Andreas Wilink
Die Forderung des Absoluten
Einar Schleefs Salome in Düsseldorf Résumé
Riassunto Abstract
253 – 257
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Ursina Lardi in Salome von Oscar Wilde / Einar Schleef, Düsseldorfer Schauspielhaus, Juni 1997. Adaption, Regie, Bühne und Kostüme: Einar Schleef Foto: © Sonja Rothweiler
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Einar Schleef ’s version of Salome, freely adapted from Oscar Wilde’s drama, which premiered in June 1997 at the Düsseldorfer Schauspielhaus, started with a panoramic still life of the actors.
Even in this thirteen-minute prologue, which overrode the dyna- mic of the drama and hinted at a ritual, there was a provocation.
Einar Schleef radically appropriated Wilde’s text, ripping the work out of its framework of decadence and staging it as an uproarious passion play. The start was like a Big Bang. Ursina Lardi herself speaks of an “explosion, an earthquake after a disastrous first year”. She played the object of hate for the men – whether Herod or Jokanaan – as a broken, incendiary innocent. Salome’s desire culminates in the insight that “the mystery of love is greater than the mystery of death.” Her demand is absolute, and stands out side state order. The way Ursina Lardi filled the essence of her charac- ter, remains in retrospect truly astounding.
Abstract
Une nature morte panoramique avec personnages : c’est ainsi que s’ouvre la mise en scène de Salomé d’Einar Schleef, d’après Oscar Wilde, créée en juin 1997 au Schauspielhaus de Düsseldorf. Ce prologue de treize minutes, qui suspend la dynamique du drame et donne l’idée d’un rituel, est déjà une provocation en soi. Einar Schleef s’approprie le texte d’Oscar Wilde de façon radicale. Il l’enlève du contexte de la Décadence, le met en scène comme un Jeu de la Passion rugissant et déclenche une déflagration. Ursina Lardi elle-même parle d’« explosion, de tremblement de terre après une désastreuse année de débutante. » Dans le rôle de Salomé, elle incarne une innocente brisée, incendiaire – détestée par les hommes, que ce fut Hérode ou Jochanaan. Le désir de Salomé se cristallise dans cette phrase : « Le mystère de l’amour est plus grand que le mystère de la mort. » Son exigence est absolue et échappe à tout ordre étatique. La manière dont Ursina Lardi in- terprète ce rôle ne cesse, même a posteriori, d’étonner.
Résumé
Una natura morta panoramica con personaggi: inizia così la Salomè di Einar Schleef, liberamente tratta dalla pièce di Oscar Wilde e presentata in prima mondiale nel giugno del 1997 allo Schauspielhaus di Düsseldorf. Questo prologo di tredici minuti, che sospende la dinamica del dramma e dà l’idea di un rituale, è già di per sé una provocazione. Einar Schleef si è appropriato il testo di Wilde in modo radicale, scardinandolo dal contesto della décadence e trasformandolo in un ruggente dramma della Passio- ne. L’approccio del regista ha la potenza deflagrante di un big bang; la stessa Ursina Lardi parla di un’«esplosione, un terremo- to dopo un disastroso anno d’esordio.» L’attrice incarna l’oggetto di odio degli uomini – di Erode o di Jochanaan – come un’innocen- te spezzata e ribelle. Il suo desiderio si cristallizza nella frase: «Il mistero dell’amore è più grande del mistero della morte.» La sua pretesa è assoluta, al di fuori dell’ordine costituito. Il modo in cui Ursina Lardi è riuscita a cogliere l’essenza di questo personaggio riempie ancora oggi di stupore.
Riassunto
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Andreas Wilink
Andreas Wilink
Die Forderung des Absoluten
Einar Schleefs Salome in Düsseldorf
Für Ursina Lardi wurde die Verkörperung der Titelrolle in Einar Schleefs Salome (frei nach Oscar Wilde), die am 21. Juni 1997 am Düsseldorfer Schauspielhaus Premiere fei- erte, zum Urknall ihrer Theaterarbeit.
