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Anforderungen an die Praxis der Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Zusammenarbeit mit der Jugendhilfe im Kinderschutz aus rechtlicher und fachlicher Perspektive

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Academic year: 2021

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Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg Fakultät Wirtschaft und Soziales

Department Soziale Arbeit

Anforderungen an die Praxis der Kinder- und

Jugendpsychiatrie in der Zusammenarbeit mit

der Jugendhilfe im Kinderschutz

aus rechtlicher und fachlicher Perspektive

Bachelor-Thesis

Tag der Abgabe: 10.02.2014 Vorgelegt von: Eckardt, Iris Valeria

Betreuender Prüfer: Prof. Dr. Knut Hinrichs

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Danksagung

Meiner Zwillingsschwester Inga danke ich für die vielen Korrekturen, die mir halfen, mich verständlicher auszudrücken. Meiner Freundin Tanja danke ich für ihre Hilfe bei der Formatierung.

Meinem Partner Björn und unseren Kindern Liv und Mio danke ich für ihre Liebe und ihren unbezwingbaren Glauben an mich.

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung ...1  

Aufbau der Arbeit...2  

1   Rückblick in die Geschichte der Kinderrechte...3  

2   Rechtliche Rahmenbedingungen ...6  

2.1   Das neue Bundeskinderschutzgesetz...9  

2.2   Der § 8a SGB VIII in seiner Bedeutung als Verfahrensvorschrift...10  

3   Grundlegendes zum Kindeswohl und zur Kindeswohlgefährdung ...14  

3.1   Das Kindeswohl ...15  

3.2   Die Kindeswohlgefährdung ...16  

3.3   Die sozialpädagogische Diagnose ...19  

4   Empirische Datenlage ...22  

4.1   Zahlen und Fakten ...22  

4.1.1   Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie...22  

4.1.2   Hilfe zur Erziehung...24  

4.1.3   Kindeswohlgefährdung in Hellfeld und Dunkelfeld...24  

4.2   Bewertung ...25  

5   Die Kooperation zwischen Kinder- und Jugendpsychiatrie und Jugendhilfe...27  

5.1   Die Verhältnisbestimmung von der Kinder- und Jugendpsychiatrie zur Jugendhilfe...28  

5.2   Kooperation im Bundeskinderschutzgesetz ...30  

5.2.1   Zusammenarbeit im Sinne des § 3 KKG...31  

5.2.2   Zusammenarbeit im Einzelfall im Sinne des § 4 KKG ...32  

5.2.3   Die Rolle des § 35a SGB VIII in der KJP ...34  

5.3   Kooperation in der Praxis...35  

5.3.1   Die Kooperationsvereinbarung am Beispiel des Bezirksamts Wandsbek und der KJP Wilhelmstift...38  

5.3.2   Interventionsmaßnahmen bei akuten Krisen und Notfällen ...41  

5.4   Fazit ...42  

6   Interview aus der Praxis ...43  

6.1   Auswahl der Methode ...43  

6.2   Leitfaden und Verlauf ...44  

6.3   Auswertung ...45  

6.3.1   BKiSchG ...45  

6.3.2   Gewalterfahrungen und Kindeswohlgefährdung...45  

(4)

6.4   Interpretation ...46  

7   Grenzen und Kritik aus sozialpädagogischer Perspektive ...50  

8   Schlussbetrachtung...53  

Quellenverzeichnis...56  

Eidesstattliche Erklärung ...61  

Anhang...62  

Transkription themenzentriertes Leitfadeninterview ...62  

Kooperationsvereinbarung von 2009 zwischen dem Bezirksamt Wandsbek, „Fachamt Jugend und Familienhilfe“ und dem „Katholischen Kinderkrankenhaus Wilhelmstift, Kinder und Jugendpsychiatrie“ und den „Jugendhilfeträgern von Hilfen zur Erziehung“ ...69  

(5)

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Elternrecht und Kindesgrundrechte... 7 Abbildung 2: Voraussetzungen der Mitteilungspflicht an das Jugendamt... 11 Abbildung 3: Sechs Perspektiven – ein Fall! Standard-Instrumente für ein sozial

pädagogisches Verstehen und Durchblicken... 21 Abbildung 4: Heimerziehung und stationäre Eingliederungshilfen nach vorherigem Aufenthalt „Psychiatrie“...23 Abbildung 5: Heimerziehung und stationäre Eingliederungshilfen mit

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Abkürzungsverzeichnis

Abs. Absatz

Art. Artikel

ASD Allgemeiner Sozialer Dienst

Bd. Band

BGB Bürgerliches Gesetzbuch

BKiSchG Gesetz zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen (Bundeskinderschutzgesetz)

BMFSFJ Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend BRD Bundesrepublik Deutschland

BVerfG Bundesverfassungsgericht bzw. beziehungsweise

f., ff. folgende [Seite, Seiten]

FamFG Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit

GG Grundgesetz

Hrsg. Herausgeber

HzE Hilfen zur Erziehung (§ 27 SGB VIII) i.S.d. im Sinne des

i.V.m. in Verbindung mit Kap. Kapitel

KICK Gesetz zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe KJHG Kinder- und Jugendhilfegesetz

KJP Kinder- und Jugendpsychiatrie

KKG Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz

Nr. Nummer

S. Satz; Seite

SGB VIII Sozialgesetzbuch Achtes Buch – Kinder- und Jugendhilfe StGB Strafgesetzbuch

u. a. und andere; unter anderem

UN Vereinte Nationen (United Nations) vgl. vergleiche

Z. Zeile

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Einleitung

Die Kliniken der Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) sind ein wichtiger Ort des Kinderschutzes. Aufgrund ihrer Funktion sind sie weniger zur Vorbeugung von Kindeswohlgefährdungen (KWG) geeignet als vielmehr für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen, die oft aufgrund von erlebten Misshandlungen, Ver-nachlässigungen oder sexueller Gewalt psychische Störungen entwickelt haben (vgl. Meysen/Eschelbach 2012, 97). Wenn eine Kindeswohlgefährdung besteht oder eine Anschlussversorgung sichergestellt werden muss, sind die Sozialarbei-ter_innen1 angehalten, sich aktiv mit den Personensorgeberechtigten und schließ-lich mit den Zuständigen vom Jugendamt auseinanderzusetzen. Dafür müssen sie sich mit den Regelungen des Kinderschutzes auskennen, um mögliche Gefahren richtig einschätzen und die nötigen Handlungsschritte einleiten zu können. Insbesondere in diesem Spannungsfeld betrifft das neue Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG), das seit dem 01.01.2012 installiert ist, auch die professionelle Arbeit in der KJP. Das BKiSchG soll eine Verbesserung des Kinderschutzes in Deutschland bewirken, was im Vorfeld eine Aufarbeitung von Fehlverläufen notwendig machte. Ludwig Salgo zitiert hierzu trefflich die beiden britischen Juristen Douglas und Lowe, die auf drei Aspekte hinweisen bei denen eine Verbesserung stattfinden sollte:

– bei der Kommunikation zwischen den professionellen Akteuren – bei der Absprache über das Vorgehen

– einer größeren Aufmerksamkeit dem Kind als den beteiligten Erwachsenen gegenüber (vgl. Douglas/Lowe zit. n. Salgo 2011, 2)

Die zentrale Rolle im Kinderschutz spielt das Jugendamt, es muss die Hilfepla-nung in Kooperation mit den Fachkräften der KJP delegieren. Damit sich die Sozi-alarbeiter_innen sicher und kritisch durch die Berufspraxis bewegen können, müssen einige wichtige Fragen geklärt werden: Wie sieht die gesetzliche Grundla-ge der Hilfe für Grundla-gefährdete Kinder aus? Verbessert das BKiSchG die BedingunGrundla-gen für den Kinderschutz unter den oben genannten Aspekten? Welche Bedingungen

1 Der _Unterstrich („Gender-Gap“) steht für die Einbeziehung der weiblichen und männlichen Form

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sind die Voraussetzung guter Zusammenarbeit? Und welche Kritikpunkte gibt es aus sozialpädagogischer Perspektive am Kinder- und Jugendhilfesystem? Daraus ergibt sich die Frage nach den Anforderungen an die Praxis der Kinder- und Ju-gendpsychiatrie in der Zusammenarbeit mit der Kinder- und Jugendhilfe im Kin-derschutz.

Aufbau der Arbeit

Im ersten Kapitel der vorliegenden Arbeit werden im geschichtlichen Kontext die Kinderrechte und das Kindeswohl verortet. Um Einblicke in den Schutzauftrag bei KWG und der damit verbundenen Zusammenarbeit mit der Kinder- und Jugendhil-fe2 zu bekommen, werden im zweiten Kapitel wichtige Rechtsgrundlagen erörtert und für die Praxis handhabbar gemacht. Im dritten Kapitel werden die Begriffe Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung geklärt sowie die sozialpädagogische Diagnose als eine mögliche Methode erläutert. Die darauf folgenden empirischen Daten im vierten Kapitel sollen realistische Fallzahlen liefern und einen steigenden Angebotsbedarf an fachübergreifender Praxis aufdecken. Im fünften Kapitel findet sich der Kern der vorliegenden Arbeit, dieser befasst sich mit der Zusammenarbeit zwischen der KJP und der Jugendhilfe in der Kindeswohlsicherung. Da jegliche Jugendhilfeplanung und die Leistungsgewährung dem zuständigen Jugendamt ob-liegen, sind hauptsächlich die gesetzlichen und fachlichen Bedingungen zu klären, die eine Zusammenarbeit beider Institutionen gewährleisten sollen. Dabei geht es einerseits um das Verhältnis beider Institutionen zueinander, andererseits um normative Grenzen und Verzahnungen sowie um die Zusammenarbeit in der Pra-xis. Ein themenzentriertes Interview im sechsten Kapitel unterstreicht durch eine Stimme aus der Praxis die Bedeutung von Rechtssicherheit und Zusammenarbeit und verweist zudem auf die wichtige Rolle der Eltern im Kinderschutz. Im siebten Kapitel werden Kritikpunkte an der Organisationsstruktur der Kindeswohlsicherung sowie einige Grenzen der sozialen Arbeit in der KJP aufgedeckt. Abschließend werden in Kapitel acht die Anforderungen an die heutige Praxis der KJP für die Kindeswohlsicherung resümiert.

