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JESUS CHRISTUS BEFRE IT

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JE S U S CHRI S TUS B E F RE IT

von Othmar Göhring

Wenn wir uns zu diesem ökumenischen Wochenende zum Thema "Jesus Chri- stus, der Befreier" zusammengefunden haben und dabei einen Ausdruck für Christus, nämlich: "der Befreier", verwenden, der in unseren europäi- schen Kirchen und Traditionen eher ungewohnt ist, und wenn wir dieses ökumemsche Wochenende im Rahmen der Weltgebetswoche für die Emheit der Christen tun, dann weitet beides unseren Horizont über die Grenzen unserer Kirchen hier in dieser Stadt und in unserem Land hinaus und führt uns Grazer und Österreicher zur Wahrnehmung der Weite und Viel- falt der Weltchristenheit und Weltkirche.

Wir alteuropäische Chnsten werden in eine Reihe gestellt mit den Christen und Kirchen in der Sowjetunion und in Nordamerika, besonders aber auch m Afrika, Asien und Lateinamerika. Dle so weit voneinander entfernten Kontinente und Länder mit so verschiedenen sozialen und politischen Sy- stemen lassen sich nicht auf einen Nenner bnngen. Allen gemeinsam aber ist Gebet und allen gemeinsam ist die Bibel. In einer Welt, die an Un- freiheit leidet und nach Freiheit hungert, beten Menschen in total unter- schiedlichen, ja gegensätzlichen sozialen, polltischen und kulturellen Ge- sellschaften füreinander und für ihre Einheit und sie suchen das Zeugnis vom befreienden Christus so klar wie möglich herauszustellen, zu verkün- den und zu leben.

"Jesus Christus befreit" - das ist ein Bekenntnis mit weitreichenden Fol- gen in die Praxis des Lebens hinein und auch in die Kirchen. Worin aber wurzeln die Befreiungen, die durch Christus geschehen sind und gesche- hen und die durch jene, die an ihn glauben, geschehen können und ge- schehen sollen.

Unter Aufnahme von Gedanken Jürgen Maltmanns (u.a. in "Gott kommt ond der Mensch wird frei") möchte ich den ersten Teil meiner Ausführungen

"Jesus Christus befreit11 einem Wort des Apostels Paulus widmen. Im Zwei- ten Korintherbrief, im 5. Kap1tel, schreibt er Folgendes:

"Gott war 1n Christus und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgenchtet das Wort von der Versöhnung. So sind wir nun Botschafter an Christi Statt; so bitten

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wir nun an Christi Statt: Lasset euch versöhnen mit Gott! - Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden." (2 Kor 5,19-20 und 17)

Das also ist die Basis, die uns Christen und Kirchen in der Welt gemein- sam ist und eint, in welchen Konfessionen und Kirchen wir auch immer zuhause sind und in welchen unterschiedhchen sozialen, politischen und kulturellen Lebensräumen und Gesellschaften wir unser Leben haben. In diesen unvergeßbaren Worten des Paulus finden wir die Mitte des Evange- liums, das Herzstück der christlichen Botschaft von Gott, den Grund des Glaubens und den Grund für die Praxis eines neuen Lebens.

Menschen fragen: Wer ist Gott? Die Antwort der christlichen Botschaft ist:

Er ist der, der in Jesus Christus weit weg von den Metropolen der Reli- gion, der Macht, den Zentren der Ökonomie und Bürokratie unter den Ärmsten zur Welt kommt, den Weg zum Kreuz geht und sich dem Leiden, in dem sich die Ohnmacht des Menschen offenbart, hingibt, um die Welt zu versöhnen; der sich grenzenlos entäußert und es bleibt kein Vorbehalt und kein Rest, unseren Tod auf sich nimmt und den Tod der tiefsten Ver- lassenheit stirbt, um der Welt seine Liebe zu schenken. Näher kann uns kein Gott kommen, mehr Mensch und Bruder kann uns kein Gott werden.

Ein Gott, der mit uns stirbt, mit dem werden wir auch auferstehen. Es ist der, der selber arm wird, um viele reich zu machen.

Was ist die Welt? Das ist die Welt, in der wir leben, leiden, kämpfen und sterben: die von Gott im Kreuz Christi geliebte und nicht verlassene, versöhnte und nicht verworfene Schöpfung. Sie ist nicht angeklagt und verdammt zum Elend, sondern freigesprochen zum Leben.