Pause vor dem Passionsspiel
Nicht der Rest ist Stille, sondern der Anfang von allem ist es, zu dem es sich am Blut-Ende wieder rundet. Ein Ring- Schluss. Als würde in das dreizehnminütige Schweigen der Ouvertüre des Standbildes unhörbar der Es-Dur-Akkord von Wagners Rheingold hineinklingen. Mit einem Pan o- rama der handelnden Personen, das den gewohnten Zeit- lauf entmachtet, beginnt Schleefs Salome, das Ensemble versammelt, bis auf Herodes, der von seinem Platz hinter dem Parkett des Düsseldorfer Schauspielhauses die Huldi- gung entgegennimmt. Der riesige Raum wird längs durch- teilt von einem metallenen Steg, der die 60-Meter- Strecke von der Rückwand bis zur Stirnfront der Brandmauer zum Balance-Akt macht, zur Gratwanderung existenzieller Gefährdung.
Das Pausenzeichen des Prologs lässt die Katastro- phe erahnen: Weltenbrand im jüdischen Land, fundamen- taler Kampf der Weltanschauungen. In dieser Ruhezone, die für die Schauspielerinnen und Schauspieler in ihren Ro- ben eine meditative Konzentrationsübung darstellt, liegt Provoka tion: lyrisches Stillleben statt Dynamik des Dra- mas. Hinweis darauf, dass ein Ritual und Weihefestspiel
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gestiftet werden wird. Zeremonie vor dem Vollzug der bi- blischen Tragödie, wie sie Oscar Wilde in seinem gleich- namigen Einakter von 1891 1 erzählt, aber bedeutend mehr Einar Schleef, der sich den Text radikal angeeignet hat. Das Sprachkleid aus dem blumigen Stoff des Fin de Siècle zerteilt der Sprach-Neuschöpfer Schleef, als risse der Vorhang des Tempels in Jerusalem. Er stanzt das Stück in seine Form, schneidet Ranken des Jugendstils heraus, pflanzt Blumen des Bösen, die am verkommenen Ufer wachsen und die der Sturm der Geschichte knickt. Schleef schlägt das Dra- ma aus dem Rahmen der Décadence und installiert es als brüllendes Passionsspiel, näher an Heiner Müller als am Dichter des Dorian Gray. Bei Schleef ist bereits die Sprache wurmstichig, ein wüstes Feld, eine Kloake: «die Sonne ein schwarzer Sack.» 2
Ein Urknall
Man muss diesen unerhörten Zugriff so ausgiebig dar- stellen, um klarzumachen, was für eine Sonderheit dieser Theaterabend war. Ein Urknall, zumal für eine Beinahe - Debütantin. Lardi selbst spricht von «Explosion, von Erd- beben nach einem desaströsen Anfängerjahr.» 3 Während Herodes, Salomes Stiefvater, noch politisch korrekt im Wilde-Text befiehlt «Man töte dieses Weib» 4, heisst es bei Schleef hammerhart: «Hackt dieses Vieh in Stücke» 5. Das
«Vieh» aber ist wie eine Vestalin, keusch und zart. Bei Lardi indes eine eigenartig gebrochene, aufrührerische Unschuld.
Schleef konstruiert Antagonismen: Rom und Judäa, das Christliche und das Heidnische, Patriarchat und Ma- triarchat, Staat und Sexus, Himmelsmacht und Totenreich, anarchischer Freiheitsanspruch und faschistoide Ordnung, Lusthölle und Golgatha, sakraler Kult und profanes Enter-
1 Deutschsprachige Erstausgabe: Oscar Wilde, Salome. Tragödie in einem Aufzug, Deutsch von Hedwig Lachmann, mit Zeichnungen von Aubrey Beardsley. In: Wiener Rundschau, 4 / 1900, S. 189 – 212.
2 Alle Zitate aus dem Theaterstück sind dieser Textvorlage entnommen: Einar Schleef, Salome, Frankfurt am Main: Suhrkamp / Theater Verlag 1997. (Der Text ist nicht als Buchausgabe vorhanden, kann aber beim Verlag angefordert werden).
3 Aus dem Interview des Autors mit Ursina Lardi, Berlin, 08.05.2017 (unveröffentlicht).
4 Oscar Wilde, Salome. Tragödie in einem Akt. Übertragen von Hedwig Lachmann. Zum ersten Mal mit sämtlichen Illustrationen von Aubrey Beardsley in Originalzustand. Frankfurt am Main: Insel-Verlag 2016 (21. Auflage; erste Auflage 1919), S. 61.