2 Aufgrund der besseren Lesbarkeit wird die Kinder- und Jugendhilfe im Folgenden nur noch

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1 Rückblick in die Geschichte der Kinderrechte

Bis zum Inkrafttreten des „Gesetzes zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen“ (BKiSchG) am 01.01.2012 war es ein beschwerlicher Weg, den das Thema Kinderrechte und Kinderschutz in den vergangenen ca. 120 Jahren durchlaufen musste. Bezogen auf das Verständnis vom Kind als einem Menschen mit Rechten und Bedürfnissen hat sich ein bedeutender Wandel vollzogen. Anhand der internationalen Entwicklung der Kinderrechte und der nationalen Entwicklung des Kinderschutzes wird deutlich, welche bedeutsamen Erkenntnisgewinne und wissenschaftlichen Lernprozesse erforderlich waren und sind, um das geltende Recht zu erarbeiten, anzupassen und für die Praxis handhabbar zu gestalten. Im Folgenden wird auf den in der Bundesrepublik Deutschland vollzogenen Wandel, der im Austausch mit den internationalen Geschehnissen stattfand, eingegangen. Diese Informationen machen die Bedeutung und die Bandbreite deutlich, welche die begriffliche Verwendung von Kinderschutz auch in der aktuellen Rechtslage innehat (vgl. Marthaler 2012, 107). Zu Beginn wird der Blick in die Vergangenheit gerichtet, denn „die Geschichte der Kindheit [ist] für das Studium der menschlichen Gesellschaft von höchster Be-deutung“ (Langer 1982, 7). Darauf folgt ein Blick auf die UN-Kinderrechtskonvention, sie verdient einen eigenen Abschnitt und wird in aller notwendigen Kürze gewürdigt.

Historisch betrachtet ist der Diskurs über Kindheit und somit auch über Kinder-rechte neu. Bis ins 18. Jahrhundert waren Kinder weitgehend schutzlos einer mangelhaften Ernährung und Hygiene ausgesetzt. Im Normalfall wurden Kinder zu Erziehungszwecken bestraft, geschlagen und vernachlässigt. Sie wurden von Er-wachsenen in allen Bereichen als unterlegen betrachtet und als Bedrohung emp-funden. Dies äußerte sich in einer hohen Kindersterblichkeit und in einer weit verbreiteten Kindstötung und dem Aussetzen von Kindern. Ab dem 18. Jahrhun-dert führten eine verbesserte Fürsorge und wachsende Empathie zu einem Rück-gang der Kindersterblichkeit (vgl. deMause 1982, 83 ff.). Im 19. Jahrhundert wurden z. B. erste Arbeitsschutzgesetze erlassen. Zu Beginn des 20. Jahrhun-derts sorgten Menschen, die noch heute als „Pioniere der Rechte des Kindes“

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(Kerber-Ganse 2009, 24) gelten, für eine veränderte Wahrnehmung von Kindheit. Zu ihnen gehörten Persönlichkeiten wie Ellen Key, die mit ihrem Buch „Das Jahr-hundert des Kindes“ (1902) u. a. das Recht auf körperliche Unversehrtheit forder-te, oder Eglantyne Jebb (1876-1928), die 1920 das britische Komitee „save the Children international Union“ gründete und ein Fünf-Punkte-Programm veröffent-lichte welches grundlegende Schutzverpflichtungen der Erwachsenen gegenüber den Kindern forderte (vgl. Maywald (b) 2012, 5). Jebb erreichte 1924, dass die Generalversammlung des Völkerbundes, der Vorläufer der UN, die weltweit erste Kinderrechtsdeklaration verabschiedete (vgl. Kerber-Ganse 2009, 25). Ebenso Janusz Korczak (1878-1942) der als Leiter eines jüdischen Warschauer Waisen-hauses in den 1920ern proklamierte: „Das Kind wird nicht erst ein Mensch, es ist schon einer.“ Auch er forderte das Recht des Kindes auf Achtung (vgl. Maywald (b) 2012, 6). Zaghafte Reformprozesse im Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1922 wurden allerdings vom Nationalsozialismus schnell wieder zunichtegemacht (vgl. Maywald (a) 2012, 31).

Die UN-Kinderrechtskonvention

Bereits wenige Monate nach der Verabschiedung der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ der UN im Jahre 1948 wurde in Deutschland das Grundgesetz eingeführt, das u. a. die Menschenrechte in Artikel 1 Absatz 1 aufgreift: „Die Wür-de Wür-des Menschen ist unantastbar.“ Die UN-Kinderrechtskonvention „bemisst sich an der ‚Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte’ [...]“ der UN (Kerber-Ganse 2009, 17) und betrachtet Kinder als Menschen, die mit ihren Rechten zwar ebenso in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte Platz finden würden, sich je-doch mit ihren kindlichen Bedürfnissen von den Bedürfnissen Erwachsener unter-scheiden. Diesem Unterschied wurde hiermit Rechnung getragen (vgl. Maywald (a) 2012, 17). Die zentrale Botschaft dieses Übereinkommens ist: Kinder sind Trä-ger eigener Rechte (vgl. Maywald (a) 2012, 8). Das Kind wurde erstmals 1959 auf internationaler Ebene als Rechtsträger bezeichnet. In der noch nicht rechtskräfti-gen „Deklaration über die Rechte des Kindes“ wurde in Artikel 2 der Begriff des Kindeswohls aufgeführt3 und in den Zusammenhang mit den dafür wichtigen Kin-derschutzgesetzen gebracht (vgl. Maywald (a) 2012, 23). Dreißig Jahre nach der

3 „Die  Begriffe  Kindeswohl  und  Kindeswohlgefährdung  existieren  seit  der  Einführung  des  Bürgerlichen  

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Verabschiedung der ersten Deklaration von 1959 wurde am 20. November 1989 in der 44. Vollversammlung der Vereinten Nationen einstimmig das „Übereinkommen über die Rechte des Kindes“ verabschiedet (vgl. Maywald (b) 2012, 6). Dies ist ein völkerrechtlicher Vertrag (Kerber-Ganse 2009, 17). Das Ziel der in 54 Artikeln dar-gelegten „völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandards“ der UN-Kinderrechtskonvention war, weltweit die Würde, das Überleben und die Entwick-lung von Kindern und Jugendlichen sicherzustellen (vgl. Maywald (b) 2012, 6). Wie Maywald schreibt, haben „bis heute [...] 193 Staaten die Konvention ratifiziert, [...] Somalia und die USA gehören nicht dazu“ (Maywald (b) 2012, 6). Deutschland schloss sich erst 1992 an, und das nicht uneingeschränkt, es wurden Vorbehalte „besonders im Hinblick auf die rechtliche Situation von Kindern ohne deutschen Pass formuliert“ (Maywald (b) 2012, 7). 2010 nahm Deutschland diese Vorbehalte zurück (vgl. Maywald (b) 2012, 7). Heute ist es durch den Artikel 3 der Konvention in der BRD geltendes Recht, dass „das Wohl des Kindes bei allen Maßnahmen ein vorrangig zu berücksichtigender Gesichtspunkt ist“ (Mörsberger 2011, 175) und der Staat sich verpflichtet hat, „dem Kind unter Berücksichtigung der Rechte und Pflichten seiner Eltern [...] den Schutz und die Fürsorge zu gewährleisten, die zu seinem Wohlergehen notwendig sind“ (Konvention 1989, Art. 3 Abs. 2).

DeMause konstatierte über die mittelalterlichen Jahrhunderte: „Was den Eltern in der Vergangenheit fehlte, war nicht Liebe, sondern eher die emotionale Reife, die nötig ist, um das Kind als eine eigenständige Person anzuerkennen.“ Doch er vermutete, dass auch heute noch ein Großteil der Eltern nicht in der Lage sei, Kinder unabhängig von ihren eigenen Bedürfnissen als eigenständige Individuen anzuerkennen (vgl. deMause 1982, 35). Seit dem 18. Jahrhundert begann die Gesellschaft also, eine bis dahin völlig ungesehene Hälfte der Gemeinschaft, näm-lich die Kinder, zu entdecken (vgl. deMause 1982, 13). Doch gerade die jüngere Geschichte und die aktuellsten gesetzlichen Normierungen zeigen, dass die Notwendigkeit der fachlichen Auseinandersetzung weiterhin besteht.

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2 Rechtliche Rahmenbedingungen

Im zweiten Kapitel folgt zunächst ein Einblick in die gesetzlichen Rahmenbedin-gungen des Kinderschutzes in der BRD. Das Grundgesetz regelt die Beziehung zwischen Elternautonomie, Kindesrechten und dem Staat in seiner wachenden Funktion. Auf einfachgesetzlicher Ebene spielt u. a. die Installation des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) eine wichtige Rolle. In Punkt 2.1 wird mit dem Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG) der aktuelle gesetzliche Rahmen und in Punkt 2.2 der Schutzauftrag bei einer Kindeswohlgefährdung (§ 8a SGB VIII) be-trachtet.