Und wer sind wir? In der Gemeinschaft mit Christus sind wir eine neue Kreatur, erlöst vom Gesetz der alten, vergehenden Welt, befreit von der Herrschaft ihrer alten Götter und Götzen und von der Angst vor ihren Herren und Mächten, befreit von Sünde und Tod und nun offen für das neue Leben in der Freude der erhaltenen Freiheit, offen für die Erlösung der ganzen harrenden Kreatur, offen für das kommende schöpferische Han- deln Gottes an der einzelnen menschlichen Person, an der menschlichen Gemeinschaft und der ganzen Kreatur.

"Siehe, es ist alles neu geworden!" (2 Kor 5,17) Versöhnung ist gesche- hen. Gott versöhnte sich in Christus mit der Welt und bittet durch die Botschafter an Christi Stall die Menschen, sich mit ihm zu versöhnen.

Schau auf den sterbenden Christus und du siehst die Morgenröte des kom- menden Tages Gottes, der alles verwandeln wird.

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17 So ist das also unsere Aufgabe: alle Menschen an Stelle des armen, lei- denden und sterbenden Christus zur Versöhnung mit Gott zu billen und sie alle damit zur Vergebung der Sünden und zu ihrer neuen Zukunft in Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit einzuladen. Sein Kreuz ist das Zei- chen der Versöhnung und damit das Zeichen der Hoffnung auf eine neue Welt und einen Menschen.

Ein Satz von Jean Jacques Rousseau (Contral social) hat Flügel bekommen und lange Ze1l die Runde gemacht: "Der Mensch wird frei geboren Nun, den Psychologen, Soziologen, überhaupt den Humanwissenschaften und den Theologen ist das keineswegs so gewiß. Sie neigen im Gegenteil zur Auffassung, daß nur frei ist, wer fre1 geworden ist in einem fortgesetz- ten, nie vollendeten Prozeß. Man hat Freiheit nicht als Erbanlage in sich selber oder als überkommenen Besitz. Wir sind von der Umwelt und von der Vergangenhell 1n Besitz genommen, lange bevor wir entscheiden kön- nen, welches Erbe wir antreten und welches w1r zurückweisen wollen. Alle Freiheit ist mithin abgerungene Freiheit, die aus der Zukunft kommt und in die man berufen wird. "Zur Freiheit seid 1hr 10 Christus berufen"

(Ga! 5,13), sagt der Apostel Paulus im Galaterbrief.

Schliler bekräftigte die Behauptung Rousseaus mit den ebenso oft zitierten Worten: "Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei und würde er 1n Kellen geboren". Tatsächlich aber wird er erst frei, wenn die Kellen fallen. Oh- ne konkrete Befreiung gibt es keine echte Freiheit.

Das Evangelium im Kreuz Christi ist die Berufung des Menschen durch Gott zur Freiheit. Es ist nicht nur ein Wort, ein Aufruf zur Freiheit, den jemand erläßt, sondern diesem Ruf gehl eine befre1ende Tal voran: "Zur Freiheit hat euch Christus befreit" (Ga! 5,1). Es ist die Tat der Hingabe, also die Tat der Liebe Christi am Kreuz und d1ese wieder wurzelt im Schmerz Gottes an der Unfreiheit, am Leiden und der Verlorenheil der Menschen. Man versteht nun, daß wirkliche Freiheit nur auf der Basis der Versöhnung möghch und eine Frucht der Liebe ist.

Paulus sagte im Zweiten Korintherbrief: "Gott versöhnte in Christus die Welt mit ihm selber und rechnete 1hnen ihre Sünden nicht zu" (2 Kor 5, 19). Unversöhnt sind zwei, wenn zwischen ihnen Schuld liegt, Schuld festgehallen wird und die beiden trennt. So lange einer den anderen in dessen Schuld festhält, gibt es keine Freiheit. So lange einer dem ande- ren dessen Schuld aufrechnet, bleibt nicht nur dieser, sondern bleiben beide unfrei. Schuld, die nicht vergeben wird, vergiftet das Leben eines Menschen, zerstört d1e Beziehung zwei er Menschen und Gruppen und gan-

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zer Völker. Unversöhnlichkeit, Mißtrauen, Haß regieren, "ein Tag der Ra- che" bleibt die beständig drohende Möglichkeit. Auch wer Gott nur als Gesetzgeber, Richter und Bestrafer versteht, wird Gott hassen. Das Kreuz Christi besagt, daß die Schuld1gen nicht zur Rechenschaft gezogen und bestraft werden, sondern daß geschehene Schuld vergeben wird und sie zur Versöhnung eingeladen werden. Wo Liebe ist und Vergebung der Schuld, muß Schuld nicht mehr verdrängt werden, sondern kann als ver- gebene Schuld angenommen und zur Überwindung dessen, was war, verar- beitet werden. Vergebung der Schuld befreit zu einem neuen Leben.

