unseres expressi-ven Vermögens nie nebeneinander, sondern im ständigen Bezug zueinander stehen: „Konstitution 1“ und „Konstitution 2“ sind also immer zusammenzu-denken.

Im Mittelpunkt des dritten und letzten Teils des Bandes („Weitere An-wendungen“) steht noch einmal die konstitutive-schöpferische Kraft der Sprache, diesmal jedoch im Hinblick auf umfangreichere Spracheinheiten, und zwar auf Erzählungen und auf ganze Kulturen. Zuerst befasst sich Taylor mit dem Narrativen, d.h. mit denjenigen Geschichten, die mit assertorischer Prosa nicht gleichgesetzt werden können und über deren Erzählwertigkeit innerhalb einer Gemeinschaft immer wieder neu entschieden werden muss. In diesem Zusammenhang bezieht er sich auf Ernst Tugendhat. Die zweite „weitere Anwendung“, die von Taylor behandelt wird, ist die Sapir-Whorf-Hypothese, d.h. das Thema der sprachlichen Relativität. Mittels der von ihm getroffenen Unterscheidungen in Bezug auf die semantischen Logiken unter-nimmt Taylor den Versuch, das Phänomen der „Inkommensurabilität“ (613) zwischen Einzelsprachen bzw. einzelnen semiotischen Praktiken auszuarbei-ten. Er vertritt die Meinung, sprachlich-kulturelle Unterschiede seien nur in-nerhalb eines bestimmten Gebiets auf der Ebene der Logik der Konstitution problematisch, und zwar – und Taylor ist hier weniger auf (erkenntnis-)theo-retische Feinarbeit bedacht, sondern vielmehr praktisch orientiert – im Be-reich der Politik, des Rechtes und der Ethik. Taylor appelliert in diesen Fällen erneut an eine hermeneutische Haltung, zitiert diesmal allerdings nicht Ricœur, sondern Hans-Georg Gadamer. An dieser Stelle scheint sich Taylor für einen inter- und intrakulturellen Dialog auszusprechen, der radikal-her-meneutisch zu denken ist. Taylor verzichtet darauf, jegliche Kultur eo ipso als ‚Readymade‘ zu verteidigen, sondern beruft sich vielmehr auf eine ständige und fließende Horizontverschmelzung (Gadamer), die „zu allgemeinem Ver-ständnis und vielleicht letztlich auch zur Übereinstimmung bezüglich unserer moralischen und politischen Prinzipien“ (620) führen soll. Wenn man also anderswo noch Bedenken haben konnte, ob diese von Taylors vertretene Po-sition Spannungen in Bezug auf seine – dem Kommunitarismus zuzurech-nenden – politiktheoretischen Überlegungen enthalten würde (vgl. u.a. Rosa 1998; Sánchez Durá 2009), plädiert Taylor hier offensichtlich für vollkommen hermeneutische Lösungswege im Falle von Konflikten zwischen und inner-halb von unterschiedlichen (sprach-)kulturellen Lebenstexturen. Eingeräumt werden muss dennoch, dass sich Taylor auf diesen Seiten wie im ganzen Buch nicht explizit auf Diskussionen zu rechtlich-politischen Problemlagen der

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Ge-genwart einlässt und z.B. nicht auf seine in der Forschung durchaus umstrit-tenen Positionierung zur sprachpolitischen Situation der frankophonen Ge-meinschaft in Kanada eingeht (vgl. Taylor 1992).

Am Ende des Buchs formuliert Taylor seine Bestimmung des Menschen als „Sprache besitzendes Tier“ (637) aus, und zwar ausgehend von einer In-terpretation der aristotelischen Definition des Menschen als animale rationale. Dabei geht es Taylor darum, die menschliche Vernunft als eine sprachliche, (sich) verstehende und wertende, d.h. eine hermeneutische Vernunft, zu defi-nieren, die sich permanent im Spannungsverhältnis zwischen Universalem und Partikularem bewegt. Ob Taylors Buch in dieser Hinsicht Pionierarbeit leistet und, wie er behauptet (vgl. 638), den Auftakt einer neuen Debatte dar-stellt, darüber lässt sich streiten. Taylor verwendet die Definition the language animal bereits in früheren Aufsätzen und erklärt, diese Formulierung von George Steinert übernommen zu haben (vgl. Taylor 1985a: 217; dazu Rosa 1998: 46f.). Dennoch geht die Vorstellung der Sprachfähigkeit als Wesenszug des Menschen bereits auf die Traditionslinie der romantischen Sprachkon-zeption zurück, sie wurde von Martin Heidegger weitergetragen und von Gadamer in einem Aufsatz aus den 1960er Jahren in fast dem gleichen Wort-laut, den man bei Taylor findet, wiedergegeben (vgl. Gadamer 1999b: 146). Gadamer dürfte auch derjenige sein, von dem Taylor die Idee einer herme-neutischen Vernunft mit ihren Konsequenzen für das menschliche Miteinan-der, für das Ethisch-Normative, übernommen hat. Wie bereits erwähnt, ver-weist Taylor explizit auf Gadamer in dem Kapitel zur Sapir-Whorf-Hypo-these, das erstaunliche Ähnlichkeiten zu Gadamers Aufsatz „Die Vielfalt der Sprache und das Verstehen der Welt“ (Gadamer 1999a) aufweist. Am Ende von Taylors Buch angelangt, fragt man sich daher, was uns Taylor mit diesem Buch wirklich sagen will und worin genau das philosophische Aufbruchsge-fühl, das im Text immer wieder angekündigt wird, bestehen soll. Im Laufe der Lektüre spürt man immer deutlicher, dass Taylor mit dieser Arbeit ein be-stimmtes Ziel verfolgt und dass er aus diesem Grund Hobbes, Locke, Con-dillac, Frege mit der ganzen post-fregeschen analytischen Philosophie, Saus-sure, Chomsky und alle Kognitionswissenschaften mit einem Schulterzucken in einen Topf wirft und u.a. Locke in eine Reihe zusammen mit den Rationa-listen stellt oder der heutigen Sprachwissenschaft saussuresche oder gar chomskyanische Überzeugungen zuschreibt, die längst ihre Gültigkeit verlo-ren haben.