Auf Grund der schlechten Erfahrungen im Nationalsozialismus mit seiner allum-fassenden staatlichen Erziehungsverantwortung und seinen Erziehungsmethoden wurden in der BRD durch den Art. 6 GG ein starkes Elternrecht und der Schutz der Familie mit dem Wächteramt in staatlicher Funktion geschaffen (vgl. Marthaler 2012, 107). Das elterliche Erziehungsrecht ist im Interesse des Kindes auszuüben, dennoch sind die Erziehungsinhalte, -werte oder -bräuche nicht festgelegt, son-dern Teil der elterlichen Meinung, was dem Wohl ihrer Kinder förderlich ist (vgl. Höynck/Haug 2012, 24). Dies basiert auf der Annahme, dass „in aller Regel Eltern das Wohl des Kindes mehr am Herzen liegt als irgendeiner anderen Person oder Institution“ (BVerfG4). Nehmen die Eltern ihre Verantwortung nicht wahr und miss-achten insbesondere die Grundrechte des Kindes auf Menschenwürde und auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG), über-schreiten sie die Grenzen des Elternrechts (vgl. Meysen (a) 2012, 18). Die Ein-griffslegitimierung der staatlichen Gemeinschaft verbirgt sich hinter Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG, wonach der Staat über die Betätigung der elterlichen Erziehung und Pflege zu wachen hat. Zwischen dem Elternrecht, dem Recht des Kindes und dem staat-lichen Wächteramt besteht also ein Spannungsverhältnis (vgl. Abb. 1, Seite 7). Dies spielt, wie sich noch zeigen wird, eine bedeutende Rolle im Kinderschutz.

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Abbildung 1: Elternrecht und Kindesgrundrechte

Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG

Recht und Pflicht der Eltern Recht des Kindes auf Achtung der Menschenwürde und freie Entfaltung zur Pflege und Erziehung des

Kindes (Elternrecht) der Persönlichkeit

Art. 6 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 GG

Staatliche Gemeinschaft wacht über

Ausübung des Elternrechts (staatliches Wächteramt), im äußersten Fall durch Trennung

des Kindes von der Familie (vgl. Meysen (a) 2012, 19)

In den 1970er und 1980er Jahren galt trotz des „Züchtigungsverbots“ aus dem Jahre 1960 und den danach folgenden Formulierungen, die weiterhin ein absolu-tes Gewaltverbot vermieden, „ein Gewohnheitsrecht der Eltern, die Kinder körper-lich zu züchtigen“ (Maywald (a) 2012, 33 ff.). Im Rahmen der Sorgerechtsreform von 1980 wurde der §1626 Abs. 2 in das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) einge-fügt, dieser legte das Mitspracherecht der Kinder und Jugendlichen an allen sie betreffenden Entscheidungen ihrer Sorgeberechtigten, unter Berücksichtigung des wachsenden Entwicklungsstandes des Kindes oder Jugendlichen, fest (vgl. May-wald (a) 2012, 31). Durch die Sorgerechtsreform fand im Tatbestand des § 1666 BGB erstmals das seelische Wohl des Kindes Berücksichtigung (vgl. Höynck, Haug 2012, 29). Diese zentrale Norm zur Kindeswohlgefährdung ermöglicht fami-liengerichtliche Eingriffe, wenn es um Kindeswohlgefährdung geht. Sie definiert den Begriff der Kindeswohlgefährdung (vgl. Meysen (a) 2012, 23) (siehe auch Punkt 3.2).

Das Sozialgesetzbuch Achtes Buch (SGB VIII) ist das Kinder- und Jugendhilfege-setz (KJHG). Es wurde 1990 in Kraft geJugendhilfege-setzt (vgl. Maywald (a) 2012, 31). Das SGB VIII als Leistungssystem der Kinder- und Jugendhilfe hat von seiner Aufga-benstellung her die Förderung der Entwicklung junger Menschen zu eigenverant-wortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten zum Ziel (§ 1 Abs. 1 SGB

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VIII) (vgl. Wiesner 2012, 234). Grundsätzlich ist es wichtig, die im SGB VIII gängi-gen Altersdefinitionen zu erwähnen: Gemäß § 7 SGB VIII ist Kind, wer noch nicht 14 Jahre alt ist, Jugendlicher, wer 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist, und junger Volljähriger, wer 18, aber noch nicht 27 Jahre ist. Wenn die Rede vom Kind ist, sind Personen unter 18 Jahren gemeint. In den §§ 11- 41 SGB VIII findet sich eine Vielzahl subjektiver Rechtsansprüche, die dem einzelnen leistungsberechtigten Bürger zustehen. Daneben kennt das SGB VIII objektives Recht, dabei handelt es sich um die Verpflichtung öffentlicher Träger zu einem Mindestangebot an Leis-tungen (vgl. Münder 2011, 1272 ff.). Das KJHG formuliert folglich den Rechtsan-spruch auf „Hilfen zur Erziehung“ gemäß § 27 Abs. 1 SGB VIII. Tatbestandsvor-aussetzung ist, dass „eine dem Wohl des Kindes entsprechende Erziehung nicht gewährleistet“ ist, die Rechtsfolge ist der Anspruch auf geeignete und notwendige Hilfe (vgl. Münder 2011, 1277). Die Personensorgeberechtigten können dann ge-mäß § 27 Abs. 1 SGB VIII die für die Entwicklung des Kindes notwendigen Hilfen beanspruchen (Meysen (a) 2012, 22). In den §§ 28 ff SGB VIII werden standardi-sierte Hilfen beschrieben, Hilfen über diesen Katalog hinaus sind möglich (vgl. Münder 2011, 1277). Im KJHG wurden erstmals „Ansprüche auf Eingliederungshil-fe bei seelischer Behinderung“ formuliert. Dieser § 35a SGB VIII stellt einen wich-tigen Aspekt für die Hilfe von Patient_innen in Psychiatrien dar und bietet die Möglichkeit, dass auch Kinder Anspruch auf Hilfeleistungen haben. Die Regelun-gen des § 35a SGB VIII folRegelun-gen ausführlicher in Kapitel 5.2.3.

Das KJHG hat seit der Einführung bereits viele Änderungen erfahren, z. B. durch das Gesetz zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe (KICK) 2005, in welchem u. a. der § 8a SGB VIII installiert wurde (vgl. Münder 2011, 1272): „Im Bereich der Kindeswohlgefährdung geht es neben unterstützenden Leistungen durch die Kinder- und Jugendhilfe um verbindliche familiengerichtliche Anordnun-gen von Maßnahmen, die in das elterliche Erziehungsrecht eingreifen.“ (Höynck/ Haug 2012, 23) Dies regelt u. a. § 1666 BGB, der in Kapitel 3.2. Erwähnung findet. Näheres zum § 8a SGB VIII folgt in Kapitel 2.2.

Im Jahre 2000 wurde ein weiterer wichtiger Schritt unternommen, um der gesell-schaftlichen Veränderung Aufschwung zu verleihen. Mit der Neufassung des

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§ 1631 Abs. 2 BGB wurde nicht nur ein Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Er-ziehung, sondern ein Recht auf gewaltfreie Erziehung verabschiedet: „Kinder ha-ben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ Nahezu einhundert Jahre brauchte der Bewusstseinswandel um dem Kind auch gegen-über seinen Eltern ein Recht auf gewaltfreie Erziehung zuzugestehen. Eltern, die gegen § 1631 Abs. 2 BGB verstoßen, haben jedoch kaum eine Strafverfolgung zu befürchten, ihnen und ihren Kindern soll in erster Linie Hilfe angeboten werden (vgl. Maywald (a) 2012, 35).

2.1 Das neue Bundeskinderschutzgesetz

Seit Januar 2012 ist die Praxis aufgefordert, sich mit dem neuen BKiSchG vertraut zu machen und die neuen gesetzlichen Rahmungen umzusetzen. Das Gesetz dient der „[...] Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen“ (Meysen/Eschelbach 2012, 27). Anders als der „umfassend klingende Gesetzes-name suggeriert“, handelt es sich bei dem BKiSchG nicht um eine umfassende Regelung des Kinderschutzes, sondern um ein Artikelgesetz, das verschiedene Einzelregelungen enthält (vgl. Höynck/Haug 2012, 34). Zudem sind die Neuerun-gen für den in dieser Arbeit eingegrenzten Bereich kaum grundleNeuerun-gend (vgl. Höynck/Haug 2012, 34). Wie bereits erwähnt, bestehen die wichtigsten fach-übergreifenden Elemente seit der Einführung des KJHG und des KICK. Dennoch ist das BKiSchG die aktuelle gesetzliche Grundlage. Von unmittelbarer Bedeutung sind sowohl die Datenübermittlungsregelungen als auch die Verpflichtungen zur Zusammenarbeit einzelner Akteure und die Neuerungen des § 8a SGB VIII, ob-wohl die grundlegendsten Schutzmechanismen bereits vorher vorhanden waren. Zum Teil wurden aus praktischen Gründen bereits Kooperationsvereinbarungen zwischen einzelnen kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken installiert5. Im Zu-sammenhang mit der KJP sind die Gesetze relevant die das Verfahren bei vermu-teter oder festgestellter Gefährdung des Kindeswohls und die Vermittlung der Kinder in eine adäquate Anschlussversorgung behandeln. Hierbei handelt es sich

5 Als Beispiel dient die Kooperationsvereinbarung zwischen dem Bezirksamt Wandsbek und der

kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik des Kinderkrankenhauses Wilhelmstift, welche bereits seit 2009 besteht (vgl. Kapitel 5.3.1. und in der Anlage).

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um die Leistungsansprüche nach § 27 SGB VIII „Hilfen zur Erziehung“ (HzE) und § 35a SGB VIII, die „Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Ju-gendliche“ beschreibt. Die Neuerungen in Bezug auf die interinstitutionelle Zu-sammenarbeit, novelliert im § 3 KKG, sowie die datenschutz- und schweigerechtsrelevanten Bestimmungen des § 4 KKG werden im Zusammen-hang mit den Kooperationsanforderungen zwischen KJP und Jugendamt in Kapitel 5.2 behandelt. Das KKG novelliert den Aufbau lokaler Kooperationsnetzwerke und die Befugnisnorm zur Datenweitergabe für Berufsgeheimnisträger (vgl. Maywald (b) 2012, 12).