Aber es geht in der in Christus geschenkten Versöhnung nicht nur um die Vergebung und somit die Befreiung aus Schuld, sondern mehr noch: um die Befreiung von der Macht der Sünde überhaupt. Sünde ist für Paulus nicht einfach nur eine moralische Verfehlung oder Übertretung eines Gebo- tes. Sünde ist die Macht, die uns total versklavt. Es ist die Macht der Gottlosigkeit, die Macht des Todes, der Gewalt über den Menschen gewinnt und ihn beherrscht. Wer an den Tod glaubt, glaubt nicht an Gott.

Vor dem Tod in die Knie gegangen, sagen Menschen: "Laßt uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot" (1 Kor 15,32), sie stecken alles, was sie erhaschen können, in die Zeit ihres Lebens, beuten das Leben aus und auch die Natur und gehen gegebenenfalls auch über Leichen.

Jeder Mensch ist sterblich und kann darum auch getötet werden. In der Anerkennung der Herrschaft des Todes benützen Menschen die Sterblichkelt der Menschen, um sie mit Mitteln der Todesbedrohung, mit Mitteln der Ge- walt zu terrorisieren und zu beherrschen. Im Reich des Todes gibt es keine Freiheit, allenfalls Revolution, d

1ie wiederum Revolution gebiert, und der Götze "Militarismus" der Großmächte lähmt nicht nur die Politik, sondern das gesamte Leben auf Erden.

Der Glaube an den Tod und die Angst vor dem Tod bewirken, daß der Mensch vergängliche Dinge zu Götzen erhebt, denen er sich unterwirft und die er verehrt und bedient, sei es, weil er vor ihnen Angst hat, sei es, weil er sich von ihnen Sicherheit und Heil erhofft. In unserem scheinbar atheistischen, nicht mehr religiösen, säkularen Zeitalter sind es nicht mehr Fruchtbarkeitsgötter oder kosmische göttliche Mächte, die über Krieg und Frieden, Liebe und Haß, Heil und Unheil entscheiden und Schicksal zuweisen, sc>ndern ist es der große Gott Mammon, der große Gott Wissen- schaft, der große Gott Star, der große Gott Kapitalismus oder Sozialismus, der große Gott weiße Rasse, der große Gott Nation oder der große Gott Partei. Der Mensch, der an den Tod glaubt, unterwirft sich ihnen und

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wird von ihnen abhängig in seinem ganzen Sein. Die Macher in diesen säkularen Religionen werden zu göttergleichen Machthabern, die über Heil und Unheil, Glück und Unglück, Leben und Tod der Menschen entscheiden.

Die BefreiUng von der Macht der Sünde, von der Anbetung der Götzen und Mächte 1n Hoffnung und Furcht, setzt die Befreiung von der Macht des Todes voraus. Wir haben sie in der Auferweckung des Gekreuzigten von den Toten erhalten. In der Auferweckung Jesu hat Gott erwiesen und ver- kündet, daß ER Gott ist und nichts und niemand sonst, und daß dem Tod die Macht genommen ist. Wer an die Auferstehung des für uns Gekreuzig- ten glaubt, der hat keine Angst mehr vor der Macht des Todes, denn er weiß sich auch im Sterben 1n der Hand Gottes, des Vaters Jesu Christi geborgen. Er braucht darum nichts und niemand in der Welt mehr zu ver- götzen, er wird frei. Die an den Auferstandenen Glaubenden sind die Er- lösten des Herrn. Der Tod hat keine Macht mehr über sie. Für den An- spruch der Götzen, Götter, Herren und Mächte d1eser Welt haben sie nur mehr ein Lachen übrig, denn der Bann ihrer Herrschaft ist gebrochen,

"Leben wir, so leben wir dem Herrn. Sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, wir sind des Herrn. Denn dazu ist Christus gestorben und auferstanden, daß der Herr sei über Lebende und Tote." ( Röm 14 ,Sf.) Wo d1e Götter, Götzen, Herren und Mächte entgöttert werden und ihrem Anspruch widersprochen wird, findet der erste, der Grundakt der Befreiung statt. Jede Theologie, die zum Beispiel das erste Gebot, das wir Evangelischen heuer zur Jahreslosung haben: "Ich bin der Herr, dein Gott, du sollst nicht andere Götter haben neben mir" (2 Mos 20, 3), auslegt und bei der Sache dieses Gebotes bleibt, wird eine Theolo- gie der Befreiung sein.

