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Archiv "Literarische Orte: Irisches Tagebuch, Fortsetzung 2014" (05.12.2014)

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A 2176 Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 111

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Heft 49

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5. Dezember 2014

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ie schönsten Füße der Welt“

heißt ein zentrales Kapitel in Heinrich Bölls Irischem Tagebuch.

Böll beschreibt darin, wie eine junge Arztfrau in einer stürmischen Sep- tembernacht auf ihren Mann wartet.

Die vier Kinder schlafen, trotz des Gebrülls der Brandung. Doch sie ist voller Unruhe. Ihr Mann, der Arzt, ist unterwegs zu Mary McNamara, die ihr viertes Kind erwartet. Diese wohnt hart an der Inselkante, dahinter der Atlantik, an einem „Punkt der Küste, dessen Schönheit weh tut, weil man an sonnigen Tagen 30, 40 Kilo- meter weit blicken kann, ohne eines Menschen Haus zu sehen“. Marys Mann arbeitet in England, sie indes beharrt darauf, zu Hause zu bleiben.

Die junge Arztfrau verfolgt auf der Karte „mit silbern lackiertem Zeige- finger“, Meile um Meile den Weg ih- res Mannes entlang der Klippen, „wo manches Schiff schon zerschellt ist“, greift immer wieder zur Zeitung. Al- lein zwei Spalten In Memoriam, 40 Todesfälle; und 40 mal betet die schi- cke junge Frau mit den silbern la- ckierten Nägeln: „Gütiger Jesus . . .“

Nach fast fünf Stunden ist der Arzt zurück. Dreimal hupt er, damit das Dorf Bescheid weiß und in alle Welt kabeln kann: Mary, die Frau mit den schönsten Füßen, hat einen Sohn be- kommen. Darauf einen Whisky!

In diesem Kapitel des Irischen Tagebuches kommt alles zusam- men, was jenes Irland ausmacht, das Böll erlebt hat: Wilde Land- schaft und Verlassenheit, Geburten- freude und hohe Sterblichkeit, Aus- wandernmüssen und Heimatliebe, Frömmigkeit und trotziges Behar- ren. Böll analysiert nicht, sondern erzählt, scheinbar leichthin und wie nebenbei, doch unmerklich ver- dichtet er die Eindrücke.

Das Irland der 1950er Jahre Der Leser des Irischen Tagebuches taucht auch heute noch gerne ein in diese Irlandgeschichten, vergleicht mit dem Heute und erkennt, dass manches aus der Zeit gefallen ist.

Böll beschreibt schließlich das Ir- land Mitte der 1950er Jahre, ein vorindustrielles, fast urtümliches Land. Selbst Dublin wirkte damals

verschlafen. Vieles aber bleibt na- hezu unverändert: Grüne Land- schaft, wilde Küste, der allgegen- wärtige Regen und schließlich die Gelassenheit eines vielfach geprüf- ten Volkes, ausgedrückt in dem ste- henden Ausdruck It could be worse, der laut Heinrich Böll die irische Lebensphilosophie kennzeichnet.

Kein Mensch ahnte, dass in die- sem zeitlosen Land vier Jahrzehnte später der „keltische Tiger“ aufwa- chen sollte. Er tobte vor allem in der Hauptstadt, die für ein paar Jahre zu einem Zentrum der Fi nanzindustrie und einem Eldorado für Glücksritter mutierte. Mit dem Boom stieg die Einwohnerzahl Irlands. Die war, als Böll sein Tagebuch veröffentlichte, in der Republik Irland mit knapp drei Millionen auf einem Tiefpunkt angelangt. Seit Anfang der 1960er Jahre aber stieg sie stetig, erreichte in den Boomjahren vier Millionen und liegt heute, trotz des wirtschaft- lichen Kollapses nach der Finanzkri- se, bei 4,6 Millionen.