5 Aus Einar Schleef, Salome, a. a. O.
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Die Forderung des Absoluten
gestiftet werden wird. Zeremonie vor dem Vollzug der bi- blischen Tragödie, wie sie Oscar Wilde in seinem gleich- namigen Einakter von 1891 1 erzählt, aber bedeutend mehr Einar Schleef, der sich den Text radikal angeeignet hat. Das Sprachkleid aus dem blumigen Stoff des Fin de Siècle zerteilt der Sprach-Neuschöpfer Schleef, als risse der Vorhang des Tempels in Jerusalem. Er stanzt das Stück in seine Form, schneidet Ranken des Jugendstils heraus, pflanzt Blumen des Bösen, die am verkommenen Ufer wachsen und die der Sturm der Geschichte knickt. Schleef schlägt das Dra- ma aus dem Rahmen der Décadence und installiert es als brüllendes Passionsspiel, näher an Heiner Müller als am Dichter des Dorian Gray. Bei Schleef ist bereits die Sprache wurmstichig, ein wüstes Feld, eine Kloake: «die Sonne ein schwarzer Sack.» 2
Ein Urknall
Man muss diesen unerhörten Zugriff so ausgiebig dar- stellen, um klarzumachen, was für eine Sonderheit dieser Theaterabend war. Ein Urknall, zumal für eine Beinahe - Debütantin. Lardi selbst spricht von «Explosion, von Erd- beben nach einem desaströsen Anfängerjahr.» 3 Während Herodes, Salomes Stiefvater, noch politisch korrekt im Wilde-Text befiehlt «Man töte dieses Weib» 4, heisst es bei Schleef hammerhart: «Hackt dieses Vieh in Stücke» 5. Das
«Vieh» aber ist wie eine Vestalin, keusch und zart. Bei Lardi indes eine eigenartig gebrochene, aufrührerische Unschuld.
Schleef konstruiert Antagonismen: Rom und Judäa, das Christliche und das Heidnische, Patriarchat und Ma- triarchat, Staat und Sexus, Himmelsmacht und Totenreich, anarchischer Freiheitsanspruch und faschistoide Ordnung, Lusthölle und Golgatha, sakraler Kult und profanes Enter-
1 Deutschsprachige Erstausgabe: Oscar Wilde, Salome. Tragödie in einem Aufzug, Deutsch von Hedwig Lachmann, mit Zeichnungen von Aubrey Beardsley. In: Wiener Rundschau, 4 / 1900, S. 189 – 212.
2 Alle Zitate aus dem Theaterstück sind dieser Textvorlage entnommen: Einar Schleef, Salome, Frankfurt am Main: Suhrkamp / Theater Verlag 1997. (Der Text ist nicht als Buchausgabe vorhanden, kann aber beim Verlag angefordert werden).
3 Aus dem Interview des Autors mit Ursina Lardi, Berlin, 08.05.2017 (unveröffentlicht).
4 Oscar Wilde, Salome. Tragödie in einem Akt. Übertragen von Hedwig Lachmann. Zum ersten Mal mit sämtlichen Illustrationen von Aubrey Beardsley in Originalzustand. Frankfurt am Main: Insel-Verlag 2016 (21. Auflage; erste Auflage 1919), S. 61.
5 Aus Einar Schleef, Salome, a. a. O.
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tainment. Bei ihm muss Salome Freibeuterin sein – eine andere Seeräuber-Jenny, die den Kopf des Jochanaan rol- len lässt.6
Auf der Bühne blüht Lardi liliengleich bräutlich in ihrem das zarte Skelett wie auf einem Röntgenbild durch- scheinen lassenden Lichtgewand: «Eine Taube verirrt im Häuserschacht.» 7 In rasender Geschwindigkeit und ex- tremer Höhenlage spult diese Ekstatische, Ausserirdi- sche, Manische, Unzüchtige («Ich bin der Verrat. Ich bin der Ungehorsam.» 8) ihre Rede ab. Steiles Spiel im Pathos der Künstlichkeit. Klangerlebnis des in extreme Rhythmik und Modulation geschraubten Schleef-Sounds. Ihr Sehnen nach dem frommen Mann Johannes erfüllt sich mit seinem abgeschlagenen Haupt als Orgasmus-Gier in einem vam- piristischen Gebet. «Grösser als das Geheimnis Tod ist das Geheimnis Liebe» 9, verkündet Salome vor der Hinrichtung.