In der Versöhnung Gottes in Christus am Kreuz mit der Welt, hat die Welt wieder ihren einen und einzigen Gott erhalten. Mit ihm versöhnt, ist für die Welt dem Tod die Macht genommen und ist mit dem Tod der Sünde die Macht genommen. Wir sind befreit, uns der Instrumente des Todes zu ent- ledigen: Gewaltherrschaft, Militansmus, Terror, Diktatur, Unterdrückung, Ausbeutung, Aushungern, Demütigung, Konkurrenzdenken, Manipulation des Einzelnen und der Massen, Nihilismus und Glauben an eine Zukunftslosig- keit der Schöpfung.

Versöhnt mit Gott werden wir in die Freiheit des Lebens berufen, in die Freiheit des aufrechten Ganges und der Würde, in die Zukunft einer neuen Schöpfung.

In diese Freiheit von der Macht des Todes, von der Macht der Sünde und

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von der Macht der Schuld sind wir von Christus befreit und in sie sind wir berufen. Im Glauben nehmen Menschen diese Freiheit wahr. Für sich und für andere. In dieser Freiheit zu stehen und nicht wieder in die alte Knechtschaft zurückzufallen, sie wahrzunehmen und für sich und andere zu bewahren, ist unser Auftrag.

Man kann daher 11Mission", die Sendung, in der die Kirche steht, be- schreiben als Wahrnehmung jener Freiheit, die im Kreuz und in der Auf- erstehung Jesu Christi für die Menschen und die ganze Schöpfung erwor- ben ist.

Eine Freiheit aber, von der nur allgernein gesagt werden kann, das Sein des Menschen und der Welt sei in sie berufen, und eine Freiheit, von der nur geträumt, auf die nur gehofft werden kann und die lediglich im Glauben existiert, nicht aber auch erfahrbar wird, ist keine Freiheit.

Darum möchte ich jetzt für den nächsten Teil meiner Ausführungen zu "Je- aus Christus befreit" eine Geschichte bringen, die Lukas, der Evangelist, vom Beginn des Wirkens Jesu erzählt.

Lukas erzählt, wie Jesu Wirken inmitten sehr einfacher und alltäglicher Zusammenhänge beginnt, mitten in der Geschichte seines Volkes und im Leben seiner Heimatstadt Nazareth.

Jesus kommt nach Hause, nach Nazareth. Wie gewöhnlich geht er am Sab- bat in d1e Synagoge. Das ist so üblich, wie man in unseren Dörfern und bisweilen auch noch in Städten am Sonntag zur Kirche geht. Und ebenfalls wie üblich, nämlich bei den Juden in ihren Synagogengottesdiensten, steht er auf, um der Gemeinde ein Wort aus der Heiligen Schrift vorzulesen.

Wie vorgesehen bringt ihm jemand eine ~chriftrolle und er liest vor, was im Buch Pr.ophet Jesaj a vor langer Zeit über den verheißenen Messias und erhofften Befreier gesagt und niedergeschrieben wurde. Nach Lukas fügt er der ausgewählten Stelle, Jesaja 61,1-2, die Verheißung hinzu: "und die Blinden sehend zu machen" und bricht die Lesung bezeichnender Weise vor der Androhung im alten Jesaja-Text "und einen Tag der Rache unse- res Gottes" ab. Warum nicht mehr von einem Tag der Rache unseres Got- tes die Rede ist - wir wissen es bereits: das Kreuz, die Versöhnung in Christus hat alles geändert. Er liest also folgende Sätze vor:

"Der Geist des Herrn 1st bei mir, darum daß er mich gesalbt hat. Er hat mich gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu heilen die zerstoßenen Herzen, zu predigen den Gefangenen, daß sie los sein sollen, und den Blinden das Gesicht und den Unterdrückten, daß sie frei sein sollen, und zu verkündigen das angenehme Jahr des Herrn". (Jes 61,1)