2.2 Der § 8a SGB VIII in seiner Bedeutung als Verfahrensvorschrift

Mit der Einführung des § 8a SGB VIII zum 01. 10. 2005 sollte der Schutzauftrag einer Kindeswohlgefährdung (KWG) gesetzlich festgeschrieben werden. Ziel war es, den Normanwendern mehr Handlungssicherheit durch ein klares Verfahren zu verleihen, aber auch die Verantwortlichkeiten zu verdeutlichen und die Absiche-rung des Kinderschutzes zu verdichten (vgl. Höynck/Haug 2012, 33). Der Zweck des § 8a SGB VIII lässt sich in Rückbezug auf das staatliche Wächteramt ermit-teln. Die Verzahnung mit Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG und dem § 1 Abs. 2 S. 2 SGB VIII i. V. m. § 1 Abs. 3 Ziff. 3 SGB VIII schafft die Grundlage für den daraus abgeleiteten Schutzauftrag bei KWG (vgl. Bringewat 2006, 6). Da es beim Verdacht auf KWG stets um eine subjektive Einschätzung geht, die für die Betroffenen weitreichende Folgen haben kann, sind Verfahrensfragen von immenser Bedeutung, auch um Entscheidungen hinsichtlich ihrer Tragweite wenigstens durch ein ordnungsgemä-ßes Verfahren zu legitimieren (vgl. Höynck/Haug 2012, 33). Der Schutzauftrag gilt sowohl für die Jugendämter als auch für alle anderen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe Tätigen (vgl. Maywald (b) 2012, 12). Die Normanwender_innen des § 8a SGB VIII, denen die Situationsbewertung bei Anhaltspunkten einer KWG ob-liegt, sind hauptsächlich die Mitarbeiter_innen des Jugendamtes (vgl. Höynck/Haug 2012, 33). In dem für die vorliegende Arbeit gewählten Kontext hält sich der/die betroffene Jugendliche jedoch bei der Feststellung des Verdachts auf Kindeswohlgefährdung in der psychiatrischen Klinik auf. Dies ist eine besondere Herausforderung der Sozialarbeit in der KJP. In der Gefährdungseinschätzung gilt

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es zu klären, ob das Jugendamt involviert werden muss oder eine Zusammenar-beit mit den Eltern die Gefahr abwenden kann: „Kindesschutz gelingt am besten mit den Eltern, die Kind und Jugendhilfe – wie auch die Gesundheitshilfe – er-reicht das Kind am besten über die Eltern, aber manchmal gelingt dies eben nicht; und dann muss der Staat erst recht seine Schutzpflichten wahrnehmen, notfalls auch ohne oder gar gegen Eltern.“ (Salgo 2012, 204)

Abbildung 2: Voraussetzungen der Mitteilungspflicht ans Jugendamt

1. Bekanntwerden gewichtiger Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung 2. Gefährdungseinschätzung(en) mit einer insoweit erfahrenen Fachkraft 3. Feststellung eines weiter gehenden Hilfebedarfs

4. Hinwirken auf die Inanspruchnahme bei Eltern, Kind oder Jugendlichen

5. In Anspruch genommene Hilfen reichen (trotzdem) nicht aus, um eine Gefährdung

abzuwenden

Mitteilung an das Jugendamt

(vielleicht gegen den Willen, aber nicht ohne Wissen der Eltern, Kind oder Jugendlichen)

Beachte: Ist sofortiges Handeln erforderlich, darf und muss sofort gehandelt werden (vgl. Meysen (a) 2012, 32)

Kommt die Vermutung einer möglichen KWG auf, besteht in Ausnahmefällen eine Mitteilungspflicht an das Jugendamt gemäß § 8a Abs. 4 S. 2 SGB VIII. Dies betrifft auch die Sozialarbeiter_innen in der KJP. Dafür müssen zuvor fünf Voraussetzun-gen erfüllt sein, welche in Abbildung 2. aufgeführt werden: Kann eine Gefährdung nach Meinung der Fachkräfte weder im Kontakt mit der Familie und mit angebote-nen Hilfen noch nach einer weiteren Risikoabschätzung abgewendet werden, be-steht eine Mitteilungspflicht. Wie lange und wie intensiv die Fachkräfte versuchen sollten, vor einer Informationsweitergabe an das Jugendamt die Eltern zu über-zeugen, um Hilfen zu ersuchen, obliegt der fachlichen Differenzierung der beteilig-ten Fachkräfte (vgl. Meysen (a) 2012, 31).

Geht eine Mitteilung beim Jugendamt ein, sind im Rahmen der Verfahrensvor-schrift drei Handlungsschritte zu beachten. Der erste erfolgt über die Kenntniser-langung gewichtiger Anhaltspunkte, der zweite Schritt ist die

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Gefährdungseinschätzung und der dritte die angemessene Maßnahmenauswahl (vgl. Höynck/ Haug 2012, 34-37):

1. Die Kenntniserlangung gewichtiger Anhaltspunkte markiert die Schwelle der Aktivierung des Schutzauftrages. Die „gewichtigen Anhaltspunkte“ sind ein unbestimmter Rechtsbegriff und in der Praxis oft schwierig zu bewerten. 2. Erst wenn Anhaltspunkte für eine KWG bekannt werden, ist das Jugendamt

verpflichtet, in einem formellen Verfahren das Gefährdungsrisiko einzuschätzen. Dies muss gemäß § 8a Abs. 1 S. 1 SGB VIII im Fachkollegium erfolgen um eine „interdisziplinär-gesamtfachliche Analyse“ (Bringewat 2008, zit. n. Höynck/Haug 2012, 35) aufzustellen. Des Weiteren sollen gemäß § 8a Abs. 1 S. 2 SGB VIII die betroffenen Familienmitglieder mit einbezogen werden. Welches auch dem Elternrecht gem. Art 6 Abs. 2 S. 1 GG Rechnung trägt.

3. Nun muss die Jugendhilfe in eigenverantwortlicher Weise beurteilen welche Maßnahme angemessen ist. Auch wenn keine KWG vorliegt, sind oft Hilfen vorzuschlagen. Kommt die Einschätzung zu dem Ergebnis, dass der KWG durch Erziehungshilfen begegnet werden kann, werden angemessene Hilfen gemäß § 27 ff. SGB VIII, wenn möglich mit den Eltern gemeinsam, erörtert. Dabei basiert die Mitwirkung der Eltern auf Freiwilligkeit. In der Regel ist den Beteiligten jedoch klar, dass diese Freiwilligkeit begrenzt ist und überschattet wird von der Eingriffslegitimation in die elterliche Sorge durch das Familiengericht gemäß § 1666 BGB. Das Jugendamt selbst hat, kurzgefasst, nur bei „Gefahr im Verzug“ die Verpflichtung, eingreifend tätig zu werden, und nimmt dann gemäß § 8a Abs. 2 S. 2 i. V. m. § 42 Abs. 1 SGB VIII das Kind in Obhut.

Die Neuerungen im § 8a SGB VIII zum 01.01.2012 beschränken sich zum Großteil auf den Austausch von Begriffen, so wurde z. B. „abzuschätzen“ in Abs. 1 S. 1 zu „einzuschätzen“, und „Personensorgeberechtigte“ sind nun „Erziehungsberechtig-te“, welches der Überbegriff sein soll und Personensorgeberechtigte mit einschließt (vgl. Czerner 2012, 63). Zum Teil finden sich Satzänderungen oder -umstellungen wie z. B. in Abs. 1 S. 2, wo die Neuerung auch darauf abzielt, die

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Einbeziehung der Erziehungsberechtigten und Kinder bzw. Jugendlichen zu errei-chen und dadurch zu verdeutlierrei-chen, wie wichtig ein unmittelbarer, persönlicher Eindruck der Lebensverhältnisse des Kindes oder Jugendlichen für die Gefähr-dungseinschätzung ist (vgl. Czerner 2012, 64).

In § 8a Abs. 5 SGB VIII ist u. a. eine „Datenübertragungspflicht [...] im Falle des Bekanntwerdens gewichtiger Anhaltspunkte für eine KWG gegenüber dem [...] zu-ständigen örtlichen Träger [...]“ eingefügt worden. Czerner weist ausdrücklich dar-auf hin, dass diese Regelung als Muss-Vorschrift ausgestaltet ist, trotz der im Vorfeld geäußerten Bedenken im Hinblick auf eine Aufweichung des Datenschut-zes, im Interesse des Kinderschutzes. Neu ist in diesem Zusammenhang auch der § 8b SGB VIII „Fachliche Beratung und Begleitung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen“, der u. a. das Recht auf Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft bei der Einschätzung einer KWG beinhaltet (vgl. Czerner 2012, 65 f.).

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3 Grundlegendes zum Kindeswohl und zur

Kindeswohlgefährdung

Das Kindeswohl und die Kindeswohlgefährdung sind die zentralen Begriffe des Kinderschutzes. Die Grundnorm für alle Regelungen, die das Kindeswohl und die Kindeswohlgefährdung betreffen, ist Art. 6 Abs. 2 GG, in welchem das Verhältnis zwischen Eltern, Kind und Staat geregelt wird (vgl. Höynck/Haug 2012, 24). Mitten im Spannungsfeld des Familienrechts im BGB, dem staatlichen Wächteramt im GG sowie dem BKiSchG und den Partizipationsrechten und -bedürfnissen des Kindes (z. B. nach § 1626 BGB oder Art. 12 Abs. 1 der UN-Kinderrechtskonvention) verorten sich die vagen Begriffe des Kindeswohls und dessen Gefährdung. Mit der Bestimmung und Operationalisierung des Kindes-wohl-Begriffs in der Praxis definiert sich die Grenze für das staatliche Eingreifen in das Elternrecht. Nur durch das Kindeswohl können solche Eingriffe legitimiert werden (vgl. Höynck/Haug 2012, 24 f.). Die mit dem Kindeswohl zusammenhän-genden Entscheidungen müssen im Einzelfall rechtlich konkretisiert werden, wes-halb das Kindeswohl gesetzlich an keiner Stelle ausdrücklich definiert wird (vgl. Höynck/Haug 2012, 25). Bei der Arbeit mit psychisch belasteten Kindern und Ju-gendlichen sowie deren Eltern müssen die Sozialpädagogen kontinuierlich Ein-schätzungen und Entscheidungen treffen, doch „die Gewissheit, ob eine Entscheidung richtig oder falsch war, lässt sich im Nachhinein in den wenigsten Fällen herstellen“ (vgl. Bastian 2012, 249). Es ist ein schmaler Grat festzustellen, ob noch eine als „allgemeines Lebensrisiko“ hinnehmbare ungünstige Lebensbe-dingung besteht oder bereits eine KWG vorliegt, die den staatlichen Eingriff legiti-miert (vgl. Höynck/Haug 2012, 32). Deshalb ist es wichtig, Rechtssicherheit in den grundlegenden Aspekten des Kindeswohls und der Kindeswohlgefährdung zu ha-ben.