Ihre Forderung ist absolut, unkontrollierbar, ausserhalb der staatlichen Volksfürsorge. Die Schande lässt sich nur aus- merzen. Es geht aufs Ganze. Oder wie der Titel eines Prosa- textes von Samuel Beckett zum Ausdruck bringt: Worstward Ho (1983) – Aufs Schlimmste zu 10.
Opfer des Triebs und des Triebverzichts
Eine «Sauerei», sagt Schleef, sei seine Salome.11 Er setzt das Dogma der Familien-Katastrophe und einer ideologischen Krise, in der die christliche Leitkultur – trotz des erschlage- nen Hungerleider-Propheten – bitter triumphiert. Er evoziert ein Begehren, das sich um Moral und faule Ordnung nicht schert. Aber in der Unerreichbarkeit des Anspruchs unbefrie- digt bleibt. «Ich will Liebe, nicht Ehe» 12, revoltiert Salome.
So wird sie zum «Monstrum als Ernstfall der Humanität» 13.
6 In der Ballade der Seeräuber-Jenny aus Bertolt Brechts Dreigroschenoper (1928) heisst es: «Und wenn dann der Kopf fällt, sag ich ‹Hoppla!›» (hier zitiert aus: ders. , Werke, Bd. 1, Stücke I. , hrsg. von Werner Mittenzwei und Fritz Hofmann. Berlin; Weimar: Aufbau 1973, S. 63.)
7 Einar Schleef, Salome, a. a. O.
8 Ebd.
9 Ebd.
10 Samuel Beckett, Worstward Ho (New York: Grove Press 1983 [first edition]);
erste zweisprachige Ausgabe Englisch / Deutsch: ders. Worstwart Ho. Aufs Schlimmste zu. Aus dem Englischen von Erika Tophoven-Schöningh. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989.
11 Hier zitiert aus dem Gespräch des Autors mit Einar Schleef, Wien, 10.06.1999 (unveröffentlicht).
12 Einar Schleef, Salome, a. a. O.
13 Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer prägte diesen Begriff durch sein
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tainment. Bei ihm muss Salome Freibeuterin sein – eine andere Seeräuber-Jenny, die den Kopf des Jochanaan rol- len lässt.6
Auf der Bühne blüht Lardi liliengleich bräutlich in ihrem das zarte Skelett wie auf einem Röntgenbild durch- scheinen lassenden Lichtgewand: «Eine Taube verirrt im Häuserschacht.» 7 In rasender Geschwindigkeit und ex- tremer Höhenlage spult diese Ekstatische, Ausserirdi- sche, Manische, Unzüchtige («Ich bin der Verrat. Ich bin der Ungehorsam.» 8) ihre Rede ab. Steiles Spiel im Pathos der Künstlichkeit. Klangerlebnis des in extreme Rhythmik und Modulation geschraubten Schleef-Sounds. Ihr Sehnen nach dem frommen Mann Johannes erfüllt sich mit seinem abgeschlagenen Haupt als Orgasmus-Gier in einem vam- piristischen Gebet. «Grösser als das Geheimnis Tod ist das Geheimnis Liebe» 9, verkündet Salome vor der Hinrichtung.
Ihre Forderung ist absolut, unkontrollierbar, ausserhalb der staatlichen Volksfürsorge. Die Schande lässt sich nur aus- merzen. Es geht aufs Ganze. Oder wie der Titel eines Prosa- textes von Samuel Beckett zum Ausdruck bringt: Worstward Ho (1983) – Aufs Schlimmste zu 10.
Opfer des Triebs und des Triebverzichts
Eine «Sauerei», sagt Schleef, sei seine Salome.11 Er setzt das Dogma der Familien-Katastrophe und einer ideologischen Krise, in der die christliche Leitkultur – trotz des erschlage- nen Hungerleider-Propheten – bitter triumphiert. Er evoziert ein Begehren, das sich um Moral und faule Ordnung nicht schert. Aber in der Unerreichbarkeit des Anspruchs unbefrie- digt bleibt. «Ich will Liebe, nicht Ehe» 12, revoltiert Salome.
So wird sie zum «Monstrum als Ernstfall der Humanität» 13.
6 In der Ballade der Seeräuber-Jenny aus Bertolt Brechts Dreigroschenoper (1928) heisst es: «Und wenn dann der Kopf fällt, sag ich ‹Hoppla!›» (hier zitiert aus: ders. , Werke, Bd. 1, Stücke I. , hrsg. von Werner Mittenzwei und Fritz Hofmann. Berlin; Weimar: Aufbau 1973, S. 63.)