Der Schlüssel, um Taylors Absicht zu verstehen, liegt in seinen Ankün-digungen zum zweiten Band seines umfangreichen Projekts, den er – wie er

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bereits im Vorwort sagt – noch veröffentlichen möchte. In dem letzten Ka-pitel von Das sprachbegabte Tier deutet er an, dass seine zweite Studie nicht un-ser sprachliches Wohnen (Martin Heidegger) zum Thema haben wird, sondern das, was Taylor „Protowohnen“ (188) nennt. Es wird darum gehen, die Schwelle zum bloßen Dasein in seiner unfokussierten Form (vgl. 188f.), d.h. im Hinblick auf unsere leidenschaftlichen, intuitiven, stark wertenden Beziehun-gen zur Welt, unter die Lupe zu nehmen. Die ontische Form dieser Bezie-hungen bleibt für Taylor zunächst unbestimmt. Dies schließe allerdings theo-logische Dimensionen nicht aus, auch wenn diese nicht a priori vorausgesetzt werden können.

Romantische Motive und Einiges vom späten Heidegger: Dies scheint uns also in Taylors zweiter Studie zu erwarten. Vor diesem Hintergrund scheint Das sprachbegabte Tier tatsächlich nichts als das notwendige Präludium zu Taylors nächstem Buch zu sein: Es soll einen Überblick zu seiner Philoso-phie bieten und gleichzeitig bestimmte analytische Strömungen ausschalten, um uns auf die postromantischen Epiphanien der zweiten Studie vorzuberei-ten. Taylors philosophische Anthropologie scheint sich in diesem neuen Buch (und schon in Taylor 2012) immer deutlicher ästhetischen und theologischen Problemfeldern zu widmen, während sie ihren sozialphilosophischen und po-litischen Ursprung verlässt.

Man könnte Das sprachbegabte Tier vielleicht auch ganz im Lichte eines philosophischen Pingpongspiels zwischen Taylor und Noam Chomsky lesen. Chomskys Buch Was für Lebewesen sind wir? ist nämlich nur vier Monate vor Taylors Arbeit erschienen: Beide Bücher präsentieren sich als Kompendien der Lebenswerke ihrer Autoren und lassen ihre (entgegengesetzten) Positio-nen deutlich hervortreten. Wie auch immer man eine solche Übereinstim-mung im Veröffentlichungskalender der beiden Autoren sieht, ist Taylors Buch nur für diejenigen wirklich interessant, die weder sein Werk kennen noch mit der phänomenologisch-hermeneutischen Tradition vertraut sind. Diese potentiellen Leser können aus Das sprachbegabte Tier zahlreiche Inspirati-onen für weiterführende Lektüren entnehmen. Taylor-Kenner müssen das Buch nur überfliegen, um Vieles aus seinen früheren Arbeiten wiederzuerken-nen. Für diejenigen von ihnen, die sich an Taylors Jonglieren an den Grenzen des rationalen Diskurses erfreuen, könnte vielleicht seine zweite Studie inte-ressant werden.

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Literatur

Chomsky, Noam. Was für Lebewesen sind wir? Mit einem Vorwort von Akeel Bilgrami. Berlin: Suhrkamp, 2016.

Donald, Merlin. Origins of the Modern Mind. Three Stages in the Evolution of Culture and Cognition. Cambridge, MA: Harvard University Press, 1991.

Donald, Merlin. A Mind so Rare. The Evolution of Human Consciousness. New York: Norton, 2001.

Gadamer, Hans-Georg. „Die Vielfalt der Sprache und das Verstehen der Welt.“ In Ästhetik und Poetik I. Kunst als Aussage. Gesammelt Werke VIII, 338–349. Tübingen: Mohr Siebeck, 1999a.

Gadamer, Hans-Georg. „Mensch und Sprache.“ In Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Register. Gesammelte Werke II, 146–154. Tübin-gen: Mohr Siebeck, 1999b.

Ricœur, Paul. Réflexion faite. Autobiographie Intellectuelle. Paris: Édition Esprit, 1995.

Rosa, Hartmut. Identität und kulturelle Praxis. Politische Philosophie nach Charles Taylor. Mit einem Vorwort von Axel Honneth. Frankfurt a. M./New York: Campus, 1998.

Sánchez Durá, Nicolás. „What Culture Must Be Recognised in the Politics of Multiculturalism?“ In Krzysztof Wojciechowski und Jan C. Joerden (Hrsg.), Ethical Liberalism in Contemporary Societies, 99–116. Frankfurt a. M.: Peter Lang, 2009.

Taylor, Charles. „Language and Human Nature.“ In Human Agency and Lan-guage. Philosophical Papers 1, 215–247. Cambridge: Cambridge University Press, 1985a.

Taylor, Charles. „Theories of Meaning.“ In Human Agency and Language. Philo-sophical Papers 1, 248–292. Cambridge: Cambridge University Press, 1985b.

Taylor, Charles. Multiculturalism and ‘The Politics of Recognition’. Princeton: Princeton University Press, 1992.

Taylor, Charles. Ein säkulares Zeitalter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2012. Tomasello, Michael. Constructing a Language. A Usage-Based Theory of Language

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