Im Folgenden wird daher zuerst das im Recht verankerte und in der Literatur auf unterschiedlichste Weise skizzierte Verständnis vom Kindeswohl kurz erläutert und anschließend die Kindeswohlgefährdung mit ihren verschiedenen Formen dif-ferenziert. Die soziale Arbeit benötigt ebenso wie die Ärzte und Therapeuten Me-thoden, um professionell klären zu können, was dem Patienten/ der Patientin fehlt,

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welche Bedürfnisse er/sie hat und welche Interventionsmöglichkeiten zur Auswahl stehen. Exemplarisch wird in Kapitel 3.3 die sozialpädagogische Diagnose als ei-ne mögliche Methode vorgestellt.

3.1 Das Kindeswohl

Der unbestimmte Rechtsbegriff „Kindeswohl“ „entstammt dem Kindschaftsrecht des BGB“ (Schorn 2011, 9). Das Kindeswohl unterliegt verschiedenen klaren Kri-terien und muss dennoch, wie bereits erwähnt, am Einzelfall gemessen werden. Es gibt keine allgemeinverbindliche Einigung über eine Begriffsdefinition (vgl. Alle 2012, 13). Dennoch soll das „Kindeswohl“ als „Instrument und Kriterium der Aus-legung von z. B. Kindesinteressen dienen“ (Dettenborn 2007, zit. n. BMFSFJ 2009, 20). Wie bereits erwähnt, definieren die Eltern auf Grundlage des Eltern-rechts die Bedürfnisse ihrer Kinder in erster Linie selbst (gemäß Art. 6 Abs. 2 GG), wobei das, was als Kindeswohl bezeichnet wird, von kulturellen, ökonomischen und individuellen Bedingungen in den Familien abhängt (vgl. BMFSFJ 2009, 24). Es gibt jedoch einige klare Gesichtspunkte, die bei der Beschreibung des Kin-deswohls wichtig sind. Brazelton und Greenspan identifizierten sieben Grundbe-dürfnisse von Kindern und Jugendlichen:

- das Bedürfnis nach beständigen liebevollen Beziehungen

- das Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit, Sicherheit und Regulation - das Bedürfnis nach individuellen Erfahrungen

- das Bedürfnis nach entwicklungsgerechten Erfahrungen - das Bedürfnis nach Grenzen und Strukturen

- das Bedürfnis nach stabilen, unterstützenden Gemeinschaften und kultureller Kontinuität

- das Bedürfnis nach einer sicheren Zukunft

Die Bedürfnisse sind im Zusammenhang zu sehen und in ihrer Wirkung voneinander abhängig (vgl. Brazelton/ Greenspan 2008 zit. n. BMFSFJ 2009, 24 ff.).

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Die genannten Grundbedürfnisse sind nur eine wichtige Seite des Kindeswohlbe-griffs, die vor allem den in der Praxis agierenden Sozialarbeiter_innen gegenwärtig sein muss. Der normative Aspekt hat als unbestimmter Rechtsbegriff etlicher Ge-setze wieder andere Funktionen. „In der Praxis des Familienrechts ist das Kin-deswohl vor allem von Bedeutung als familiengerichtlicher Entscheidungsmaßstab und [...] für das gesamte familiengerichtliche Verfahren.“ (Höynck/Haug 2012, 256) Das Kindeswohlprinzip kann aus juristischer Perspektive in drei Funktionen für das Kindeswohl als Rechtsbegriff differenziert werden (vgl. Coester 1983, zit. n. Marthaler 2012, 106):

a) Die Legitimationsfunktion: Das Kindeswohlprinzip legitimiert Eingriffe in das Elternrecht, wenn Eltern ihrer Pflicht, das Kindeswohl zu schützen, nicht nachkommen.

b) Die Entscheidungsfunktion: Im Familienrecht dient das Kindeswohl unter anderem in Umgangs- und Sorgerechtsfragen als

Entscheidungsgrundlage.

c) Für die rechtliche Ausgestaltung des familiären Innenraums und der Beziehung zwischen Eltern und Kind ist das Kindeswohl ein wichtiger Parameter.

3.2 Die Kindeswohlgefährdung

Bereits der Begriff des Kindeswohls in seiner wenig greifbaren Konkretisierung macht mit den genannten Bedürfnissen von Kindern klar, dass es gefährdet wer-den kann. Ein Bestandteil aller gesetzlichen Erklärungsversuche ist dabei stets, dass Eltern grundsätzlich am besten wissen, was ihr Kind für sein Wohl braucht (Art. 6 GG). Dies wird auch im Kinder- und Jugendhilferecht deutlich, welches in seiner Ausrichtung besonders dominant als Sozialleistungsrecht ist. Eltern (und Kinder) haben Anspruch auf Hilfen – also auf Leistungen, wenn sie denn wollen. Diese Ausrichtung findet dann ihre Grenze, wenn es begründete Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung gibt. An diesem Punkt erhält das Jugendhilfegesetz als „Repräsentantin der staatlichen Gemeinschaft“ Weisungen, auch gegen den Willen der Eltern oder des Kindes einzugreifen (vgl. Höynck/Haug 2012, 31). Um

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dieser Grenze Klarheit zu verschaffen soll der Begriff der KWG im Folgenden ver-deutlicht werden.

Ursprünglich stammt der Begriff „Gefährdung des Kindeswohls“ aus dem Jugend- und Kindschaftsrecht. In der zentralen Norm zur KWG, dem § 1666 BGB „Gericht-liche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls“, werden die Begriffe der kör-perlichen, geistigen und seelischen Gefährdung benannt. Dadurch werden die unterschiedlichen Misshandlungsformen differenziert (vgl. Höynck/Haug 2012, 20). Bei der gängigen Definition der KWG handelt es sich laut einer ständigen Recht-sprechung des Bundesgerichtshofes um „eine gegenwärtige, in einem solchen Maße vorhandene Gefahr, dass sich bei der weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt“ (BGH FamRZ 1956, S. 350, zit. n. Höynck/Haug 2012, 32). Zudem muss gemäß § 1666 Abs. 1 BGB hin-zukommen, dass „die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden“, bevor ein gerichtliches Eingreifen möglich wird. Es wird nochmals klar gestellt, dass es vorrangig in der Verantwortung der Eltern liegt, die Gefahr abzuwenden. Ist der Tatbestand nach § 1666 Abs. 1 BGB erfüllt, muss das Fami-liengericht als Rechtsfolge Maßnahmen zur Abwendung der Gefahr treffen (vgl. Meysen (a) 2012, 24). Auch beim Familiengericht ist gemäß § 1666a BGB („Ver-hältnismäßigkeitsprinzip“) die freiwillige Inanspruchnahme von Hilfe und Unterstüt-zung vorrangig (vgl. Meysen (b) 2012, 160).

Die sozialwissenschaftlich gebräuchliche Terminologie spricht von vier Subformen der Misshandlung. Der Misshandlungsbegriff bezieht sowohl körperbezogene als auch nicht-körperbezogene Misshandlungen mit ein. Unterschieden wird zwi-schen:

-­‐ körperlicher Misshandlung,

-­‐ psychischer oder seelischer Misshandlung -­‐ sexueller Gewalt und

-­‐ Vernachlässigung (vgl. Dornes 2002, 214 f. zit. n. Schorn 2011, 9).

Unter körperlicher Misshandlung wird die physische Gewalteinwirkung seitens der Bezugspersonen oder anderer Erwachsener auf das Kind verstanden. Dies

(24)

um-fasst alle gewaltsamen Handlungen, die dem Kind körperliche Schäden zufügen (vgl. Schone 2012, 13).

Von psychischer oder seelischer Misshandlung wird gesprochen, wenn „wieder-holte Verhaltensweisen der Betreuungsperson(en) [...], durch die sich ein Kind massiv ängstigt, sich wertlos, ungeliebt und abgelehnt fühlt“, auftreten, die sich manipulierend, isolierend, ausnutzend etc. äußern können (vgl. Schorn 2011, 10). Drei Formen seelischer Misshandlung sind vordergründig: „die Ablehnung, das Terrorisieren und das Isolieren des Kindes.“ (Engfer 1986, zit. n. Schone 2012, 30) Sexuelle Gewalt „an Kindern ist jede sexuelle Handlung, die an oder vor einem Kind entweder gegen den Willen des Kindes vorgenommen wird oder der das Kind aufgrund körperlicher, psychischer, kognitiver oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann. Der Täter nutzt seine Macht- und Autoritätspo-sition aus, um seine eigenen Bedürfnisse auf Kosten des Kindes zu befriedigen.“ (Bange 1992, zit. n. Schone 2012, 32)

Die „Vernachlässigung ist die andauernde und wiederholte Unterlassung fürsorgli-chen Handelns sorgeverantwortlicher Personen (Eltern oder andere von ihnen au-torisierte Betreuungspersonen), welches zur Sicherstellung der physischen und psychischen Versorgung des Kindes notwendig wäre. Diese Unterlassung kann aktiv oder passiv, aufgrund unzureichender Einsicht oder unzureichenden Wis-sens erfolgen. Die durch Vernachlässigung bewirkte chronische Unterversorgung [...] kann zu gravierenden bleibenden Schäden oder gar zum Tod des Kindes füh-ren.“ (Schone u. a. 1997, zit. n. Schone 2012, 25)

Dabei unterliegt das, „was als kindeswohlgefährdend einzustufen ist, [...] dem ge-sellschaftlichen Wandel und ist dem jeweiligen Zeitgeist entsprechend zu interpre-tieren“ (Höynck/Haug 2012, 20). Kommt es während eines Aufenthaltes in der psychiatrischen Klinik zu einer konkreten Vermutung von möglicher KWG, muss im Sinne des Schutzauftrages gemäß § 8a SGB VIII schnell und professionell rea-giert und interveniert werden. Doch in den Kliniken der KJP muss häufig eine Dia-gnose gestellt werden, bevor es zu einem solchen Verdacht kommen kann. Diese

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Diagnosemethoden sollten multidimensional sein, um die Lebenssituationen der Betreffenden erfassen zu können (vgl. Gahleitner/Homfeldt/Fegert 2012, 255).