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Dann rollt er die Schriftrolle zu, setzt sich wieder hin und sagt den er- staunten Zuhörern nur einen einzigen kleinen Satz. und das ist seine ganze Predigt, seine volle Botschaft:

"Heute ist diese Schrift erfüllt in euren Ohren." (Lk 4,21)

Unerhört ist diese Botschaft und von einer Minute auf die andere ändert sich alles. "Heute 1st erfüllt". Die vorgelesenen Worte hatte emst ein Pro- phet dem Volk im Exil der Gefangenschaft in Babylonien zugesagt, Worte, welche die Gefangenen über den Tag und die Nacht des Exils hinaussehen ließen und das Banner der Hoffnung aufrichteten. Gott wird kommen und sich der Verlassenen annehmen und die im fremden Land leben, wieder heimführen zum Zion. Dann wird er die Gefangenen befreien, dann werden - wie es an anderer Stelle heißt - "die Blinden sehen, die Lahmen gehen, die Aussätzigen rein, die Tauben hören und die Toten auferstehen und den Armen wird das Evangelium verkündet." (Mt 11,5) Dann wird der Tag des Herrn beginnen, das Fest der Freiheit, das Fest ohne Ende, wenn Gott endgültig kommen wird. Dann werden alle Fesseln fallen und wird alles aus steh herausgehen in die Freiheit der Fülle des Lebens.

Aber das war Zukunft und nicht Gegenwart, war Hoffnung zwar, die nicht zuschanden werden ließ, doch nicht Erfahrung. So lange kein Armer das Evangelium hört, die Blinden blind sind und die Tauben taub, die Gefan- genen gefangen und die Unterdrückten erniedrigt und die ganze Welt so unerlöst ist, wie sie ist, so lange muß man gedulden und warten, hoffen und harren auf das Morgenrot eines neuen Weltentages.

Mit seinem einfachen, einzigen und eindeutigen kleinen Satz: "Heute ist erfüllt" sagt Jesus in seinem Heimatort die Zeit der Erfüllung an. Die Stunde ist da. Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen, der Tag des Herrn hat begonnen. Also ist dies jetzt die Zeit, den Armen das Evange- lium zu verkündigen, die zerschlagenen Herzen zu heilen, den Gefangenen die Freiheit zu bnngen, den Blinden das Licht und den Tauben das Ge- hör.

Durch ihn und in seiner Gemeinschaft erhält das Reich Gottes sein Heute und strömt es aus zu den Armen, den Gefangenen, den Gebrochenen, den Blinden und den Tauben, den Sprachlosen und den Aussätzigen, den Ge- miedenen, zu den Unterdrückten. Wann? Heute!

Das geschichtliche Christentum hat in langen Teilen seiner Geschichte und in weilen Teilen seiner jeweiligen Gegenwart auf die Klagelieder der Men- schen vor Ungerechtigkeit, Erniedrigung, Leiden und Tod und auf ihren Protest gegen das Böse mit der Verkündigung der künftigen Königsherr-

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schart Gottes geantwortet, darauf mtt dem ewtgen Leben, das nach dem Tod beginnt und das den Glauben verlangt. Aber das Letden, so allein gelassen und unwtdersprochen, nützt dte Hoffnung und den Glauben ab (stehe dazu: Albert Camus, "Der Mensch in der Revolte"). Dte Massen, der Arbeit, der Arbeits-losigkeit, des Hungers und des sozialen Elends, des Unrechts und des Letdens, des offenbar smnlosen Geborenwerdens, wertlosen Lebens und eines Sterbens, ohne gelebt zu haben, müde gewor- den, stnd Massen ohne Gott. Waren es, blieben es oder wurden es. Das Kreuz ist das Zeichen der Solidarität Gottes in Christus mit ihnen, deren Letden ein Leiden ohne Ende ist. in Christi Ruf am Kreuz "Mem Gott, warum hast du mtch verlassen'?" (Mt 27,46) nimmt er den Elendsruf derer auf, solidarisiert stch mit ihnen und wird ihr Bruder, deren Leben auf die gottverlassenen Schädelställen geworfen sind. Christ• Platz 1st an ih- rer Sette und, tnsofern wir an ihn glauben und ihm nachfolgen, ist unser Platz an ihrer Seite, fern von den alten und neuen doctores und Doktri- nen.