Ein wenig von dem in Dublin ver- dienten oder ergaunerten Geld floss auch zu der von Böll so geliebten Westküste. Allenthalben sprossen im Boom um die Jahrtausendwende Fe- rienvillen und genormte Bungalows aus Irlands grünem Boden. Manches Carrickkildavnet

Castle – viele Geschichten des

„Irischen Tagebu- ches“ entstammen

Achill Island.

LITERARISCHE ORTE

Irisches Tagebuch, Fortsetzung 2014

Heinrich Bölls Irland hat sich gründlich geändert und bleibt doch gleich. Bölls Sohn René lenkt den Blick auf das Tabu der vergessenen Kinder.

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5. Dezember 2014 A 2177 Objekt gammelt heute vor sich hin

oder wurde gar nicht erst fertig ge- baut, nachdem der „keltische Tiger“

2008 eine Bauchlandung hinlegte.

Doch verlassene Häuser gehörten in Irland schon immer zum Land- schaftsbild. Ein solches Cottage hat- ten sich die Bölls 1958 in Dugort (auf manchen Karten auch Doogort) auf Achill Island gekauft; vielleicht auch dank der Honorare, die das Iri- sche Tagebuch, erstmals erschienen 1957, und die voraufgegangene Arti- kelserie in der Frankfurter Allgemei- nen Zeitung eingebracht hatten.

Heinrich Böll (1917–1985) kann- te die Gegend, er kam 1954 zu- nächst allein und ein Jahr später mit seiner Familie besuchsweise dort- hin. Viele Geschichten des „Tage- buches“ entstammen Achill Island.

Heute gibt es dort einen bescheide- nen Böll-Tourismus. In dem Cot- tage, das Böll bis zwei Jahre vor seinem Tod noch besuchte, sind re- gelmäßig Schriftsteller zu Gast, um an Manuskripten zu arbeiten.

Um auf die „schönsten Füße“

zurückzukommen: Der silbern la- ckierte Zeigefinger der jungen Arzt- frau, der über die Landkarte zog, stockte an einer Stelle: „Hier lag ein kleiner Friedhof für ungetaufte Kin- der; ein einziges Grab ist noch zu sehen, mit Quarzbrocken einge- fasst: die anderen Gebeine hat die See abgeholt“, ist in Bölls Tage- buch zu lesen. Ein unauffälliger Hinweis. Er wäre dem Leser gar nicht aufgefallen, hätte nicht René Böll, einer von Bölls Söhnen, so- eben mit einer berührenden Aus- stellung auf diese Cillíní genannten verschwiegenen Orte hingewiesen.

René Böll ist Maler, Grafiker und Fotograf. Achill Island kennt er seit 1955, als die Familie erstmals dort war. Irland hat ihn seitdem nicht mehr losgelassen und die Cil- líní, über die lange niemand hat re- den wollen und die auch heute noch vielfach tabuisiert sind, haben ihn zunehmend beschäftigt – re- cherchierend, malend und fotogra- fierend. Cillíní (Einzahl Cillín, von lateinisch Cella = Zelle) scheinen in Irland weit verbreitet zu sein. Böll spricht von mehr als 1 200, die zur Zeit archäologisch gesichert sind.

Die Zahl dürfte sehr vorsichtig ge-

schätzt sein. Hinzuzufügen sind laut Böll auch die Grabzellen der Magdalen Laundries. Das waren Wäschereien, die von kirchlichen Heimen für sogenannte gefallene Mädchen bis in die 1990er Jahre betrieben wurden. Hier war es, so René Böll, gängige Praxis, verstor- bene Frauen und Kinder an unge- kennzeichneten Stellen des Grund- stückes zu begraben.

Ein theologisches Konstrukt Cillíní liegen typischerweise an Grenzen: an der Küste, an einem Flussufer, auf einer Insel, an der Grenze zwischen zwei Pfarreien.