3.3 Die sozialpädagogische Diagnose

Zum Thema Kindeswohlsicherung in der Psychiatrie gehören neben dem Norm-verständnis drei wichtige Themen. Diese sind erstens die Diagnose, zweitens die Zusammenarbeit mit den Eltern des Patienten/ der Patientin und drittens die Ko-operation mit dem Jugendamt. Um eine gelingende KoKo-operation zu fördern, ist es von großer Bedeutung, dass die soziale Arbeit neben den Nachbarprofessionen wie z. B. Psychiatrie und Justiz eine eigenständige Urteilsbildung und ein profes-sionelles Fallverständnis vorweisen kann. Dafür sind Verfahren und Konzepte so-zialpädagogischer Diagnosen in ihrer Funktion als präzise Beurteilungsmethoden unverzichtbar (vgl. Ader/Schrapper 2004, 85). Die Sozialarbeit bedient sich einer Diagnostik, die bei weitem nicht so standardisiert ist, wie man es von der Medizin her kennt (vgl. Kölch/Allroggen/Fegert 2011, 322).

Friederike Alle weist darauf hin, dass, insbesondere wenn es um Eingriffe bei der Abwendung von KWG geht, fachliche Nachvollziehbarkeit und Begründung einen hohen Stellenwert haben. Gleichzeitig können Stigmatisierungsprozesse und Zu-schreibungen in Gang gesetzt werden, die eine selbstbestimmte, partizipierende Entwicklung der Betroffenen verhindern können. Deshalb muss eine „Diagnose [...] im Dialog mit den Klienten gemeinsam erarbeitet werden“. Aus Sicht der sozia-len Arbeit ist es also besonders in der Kindeswohlsicherung wichtig, die Diagnose als laufenden Prozess zu begreifen (Alle 2012, 57 ff.), denn „sozialpädagogische Diagnostik ist vorrangig darauf ausgerichtet, subjektive Sinnzusammenhänge zu verstehen“ (Schrapper 2012, 83). Der Hilfebedarf wird individuell definiert, indem aus der Familie und dem Lebensumfeld des Betroffenen Defizite und Ressourcen ausgemacht werden (vgl. Kölch/Allroggen/Fegert 2011, 322). Dabei ist die sozial-pädagogische Diagnose bereits Teil der Intervention: In gemeinsamer Verständi-gung soll herausgefunden werden, worin die Probleme bestehen und welche Folgen sich daraus ergeben. Familiensysteme haben ihre eigene Dynamik, und diese hat eine Wechselwirkung auf den diagnostischen Prozess. Insofern müssen

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„alle Aspekte zur Lebenslage, wie Sozialbeziehungen, Umfeld, materielle Versor-gung, Wohnen, Ressourcen [...]“ (Alle 2012, 59), aber auch das Hilfesystem mit einbezogen werden (Schrapper 2012, 84). Christian Schrapper unterteilt die Her-ausforderung der kompetenten sozialpädagogischen Kinderschutzarbeit in zwei Ebenen. Dabei stellt er zwei Sichtweisen der Kindeswohlgefährdung einander ge-genüber: Kindeswohlgefährdung ist erstens als „objektiver Sachverhalt“ und zwei-tens als eine „soziale Konstruktion“ zu betrachten. Mit dem „objektiven Sachverhalt“ meint Schrapper den Bedarf an gerichtlich nachprüfbaren Grundla-gen und objektivierbaren Sachverhalten. Hierzu gehören wissenschaftlich fundier-te Instrumenfundier-te und Verfahren, die es z. B. zulassen, die psychosoziale Situation von Kindern oder auch die Ressourcen von Eltern gerade auch vor dem Familien-gericht beschreiben und bewerten zu können, um Kinder vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen. Mit der „sozialen Konstruktion“ sind sich ändernde soziale Verhält-nisse und kulturelle Wertverstellungen gemeint sowie die Werte und Lebenserfah-rungen der Menschen und ihrem Helfersystem. Es gilt, die Familien, ihr Erleben, ihre Dynamiken und ihr Handeln zu verstehen, welches nicht gleichzusetzen ist mit akzeptieren. Dies ist vor allem für die längerfristige Zusammenarbeit wichtig, in der Eltern hilfreich unterstützt werden sollen (vgl. Schrapper 2012, 79 f.). Zu un-terscheiden sind zwei Diagnoseverläufe: Da ist zum einen die Einschätzung des Gefährdungsstatus mit einer durchaus schnell darauf folgenden Kriseninterventi-on, wobei eine Diagnose quasi erst dann beginnt, wenn das Kind „in Sicherheit“ gebracht ist, und zum anderen die längerfristige Entwicklung einer Hilfemaßnahme ohne vorherige Krisenintervention (vgl. Schrapper 2012, 85).

Wie in Abbildung drei auf Seite 21 zu sehen, ist in eine Diagnostik aus sechs „Ba-sis-Instrumenten“ erforderlich. Diese Konzepte entstammen, so Schrapper, dem systemischen und psychoanalytischen Fundus sozialpädagogischen Handelns und werden vor allem durch den Perspektivwechsel und durch das Ausbalancie-ren des „objektiven Sachverhalts“ und der „sozialen Konstruktion“ (s. o.) geprägt (vgl. Schrapper 2012, 87). Die sechs Perspektiven werden als grundlegender Standard bezeichnet und sollen u. a. sowohl die Fakten, die verschiedenen Per-spektiven, die verbindlichen Prüfungsfragen vor jeder Entscheidung, die

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Beteili-gung der Eltern und Kinder als auch Kriterien für eine Evaluation berücksichtigen (vgl. Schrapper 2012, 91).

Abbildung 3:

Sechs Perspektiven – ein Fall!

Standard Instrumente für ein sozialpädagogisches Verstehen und Durchblicken

(vgl. Schrapper 2012, 86)

Die in der vorliegenden Arbeit aufgeführten Handlungsschritte im Kinderschutz und bei Verdacht auf KWG können wichtige Daten für die Diagnostik liefern und sollten ausreichend berücksichtigt werden. Laut Gahleitner verlaufe die Diagnostik vor allem auf pathologisch-psychiatrischer Ebene (z. B. gemäß § 35a SGB VIII). Jedoch bedürfe sie aus der Perspektive der sozialen Arbeit einer sozialen Dimen-sion, welche die zu bewältigenden Probleme nicht nur bei den Adressat_innen selbst, sondern auch in ausgrenzenden Strukturen suche (vgl. Gahleit-ner/Homfeldt/Fegert 2012, 257).

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4 Empirische Datenlage

Für die Entwicklung von Kooperationsbezügen, die Praxis und den Stand der For-schung können empirische Befunde, Zahlen und Fakten von großer Bedeutung sein. Es folgt eine Auswahl aus einer Fülle von vorhandenen Daten. Der Schwer-punkt liegt auf der Schnittstelle von Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie, in den Be-reichen der „Hilfen zur Erziehung“ und dem Hell- und Dunkelfeld von Kindeswohlgefährdung. Bei der Bewertung wird wiederum deutlich, dass eben diese Daten mit Vorsicht zu interpretieren sind. Faktisch werden alle aufgeführten Ergebnisse sowohl von der Forschungsmethode und der Art der Auswertung als auch von unberücksichtigten Aspekten stark beeinflusst.

4.1 Zahlen und Fakten

4.1.1 Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie

Im Spiegel der amtlichen Statistiken wurden die Zahlen der abgeschlossenen Auf-enthalte der unter 20-Jährigen in psychiatrischen Fachabteilungen sowie den sta-tionären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und den Eingliederungshilfen für seelisch behinderte junge Menschen im Jahr 2009 zusammengefasst und aus-gewertet. Insgesamt waren es etwa 95.700 abgeschlossene Fälle. Auffallend we-nig vertreten waren die 3,3 % der Fälle, die Eingliederungshilfen nach § 35a SGB VIII in einer Einrichtung über Tag und Nacht ausmachten. Mit einem Anteil von zwei Dritteln, dies entspricht 63.700 jungen Menschen, machten die in psychiatri-schen Fachabteilungen stationär Aufgenommenen, den größten Teil aus. Die Heimerziehung nach § 34 SGB VIII lag bei 28.900 beendeten Fällen (vgl. Lot-te/Pothmann 2011, 201).

In Abbildung 4 ist aufgeführt, dass für knapp 2% der im Jahre 2009 begonnenen Heimunterbringungen nach § 34 SGB VIII der vorherige Aufenthalt die Psychiatrie war, dies entspricht 682 jungen Menschen. Der Anteil derer, die 2009 aus der Psychiatrie in eine Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII wechselten, entsprach hingegen 11% der begonnenen Maßnahmen. Zusammengenommen sind 3% von

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der Psychiatrie in eine stationäre Einrichtung gewechselt. Von den 425.616 jungen Menschen mit begonnenen Leistungen der Hilfen zur Erziehung im Jahre 2009 kamen 1.780 aus einem Aufenthalt in der Psychiatrie, ca. 65% von ihnen wurden stationär untergebracht. Unter Berücksichtigung der Altersverteilung war die Gruppe der 15- bis unter 18-Jährigen mit 40% am stärksten vertreten (vgl. Lot-te/Pothmann 2011, 205 ff.).