7 Einar Schleef, Salome, a. a. O.
8 Ebd.
9 Ebd.
10 Samuel Beckett, Worstward Ho (New York: Grove Press 1983 [first edition]);
erste zweisprachige Ausgabe Englisch / Deutsch: ders. Worstwart Ho. Aufs Schlimmste zu. Aus dem Englischen von Erika Tophoven-Schöningh. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989.
11 Hier zitiert aus dem Gespräch des Autors mit Einar Schleef, Wien, 10.06.1999 (unveröffentlicht).
12 Einar Schleef, Salome, a. a. O.
13 Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer prägte diesen Begriff durch sein
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Dass und wie Ursina Lardi das Wesen dieser Figur erfüllte, lässt im Rückblick immer noch staunen. Als habe sie sich in einem Tabernakel verschlossen. Unberührbar. Schleef wollte, erinnert sie sich, «dass ich alleine war, nach den Pro- ben hat er mich nach Hause geschickt.» 14 Sie beide hätten nicht viel geredet, sich in einem ambivalenten Zustand von Distanz und Nähe befunden: «Es war rein instinktiv, war einfach so da. Wie gegenseitige Scheu zum Schutz dieser Rolle.» 15 Die muterprobte Erfahrung, eine Kunst- und Ge- genwelt radikal zu behaupten, wird für Lardi bestimmend bleiben.
«Die Frau friert in der Ausstossung, krümmt sich, empfindet körperlichen Schmerz, sie kann ihn nicht beruhi- gen, sondern mit der Erkenntnis wächst der Schmerz, die Un- möglichkeit, den immer noch blutenden Riss zu korrigieren.
Im Fieber spürt sie ein Gift, spürt, wie sich die Wunde ent- zündet. Bis der Faden reisst, Panik ausbricht.» 16 So schreibt Schleef in seinem Mammut-Essay Droge Faust Parsifal. So zeigt Lardi die Salome. Ihr Monolog auf abgedunkelter Szene zur Intensivierung des Augenblicks vollzieht sich in Nachfolge von Isoldes Liebestod. Vielleicht mehr noch in einer Logik der besiegten Kundry: «In einer Zeit, die männ- lichen Triumph feiert, gelingt es einer weiblichen Figur nicht mehr, im Zentrum Fuss zu fassen.» 17 Das Tri ptychon der Ab- schlachtung im Finale bilden: die Prinzessin, kopfüber am Strick baumelnd, nicht zu Kreuze gekrochen, sondern eine widerständige Maria Magdalena; daneben der in sie unselig verliebte «Matrose im Totenschiff» Narraboth, der mit der Golgatha-Arie aus Bachs Matthäus-Passion als Märtyrer der Liebe ins Messer läuft; sowie der gestrenge Prophet (gespielt von Robert Beyer), zuvor an die Brandmauer gebunden, ge- streckt wie der Mensch im Idealmass des Leonardo da Vinci, ein Asket im Kreuzzeichen des von ihm getauften Jesu, als dessen Vorläufer er sich begreift.
Salomes Solo bis zum Verstummen hebt das Gewalt- tätige auf in der weltlosen Totalität des Gefühls. Alle sind Opfer des Triebs – und des Triebverzichts, Herodes (Helmut Mooshammer) in seiner Sexualangst, Herodias (Bibiana Beglau hochfahrend als schillerndes, rabiat-frustriertes
Essay Aussenseiter. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975.
14 Aus dem Interview des Autors mit Ursina Lardi, a. a. O.
15 Ebd.
16 Einar Schleef, Droge Faust Parsifal. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 13.
17 Ebd. , S. 155.
Die Forderung des Absoluten
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Andreas Wilink
Reptil) und Salome. Eros schlägt Wunden. Schleefs wuch- tige Reaktion ist Wut, Trauer, Schmerz. Das war kein sym- bolisches Theater, sondern offensives und doch graziöses Sein. Die Verweigerung von Deutung und einer metapho- rischen Absicht macht Schleefs Salome mythisch gross. Je- dem, der dabei war, hat es sich tief eingeschrieben. In atem- losen neunzig Minuten wurde das Atmen neu gelernt.
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