Das geschichtliche Chnstentum hat in langen Teilen und weilen Breiten seiner Geschtchle die Heilung vom Bösen und vom mcht nur physischen Tod, sondern auch vom sozialen Mord, die doch m der Geschichte erlitten werden, ins Jensseils der Geschichte verschoben. Das Kreuz Chrisli aber, das doch in der "Mitte der Zeit" getragen und 1n der Geschichte erlitten worden 1st, errichtet von den religiösen und politischen Machthabern der Zeit, ist - mitten in der Geschichte - der Beginn einer neuen Geschichte.

Es ist die Geschtchte der Offenbarung des Lebens aus Gott, die Geschichte des Lebens aus Versöhnung, Vergebung, der Sünden, Rechtfertigung der Gedemütigten, Entmachtung des Todes, der Befreiung des Lebens zu Frei- heit, Frieden und Gerechtigkeit.

Christliche Theologte als Nachdenken des Glaubens über sich selbst, kann, verleugnet sie sich nicht selbst und wird zur religiös-politischen Weltanschauung, immer nur eine Theor>e des Kreuzes und eine Theologie unter dem Kreuz setn. Ist sie das tatsächlich, so wird sie stets eme Theologie der Befreiung sein. Denn um Befreiung und Erlösung geht es - um ntchts anderes.

Und Kirche, >n wtllcher Konfesston und geschichtlicher Gestalt sie auch immer erscheint, wird stets zu ihrem ureigensten Ort zurückgerufen wer- den und ihn hoffentlich auch finden: unter dem Kreuz Christi und an der Seite des Gedemütigten, wonn auch immer diese Demütigung bestehen soll- te. In der Solidantät mit Christus und mit denen, für die er in den Tod

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ging, um mit ihnen in einem neuen Leben zu wandeln, wird Kirche aus Glauben an Christus zur Befreiungskirche, "gesandt zu verkündigen den Armen das Evangelium, zu heilen die zerstoßenen Herzen, zu predigen den Gefangenen, daß sie los sein sollen, und den Blinden das Gesicht und den Unterdrückten, daß sie frei sein sollen, und zu verkündigen das an- genehme Jahr des Herrn." (Jes 61, 1)

So ist jetzt also die Frage, ob die Kirche, respektive die Kirchen, dies vermögen. Aus eigenem Vermögen gewiß nicht, denn die Kirche ist nicht aus sich selber, sondern die Kirche ist aus dem Geist des dreieinen Got- tes, der sie schafft, und aus dem Evangelium, das nicht ihre Schöpfung ist.

Doch diese Kirche finden wir nur vor in geschichtlich gewordenen Kir- chen, die allesamt - ob klein, groß oder Weltkirche - konfessionelle Kir- chen sind, auch mit je eigenen hierarchischen, presbylerial-synodalen oder sonstigen Organisationsformen, Staatskirchen, Volkskirchen, Freiwil- ligkeilskirchen, alle mitgeprägt von ihrer bisherigen Geschichte, auch von ihrem jeweiligen Anspruch.

So ist also die Frage, ob diese unsere Kirchen, die wir real haben, Befreiungskirchen im genannten Sinne sind, werden können. Meine These ist: Sie können es, aber nur, wenn eine Theologie der Befreiung in ihnen Raum gewinnt: in ihrem theologischen Nachdenken, in ihrer Liturgie und Organisation, in ihrer Verkündigung, Lehre und Praxis. Also wenn sie die Befreiung von Menschen aus ihren Gebundenheilen zum Thema ihrer Theologie, Verkündigung, Lehre und Praxis, Organisation und Liturgie machen. Und das wieder hängt davon ab, ob sie sich selber aus ihren historischen, dogmatischen, organisatorischen, weltanschaulichen und ge- sellschaftlichen Gebundenheilen von Christus befreien lassen.

Wir sprachen von der Versöhnung Gottes in Christus mit der Welt und von der billenden Einladung zur Versöhnung mit Gott. Wer sonst sollte als er- ster diese Einladung ernst- und immer wieder neu wahrnehmen als die Kirchen selbst und für sich selber. Auch die Kirchen brauchen die Ver- söhnung mit Gott, brauchen die Anerkennung, daß Gott Gott ist und Gott allein Gott ist, niemand und nichts sonst, auch die Kirchen sind nicht Gott - keine und alle gemeinsam nicht. Auch die Kirchen brauchen die Versöhnung mit Christus, also die Anerkennung, daß Christus der Christus ist, er allein, niemand und nichts sonst. Oie Kirche ist nicht Gott und die Kirche ist nicht Christus. Dann allerdings wird sie von einer Angst befreit werden, die sie hindert, sich ganz zu öffnen und hinzugeben.