Abbildung 4: Heimerziehung und stationäre Eingliederungshilfen nach vor-herigem Aufenthalt „Psychiatrie“7

Heimerziehung, Heimerziehung Eingliederungshilfen Eingliederungshilfen (§ 34 SGB VIII) stationär stationär (§ 35 a SGB VIII)

Gesamt 38.607 34.125 4.482 Darunter vorheriger Aufenthalt „Psychiatrie“

Absolut 1.151 682 469 In % 3,0 2,0 10,5

(Deutschland 2009, begonnene Hilfen)(vgl. Statistisches Bundesamt 2009, zit. n. Lotte/Pothmann 2011, 206)

Abbildung 5: Heimerziehung und stationäre Eingliederungshilfen mit an-schließendem Aufenthalt „Psychiatrie“

Heimerziehung, Heimerziehung Eingliederungshilfen Eingliederungshilfen (§ 34 SGB VIII) stationär Stationär (§ 35 a SGB VIII)

Gesamt 34.343 30.459 3.884 Darunter vorheriger Aufenthalt „Psychiatrie“

Absolut 523 393 130 In % 1,5 1,3 3,4

(Deutschland 2009, beendete Hilfen)(vgl. Statistisches Bundesamt 2009, zit. n. Lotte/Pothmann 2011, 209)

Betrachtet man den umgekehrten Wechsel von der Jugendhilfe in die Psychiatrie, wie in Abbildung 5 verzeichnet, sind die Zahlen vergleichsweise niedrig, insgesamt beendeten 30.459 junge Menschen eine Heimunterbringung, davon haben 393 den Aufenthaltsort gewechselt und sind in eine Psychiatrieeinrichtung gegangen. Lediglich für die stationären Eingliederungshilfen nach § 35a SGB VIII waren es

7 Im Begriff „Psychiatrie“ sind alle Formen psychiatrischer Fachabteilungen enthalten (vgl.

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immerhin 3% aller im Jahre 2009 abgeschlossenen Maßnahmen, die mit einem Wechsel in die Psychiatrie endeten. Aus den Abbildungen 4 und 5 geht deutlich hervor, dass mehr junge Menschen von dem vorherigen Aufenthaltsort „Psychia-trie“ in die stationären Unterbringungsmöglichkeiten der Jugendhilfe wechseln als umgekehrt. Insgesamt ist die Gruppe der „Grenzfälle“ klein, die weitaus größere Gruppe junger Menschen kommt aus dem Elternhaus und geht wieder dahin zu-rück oder zieht in eine eigene Wohnung (vgl. Lotte/Pothmann 2011, 209 ff.).

4.1.2 Hilfe zur Erziehung

Im Jahre 2012 wurden nach den §§ 27 – 35 SGB VIII 478.227 Hilfen begonnen (vgl. Destatis 2011, Tabellen „Erzieherische Hilfen“; eigene Berechnung). Seit 2002 hat sich die Zahl der jährlich begonnenen Leistungen für Kinder unter 6 Jah-ren (sozialpädagogische Familienhilfe, Tagesgruppen, Vollzeitpflege und Heimerziehung) von knapp 23.300 auf rund 44.300 fast verdoppelt (KomDat Jugendhilfe 2010, zit. n. BMFSFJ 2010, 6). Knapp 126.200 Hilfen zur Erziehung (ohne die Erziehungsberatung) wurden im Jahre 2007 gewährt, bei fast 16% davon lag eine Kindeswohlgefährdung vor (Pothmann 2009, zit. n. Goldberg, 42).

4.1.3 Kindeswohlgefährdung in Hellfeld und Dunkelfeld

Bei der körperlichen Misshandlung ergibt das Hellfeld der polizeilichen Kriminal-statistik einen Zuwachs. Im Jahre 1990 waren es 1345 Kinder, bei denen eine körperliche Misshandlung bekannt wurde. Im Vergleich waren es im Jahre 2009 bereits 4126 Kinder, bei denen eine körperliche Misshandlung bekannt geworden ist. Hierzu gibt das BMFSFJ weiter an, dass laut Engfer bis zu 15% der Eltern schwerwiegendere und häufigere körperliche Bestrafungen anwendeten, die sich im Dunkelfeld befinden (vgl. Engfer, zit. n. BMFSFJ 2010, 3). Laut Deegener ga-ben einer Dunkelfeldstudie von 1997 zufolge 74,9% an, physische Gewalt durch ihre Eltern erlebt zu haben. 10,8% davon erlebten eine schwere Form der körperli-chen Misshandlung. Die Studie ergab auch, dass eine weiter verbreitete Gewalt-ausübung in den unteren sozioökonomischen Statusgruppen zu stattfand (vgl. Pfeiffer/Wetzels in Deegener 2005, 39 f.). Laut Schülerbefragungen scheint eine

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gewaltfreie Erziehung stetig zuzunehmen. Nur im Bereich der schweren Miss-handlungen bleibt die Zahl mit 9,8 % weitgehend gleich. Es bestätigt sich auch hier, dass Misshandlungen häufiger in Familien mit sozioökonomisch angespann-ten Verhältnissen vorkommen (Goldberg 2011, 54 f.).

In Deutschland ergab die Befragung der Jugendämter im Jahre 2000, dass bei 50% der Fälle die Vernachlässigung das zentrale Gefährdungsmerkmal gewesen ist, bei 65% war Vernachlässigung eines von mehreren Gefährdungsmerkmalen (vgl. BMFSFJ 2010, 2).

Aus einer Zusammenfassung von Studien über sexuellen Missbrauch konstatiert Deegener, dass bis zu 15% Frauen und 10% Männer bis zum Alter von 14 oder 16 Jahren mindestens einmal unerwünschten oder erzwungenen sexuellen Körper-kontakt erlebt haben (vgl. Deegener 2005, 48).

4.2 Bewertung

Eine der großen Problematiken im Themenfeld der Kindeswohlgefährdung sind die wenig verlässlichen Daten. Bei allen oben genannten gestiegenen Zahlen von Misshandlungen von Schutzbefohlenen wird davon ausgegangen, dass die Ursa-che dafür eine Verschiebung vom Dunkelfeld ins Hellfeld ist, insbesondere weil die im Kinderschutz Tätigen auf die Hinweise der Bevölkerung angewiesen sind. Es wird deutlich darauf hingewiesen, dass die Zahlen nicht unbedingt eine wachsen-de Misshandlung Schutzbefohlener darstellen, sonwachsen-dern eine Veränwachsen-derung wachsen-des „Anzeigeverhaltens“ durch eine neue „Kultur des Hinsehens“ (vgl. BMFSFJ 2010, 4). Die oben aufgeführten amtlichen Statistiken bilden hierbei das Hellfeld ab, also die bekannt gewordenen Fälle. Dies entspricht jedoch nicht der Realität. Es gilt zu berücksichtigen, dass bei allen Statistiken denen keine Pro-Kopf-Zahlen zugrunde liegen (z. B. Anzahl pro 10.000 Jugendliche), die durchgängig sinkenden Gebur-tenzahlen nicht ermittelt wurden (vgl. Goldberg 2011, 29 ff.). Die aufgegriffenen Statistiken sind sogenannte „Tätigkeitsstatistiken“: Die von der Polizei, den Ju-gendämtern oder Familiengerichten gesammelten Daten geben größtenteils Aus-kunft über die Arbeit dieser Institutionen (Goldberg 2011, 41). Im Bereich der KWG

(32)

wird eine hohe Dunkelziffer vermutet. Da sich die Gefährdungen in der Regel im näheren Umfeld des Kindes abspielen, dringen wenig Informationen nach außen. Oft müssten sich die Kinder selbst an Vertrauenspersonen wenden, damit Gefähr-dungen überhaupt ans Licht geraten können. Auch die Dunkelfeld-Studien liefern keine Daten, die vollständig mit der Realität übereinstimmen (vgl. Goldberg 2011, 29). Aussagen über die Häufigkeit von seelischer Misshandlung und Vernachläs-sigung sind kaum möglich (vgl. Goldberg 2011, 65 f.).

Insbesondere an der Schnittstelle von Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie finden sich laut Lotte/Pothmann „Forschungslücken“: Es fehle an „Erkenntnissen über längerfristige Hilfeverläufe und -karrieren mit mehrmaligen Wechseln innerhalb und zwischen den Systemen“ (vgl. Lotte/Pothmann 2011, 216). Aus den gesichte-ten Studien von Lotte und Pothmann war nicht ersichtlich, ob bei den Wechseln von einem Aufenthalt in der KJP in eine Jugendhilfeeinrichtung, die Fälle berück-sichtigt wurden, bei denen Kinder einen Zwischenstopp z. B. zu Hause einlegen mussten, weil noch keine passende Maßnahme installiert war.

Es besteht eine Kausalität zwischen der Verschlechterung der wirtschaftlichen La-ge und der prekären Situation von Kindern und JuLa-gendlichen in ihren Familien (vgl. Pfeiffer/Wetzels in Deegener 2005, 39 f.).

(33)

5 Die Kooperation zwischen Kinder- und Jugendpsychiatrie

und Jugendhilfe

„Die geregelte Kooperation zwischen Menschen bildet den anthropologi-schen Kern von sozialen Institutionen und Organisationen. [...] Im Kern geht es um einen wechselseitigen Austausch zwischen den beteiligten Akteuren, der auf Dauer angelegt zu Standardisierung und Formalisierung führt.“ (Schubert 2011, 531)

Die Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Störungen erfor-dert die Zusammenarbeit zweier grundlegend verschiedener Systeme: zum einen das der Kinder- und Jugendpsychiatrie mit seinem diagnostisch-kurativ ausgeleg-ten System und zum anderen das der Jugendhilfe als pädagogische Fachbehörde, die zudem Verwaltung und Kostenträger des komplexen Systems aus öffentlichen und freien Trägern ist (vgl. Fegert, zit. n. Mörsberger 2011, 170). Die Kinder- und Jugendhilfe ist mit ihren Pflichtaufgaben und Leistungen im SGB VIII verortet, hier finden sich u. a. die „Hilfen zur Erziehung“ gemäß §§ 27-35 SGB VIII und § 35a SGB VIII, der mit den „Eingliederungshilfen für seelisch behinderte Kinder und Ju-gendliche“ von besonderer Bedeutung ist (vgl. Mörsberger 2011, 171).