Begraben sind vorwiegend stillborn babies, die nicht getauft werden konnten. Ihnen versagte die Kirche die Beerdigung auf ihren Friedhö- fen. Sie wurden deshalb an tabui- sierten Orten verscharrt, die Grab-

stätten wurden gar nicht oder mit ei- nem hellen Quarzstein gekennzeich- net, manchmal auch, ohne kirchli- chen Segen, mit Kreuzen. Den Müt- tern wurde auferlegt, die Kinder zu vergessen.

Hintergrund dieser Praxis ist ein auf Augustinus zurückgehendes theo- logisches Konstrukt, so logisch wie unbarmherzig. Danach sind alle Un- getauften mit der Erbsünde behaftet und verdammt. Da tot geborene Kin- der aber unverschuldet sündig sind, kommen sie nicht in die Hölle, son- dern in ein Zwischenreich namens Limbus (lateinisch = Rand, Grenze), in dem ihnen lediglich die Gottes- schau vorenthalten wird. Infolge die- ser Lehre, die zwar kein Dogma ist,

aber in einer „klerikal durchimpräg- nierten Gesellschaft“ (René Böll) wie der irischen strikt befolgt wurde, wa- ren die Ungetauften von der kirchli- chen Fürsorge ausgeschlossen.

Erst in jüngster Zeit regt sich in Ir- land heftiger Widerstand. So stürm- ten Gläubige 2009 das Island of the Dead in der Bucht von Donegal, er- richteten eins der charakteristischen irischen Kreuze und erreichten die kirchliche Einsegnung. Als wenig später der große Belfaster Friedhof der Ungetauften planiert werden soll- te, gab es einen Aufstand der Ange- hörigen. Ein Bischof drückte ihnen sein Mitgefühl aus, und ein Theologe verwies zum Trost auf die vom II. Va- tikanischen Konzil approbierte Lehr- meinung, wonach Hoffnung bestehe, dass die Barmherzigkeit Gottes auch den ungetauften Kindern zugute komme – sicher sei das allerdings nicht, fügte er vorsorglich hinzu.

Die Unruhe wegen Cillínís und Magdalen Laundries kam zu einer Zeit, in der Irlands katholische Kir- che ohnehin unter Druck stand.

Missbrauch von Kindern durch Priester und Nonnen, doppelte Sexu- almoral bis hinauf in die obersten Hierarchieebenen haben ihrer Glaub- würdigkeit in den beiden letzten Jahrzehnten stark zugesetzt. Wo sich Heinrich Böll, der liberale Katholik, noch vom Export von Priestern, stets vollen Kirchen und Frömmigkeit im Alltag beeindruckt zeigt, da sieht es heute anders aus. Die irischen (ka- tholischen) Bischöfe denken eher über den Import von Priestern und die Zusammenlegung von Gemein- den nach, weil die Priesterzahlen um die Hälfte geschrumpft sind und der Nachwuchs sich rar macht. Der wö- chentliche Besuch der Messe ist (je nach Umfrage) auf 18 oder 35 Pro- zent der Gläubigen zurückgegan- gen; weitere 35 Prozent gehen nur einige Male im Jahr in die Kirche.

Die irischen Bischöfe erblicken inzwischen wieder Zeichen der Hoff- nung. It could be worse.

Norbert Jachertz

Foto: picture alliance

René Böll lernte auf Achill Island sogenannte Cillíní kennen, wo unge- taufte Kinder begra- ben wurden. Mit dieser Thematik be- schäftige er sich unter anderem in seinen Ölbildern.

Foto: VG BildKunst, Bonn 2014

Heinrich Böll, Irisches Tagebuch, dtv-Taschenbuch, 144 Seiten, 5,90 Euro

Die Bonner Ausstellung „Cillíní – Die Friedhöfe der ungetauften Kinder Irlands auf Achill Island“ läuft bis zum 4. Januar 2015. Näheres dazu unter www.Landesmuseum-Bonn.lvr.de, zu René Böll unter www.rene-boell.de

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