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11lhr sollt niemanden euren Vater heißen auf Erden11, sagt Christus, "denn einer ist euer Vater, der im Himmel." (Mt 23,9) Also sind alle patriar- chalen Formen, in denen Amtsträger oder Kirche den Menschen gegenüber erscheinen, nicht dem Evangelium gemäß.

Lassen sich die Kirchen mit Gott versöhnen, werden sie frei, anzuerken- nen und darauf zu vertrauen, daß allein Gott, Gott und allein Christus der Christus ist. Dann werden sie auch befreit von der Angst, daß, wenn sie die Welt und die Menschen nicht retten, niemand die Welt und die Menschen rettet. Versöhnt mit Gottes alleinigem Gottsein und in der Ge- wißheit des Heils in Christus werden alle Kirchen frei von ihrer Einbil- dung, eine Vaterrolle den Menschen und der Welt gegenüber spielen zu müssen, und je mehr sie diese Freiheit gewinnen, werden sie auch ihre Patriarchatismen ablegen, die sie ganz oder teilweise immer noch haben und mit denen sie das Volk im Stand des unmündigen, unselbständigen, zu leitenden, zu erziehenden Volkes halten.

11lhr sollt euch nicht Rabbi nennen lassen", sagt Christus, "denn einer ist euer Meister, ihr aber seid alle Brüder." (Mt 23,8)

Lassen sich die Kirchen mit Gott versöhnen und gewinnen das Vertrauen, daß einer allein Gott und einer allein Christus ist, werden sie frei, sich nicht über das Kirchenvolk und die Menschen zu stellen als Rabbi oder Lehrer, der weiß, was Gottes ist und ihnen gut tut, oder als Meister, der Welt und Leben schon gemeistert hätte. Sie werden frei von der Rolle des Rabbi, Meisters und Lehrers und öffnen sich der Bruder- und Schwestern- schaft aller, in der keiner über dem anderen ist, denn einer ist dem an- deren Bruder und Schwester, anerkennt 1 ihn als Bruder oder Schwester Christi, st~:ht Gott nicht näher als er oder sie und diese sind darum in gleicherweise wahrzunehmen und zu hören.

Wenn darum in irgendeiner Ecke der Welt, wo die Kirche Staatskirche ist, oder in Rußland, wo viele engagierte Christen zu den Dissidenten gehören und im Untergrund leben müssen, im Bezirk einer Österreichischen Stadt oder eines Bundeslandes, in Amsterdam oder Riesi, in einem Viertel New Yorks, in den Favellas und unter Landarbeitern Lateinamerikas, unter Schwarzen Südafrikas oder in Ghana, in Japan oder Korea oder sonstwo in den asiatischen Räumen in oder abseits der Staatskirche, Volkskirche, Ge- sellschaftskirche, Weltkirche, Konfessionskirche, eine Gemeinschaft von Menschen entsteht - mal wenige, mal viele -, in deren Mitte das Wort vom Evangelium im Kreuz Christi laut wird und die von der Eucharistie, der Gegenwart Christi im Sakrament, ihre Kraft speist und zusammengehalten

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wird, Menschen, die angefangen haben, ihr eigenes Leben, das ihrer Mit- menschen und ihre Umwelt im Licht eines Evangeliums zu verstehen und zu deuten und dies setzt sich um in die Sorge um Kranke, um ellernlose Kmder, zukunftslose Jugendilche, arbeits- und einkommenslose Männer oder Frauen, um verfolgte Schriftsteller, um die Alphabelisierung latein- amerikanischer Landarbeiter, in den Befreiungskampf eines Volkes oder einer Rasse, in die Teilhabe am Ringen von Menschen um Gerechtigkeit, Freiheil und Würde in der Glaubensbewegung, in der Menschenrechtsbewe- gung, in der Friedensbewegung, in der Frauenbewegung, im Kampf gegen Rassismus und Apartheid - wo auch immer dies geschieht, ist dies eine Inkarnation von Gottes Kirche.