Indes scheint es der Jugendhilfe in der Praxis zum Teil schwerzufallen, die Ju-gendpsychiatrie in angemessenem Maße an der Hilfeplanung zu beteiligen. Durch den engeren, intensiveren Austausch von Patient_in und Therapeut_in bzw. Sozi-alarbeiter_in ist oft bereits in der Klinik ausgehandelt worden, welche Form von Hilfe gebraucht wird. Die Jugendamtmitarbeiter_innen könnten in hohem Maße von den sachkundigen Informationen profitieren. Es tauchen jedoch „erhebliche Kooperationsprobleme zur Kinder- und Jugendpsychiatrie“ auf, welche mit der Di-versität der Aufträge und den verschiedenen rechtlichen Grundlagen begründet werden (vgl. Merchel 2004, 74).

Im Folgenden werden nun zunächst das Verhältnis der KJP zur Jugendhilfe und die Notwendigkeit einer gelingenden Kooperation erläutert. Anschließend werden gesetzliche Rahmenbedingungen aus dem BKiSchG betrachtet: Das Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) und der § 35a SGB VIII.

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Wei-terhin ist ein Kooperationsgelingen in der Praxis an wichtige Bedingungen ge-knüpft, diese werden in Punkt 5.3 erläutert. Eine Kooperationsvereinbarung zwi-schen dem „Bezirksamt Wandsbek, Fachamt Jugend- und Familienhilfe“, dem „Katholischen Kinderkrankenhaus Wilhelmstift, Kinder- und Jugendpsychiatrie“ und den „Jugendhilfeträgern von Hilfen zur Erziehung“ wird beispielhaft auf diese Bedingungen hin untersucht. Abschließend werden Interventionsmaßnahmen in Krisen und Notfällen als besondere Kooperationsanlässe behandelt. In Kapitel 5.4 folgt ein Fazit über das Thema der Kooperation zwischen KJP und Jugendhilfe.

5.1 Die Verhältnisbestimmung von der Kinder- und Jugendpsychiatrie zur Jugendhilfe

In Deutschland ist die KJP seit 1968 „eine eigenständige Fachdisziplin“ (Mörsber-ger 2011, 173). Das System der KJP ist im Gesundheitssystem und hauptsächlich im SGB V verortet. Die Kosten für die Leistungen werden in der Regel von den Krankenkassen übernommen (vgl. Fegert/Schrapper 2004, 19). Ihre Leistungen sind die Diagnose, Prävention und Rehabilitation bei psychischen, psychosomati-schen, entwicklungsbedingten und neurologischen Erkrankungen oder Störungen sowie bei psychischen und sozialen Verhaltensauffälligkeiten im Kindes- und Ju-gendalter (vgl. Landschaftsverband Rheinland 2007, zit. n. Mörsberger 2011, 174). Die primäre Tätigkeit der Sozialarbeit in der KJP ist die Einleitung pädagogischer Maßnahmen über die Jugendhilfe und die Unterstützung der Eltern (vgl. Kölch/ Al-roggen/ Fegert 2011, 320). Die Jugendhilfe erwartet dabei vor allem Unterstützung der KJP bei der Erstellung von Diagnosen und einer schnellen zuverlässigen Krisenintervention (vgl. Darius/Hellwig/Schrapper 2004, 506). Oft wird im Laufe der Behandlung festgestellt, dass das Kind bzw. die Eltern im Anschluss „Hilfen zur Erziehung“ benötigen oder das Kind in eine stationäre Einrichtung aufgenom-men werden sollte. Der Bedarf wird in Gesprächen mit dem Patienten/der Patientin und Sorgeberechtigten ermittelt, dann wird mit Hilfe der Sozialarbeiter_innen der Kontakt zum Jugendamt aufgenommen. Dabei ist es wichtig, mit den Eltern zusammenzuarbeiten. Einen alternativen und auf Dauer angelegten Lebensort können nur qualifizierte Jugendhilfeangebote bieten (vgl. Darius/Hellwig/Schrapper 2004, 506).

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Die Aufgaben der Jugendhilfe umfassen gemäß § 2 SGB VIII jegliche Leistungen und andere Aufgaben zugunsten junger Menschen und Familien, um insbesonde-re zur Verwirklichung des Rechts nach § 1 Abs. 1 SGB VIII beizutragen. Unter an-derem ist hier in § 1 Abs. 3 SGB VIII festgehalten, dass Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl geschützt werden müssen. Zudem wird in § 2 SGB VIII deutlich, dass der Jugendhilfe das Anbieten von Beratung und Hilfen obliegt. „Die Jugendhilfe versteht sich als praktische Sozialpädagogik, deren Selbstverständnis sich auf Prozesse individueller Entwicklung und Unterstützung von Aneignungs-prozessen stützt.“ (Fegert/Schrapper 2004, 19)

Die Gemeinsamkeiten mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie finden sich, wie be-reits erwähnt, in der gemeinsamen Klientel. Ebenso ergänzen und bedingen sich beide Systeme in der Charakteristik der multiprofessionell aufgestellten Teams und den fachübergreifenden Arbeitsfeldern (vgl. Mörsberger 2011, 174). Die be-troffenen Kinder und Jugendlichen haben zwar unterschiedliche Bedürfnisse, in-dem sie z. B. medizinische, therapeutische und pädagogische Hilfe bedürfen, doch kann man ihnen kaum getrennt voneinander nachkommen. Dennoch sind verschiedene Systeme an der Versorgung beteiligt. In der Praxis sind die Klient_innen mit ihren verschiedenen Bedürfnissen dadurch erkennbar, dass die KJP häufig entweder „Grenzgänger“ (Beck 2011, 180) versorgt, die bereits aus der Jugendhilfe kommend behandelt werden und im Anschluss auch wieder Erzie-hungshilfen bedürfen, oder Patient_innen, bei denen während des therapeuti-schen Aufenthalts klar wird, dass sie eine Anschlussversorgung benötigen: „Der Bedarf an qualifizierten Anschlussmaßnahmen ist hoch und wird weiter steigen.“ (Beck 2011, 186) Bei einer erheblichen Zahl an „Grenzfällen“ ist zudem nicht im-mer klar trennbar, in welchem der beiden Fachbereiche die Kinder und Jugendli-chen versorgt werden sollten (vgl. Darius/Hellwig/Schrapper 2004, 506).

Jedoch liegt „die Definitionsmacht für das Erfordernis einer Hilfe zur Erziehung“ bei der Jugendhilfe, während die KJP höchstens Empfehlungen zur Hilfeplanung beitragen kann (vgl. Mörsberger 2011, 179). Erforderlich ist auch hierbei die Mit-wirkung der Sorgeberechtigten. Insbesondere der Sozialbericht über die zu ent-lassende Patientin oder den Patienten gibt Auskunft über Verlauf, Diagnose,

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Behandlung und Empfehlung einer Hilfemaßnahme. Bei der Übergabe der Fallzu-ständigkeit sollte der Sozialbericht vorliegen und bestenfalls in der Hilfeplanung berücksichtigt werden (vgl. Darius/Hellwig/Schrapper 2004, 514 f.).

Eines der „Standartwerke zum Verhältnis von Kinder- und Jugendhilfe und Ju-gendpsychiatrie“ ist das Handbuch Jugendhilfe – Jugendpsychiatrie von Fegert und Schrapper (2004)(vgl. Lotte/ Pothmann 2011, 198). Es macht deutlich, dass die beiden Unterstützungs- und Hilfesysteme erhebliche Unterschiede aufweisen und gleichzeitig aufgrund der gemeinsamen Zielgruppe zur Zusammenarbeit an-gehalten sind. In Bezug auf das Kooperationsanliegen schreiben Fegert und Schrapper von einem Verhältnis wie zwischen „Stiefgeschwistern“. Damit meinen sie die Gemeinsamkeit mit dem Staat als „Vater“ und die Unterschiedlichkeit durch die verschiedenen Mütter: einmal die Sozialpädagogik und einmal die Medizin (Fegert/Schrapper 2004, 19). Die Unterstützung des jeweils anderen Systems wird vor allem dort gefordert, wo eins allein an seine Grenzen stößt. Dies ist seitens der KJP die Erwartung daran, dass betroffene Patient_innen nach ihrer Entlassung ei-ne möglichst schei-nelle, unkomplizierte und richtige Anschlussversorgung erhalten. Seitens der Jugendhilfe wird zum Beispiel nach einer zeitnahen Behandlung ein „gesundes“ Kind erwartet. Die gegenseitigen Erwartungshaltungen sind dabei laut Fegert und Schrapper nicht selten unrealistisch (vgl. Fegert/Schrapper 2004, 21). Für das Gelingen dieser fachübergreifenden Kooperationen ist es eine wesentli-che Voraussetzung, dass die Akzeptanz und die Wertschätzung der jeweiligen Kompetenzbereiche auf beiden Seiten besteht (vgl. Goldberg/ Schorn 2011, 117).

5.2 Kooperation im Bundeskinderschutzgesetz

Spätestens seit der Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) 1991 ist das Jugendamt zur Hilfeplanung infolge der „Gesamtverantwortung“ durch den § 79 KJHG verpflichtet. In der Hilfeplanung soll ausgehandelt und geplant werden, ob und welche der möglichen Angebote benötigt werden (vgl. Merchel 2004, 69). Die Kooperationsverpflichtung des § 80 Abs. 4 KJHG und die Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit anderen „Einrichtungen und Stellen des Gesundheitsdienstes [...]“ des § 81 KJHG hat die Jugendhilfe auch vor der Einführung des BKiSchG

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