An vielen Stellen der Erde entstehen heute solche Gemeinschaften von Christen, die - weltlich, geschichtlich gesehen - zum Subjekt ihrer Ge- schichte als Chnsten werden. Ob es nun Gruppen sind oder "das Volk", es gibt keinen Grund, in ihnen nicht die Kirche zu sehen. Und es gibt keinen Grund, dann, wenn das "Volk", das bislang immer nur Objekt der religiösen Hoheiten und politischen, wirtschaftlichen Herren und Mächte gewesen ist, aufwacht und aufsteht, um zum Subjekt seiner Geschichte zu werden, und Chnsten, Priester, Pfarrer, auch einige Bischöfe, Diözesen, etablierte Kirchengemeinden und neue helfen ihm dabei, in einem solchen Vorgang nur ein Politikum, nicht aber eine Inkarnation der Kirche Gottes in die Geschichte eines Volkes zu sehen.

Ökumene bedeutet heute nicht nur, daß die großen Kirchen mehr zueinan- der finden sollen. Ökumene bedeutet heute in einem immer stärker werden- den Ausmaß: das Wahr- und Ernstnehmen von Christen und Bewegungen, die in der Nachfolge Jesu den Armen das Evangelium bringen, den Gede- mütigten Würde, den Gefangenen und Unterdrückten Freiheit, und die so in ihrer realen gesellschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Umwelt zu Bolschaftern der Versöhnung an Christi Stall werden.

Die Frage der Ökumene ist damit in einer noch sehr viel schärferen Weise gestellt als bisher. Denn nun gehl es nicht mehr "nur" darum, daß die etablierten Kirchen zur Versöhnung untereinander kommen, zur Gemein- schaft in Lehre und Eucharistie, Amt und Zeugnis, sondern jetzt gehl es vermehrt auch darum, ob die vorhandenen Kirchen diesen Christen und Bewegungen die Treue hallen, sie stützen und fördern, ihnen gegenüber nicht als Rabbi, Meister, Vater, Richter oder Lehrer auftreten, sondern mit ihnen die Bruderschaft Jesu vollziehen. Und das heißt dann auch: von ihnen lernen, Fragestellungen, die sich ihrem Christsein in ihrem gesell-

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schaftliehen, politischen, sozialen und kulturellen Lebenskontext stellen, ernstnehmen - Lateinamerika, Afrika, Asien sind nicht Europa - und ihre Last mittragen, denn "leidet ein Glied" im Leib Christi, "so leiden alle Glieder mit" ( 1 Kor 12, 26) und "einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen". (Gal 6, 2)

Wie nimmt die Kirche, wie nehmen wir die von Christus für alle Menschen und die Schöpfung erworbene Freiheit wahr? Durch ganz konkrete Schritte und Akte der Befreiung. Und nun tut sich uns das ganze weite Feld der Unfreiheilen auf unserer Erde auf. Die Unfreiheilen derer, die in Hunger, sozialem Elend, Armut, Rechtlosigkeit gehalten sind. Die Unfreiheilen je- ner, für die Leben nur eine Strafe und diese Welt nur und schon die Höl- le ist. Die Unfreiheilen derer, die aus Gründen ihres Glaubens und ihrer Überzeugung, ihres Redens oder Schreibens, ihres Zeugnisses oder Engage- ments verfolgt werden. Die Unfreiheilen derer, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit. Aber ebenso die Unfreiheilen jener, die ihren Besitz und ihre Macht anbeten und diesem ihrem "Gott" Menschen massenweise opfern. Mithin also die Fülle der Unfreiheiten des Menschen, die es nötig gemacht haben, daß wir eine lange Liste der individuellen und sozialen

"Freiheiten11 entwickelt haben, die individuellen und sozialen Menschen- rechte. Die Menschenrechte hängen sehr eng mit dem zusammen, was Chri- sten für sich und andere und die ganze Völkerwelt und Schöpfung glau- ben.

Die Ökumene der Unfreiheilen auf der Erde ist das Feld, auf das die Ökumene der Kirche Jesu Christi in allen ihren Ausgestaltungen und die Christen gesandt sind, den Armen das Eyangelium zu verkünden, die zer- stoßenen Herzen zu heilen, den Blinden die Augen zu öffnen, den Gefange- nen zu verkünden, daß sie los sein sollen, den Unterdrückten, daß sie frei sein sollen, und zu verkündigen das angenehme Jahr des Herrn, den Tag der Versöhnung und Befreiung. Glaubwürdig würde die Kirche und Christen dies tun, wenn sie es nicht nur verkündigen sondern auch le- ben.

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