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Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938

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Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938

A k kultur ation – A ntisemitismus – Zionismus

Böhlau Verlag Wien · Köln · Weimar

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Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung

Universität Wien, Historisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät

Indices: Rosemarie Burgstaller, Sabine Fuchs Lektorat: Barbara Eichinger

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek :

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http ://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-205-78317-6

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Daten-

verarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten.

© 2009 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co.KG, Wien · Köln · Weimar http ://www.boehlau.at

http ://www.boehlau.de

Umschlaggestaltung: Judith Mullan

Umschlagabbildung: Heinrich Sussmann, Moses und Aaron (© Heinrich Sussmann Stiftung, Wien) Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier.

Druck : Druckallianz s.r.o., 60200 Brünn

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Wien bedeutet haben und bedeuten, und so die Besonderheit dieses Stückes Wien und dieses Stückes westeuropäischer Judenheit zu verdeutlichen.

(Hans Tietze, 1933)

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Georg Winckler, Rektor der Universität Wien

Vorwort . . . xi Frank Stern · Barbara Eichinger

Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 . . . . xiii Steven Beller

Was nicht im Baedeker steht

Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit . . . 1 Eleonore Lappin

Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit . . . .   17 Albert Lichtblau

Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte . . . .   39 Murray G. Hall

„Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand . . . .   59 Gabriele Anderl

Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich

nach Palästina in der Zwischenkriegszeit . . . .   71 Dieter Hecht

Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt

Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 . . . .   99 Marcus G. Patka

Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der

Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei . . . . 115

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Evelyn Adunka

Tempel, Bethäuser und Rabbiner . . . . 131 Peter Landesmann

Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert . . . 143 Klaus S. Davidowicz

Martin Bubers Weg zum Chassidismus . . . . 155 Armin Eidherr

Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen

in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus . . . . 175 Karin Wagner

„Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne . . . . . 197 Sander L. Gilman

Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ . . . . 217 Karin Stögner

Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle . . . . 229 Michaela Raggam-Blesch

„Being different where being different was definitely not good“

Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien . . . . 257 Elisabeth Malleier

„Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“

Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und

in internationalen Frauenbewegungsorganisationen . . . . 277 Harriet Pass Freidenreich

Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna . . . . 297 Michael Laurence Miller

From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria . . 307

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Hanno Loewy

Vom Schielen der Sinne.

Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen . . . . 325 Elisabeth Brainin · Samy Teicher

Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der

Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren . . . . 343 Sandra Goldstein

David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis . . . . 355 Bettina Riedmann

Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität . . . . 369 Wolfgang Müller-Funk

Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation

Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern . . . . 385 Klaus Hödl

Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz

zur Erforschung jüdischer Geschichte . . . . 399 Siegfried Mattl

Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt . . . . 419 Brigitte Dalinger

„Schund“, „Jargon“ und schöner Schein

Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater . . . . 427 Birgit Peter

Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber . . . . 439 Werner Hanak

Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer

Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York . . . . 463 Peter Dusek

Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung . . . . 483

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Personenregister . . . . 491 Sachregister . . . . 503 Biografien . . . . 519 Bildtafeln zu Armin Berg nach Seite 426.

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Vorwort

Die Universität Wien begrüßt und unterstützt die Publikation „Wien und die jüdi- sche Erfahrung 1900–1938. Akkulturation, Antisemitismus, Zionismus“. Insbeson- dere Prof. Frank Stern, aber auch den anderen Mitwirkenden ist zu danken, dass sie die Mühe der Organisation und der inhaltlichen Gestaltung übernommen haben.

Das Thema „Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938“ ist nicht nur von wis- senschaftlichem Interesse. Für die Universität Wien heißt dies ebenso, sich an ihre eigene große Zeit am Anfang des 20. Jahrhunderts erinnern zu können. Allerdings deutet das Jahr 1938 darauf hin, dass die Universität schuldhaft in die Vertreibung vieler jüdischer WissenschaftlerInnen 1938 verstrickt war.

Aus erster Hand bekam ich in den Sechzigerjahren als Student der Princeton Uni- versity/usa von Persönlichkeiten wie Fritz Machlup vermittelt, wie unmenschlich die Bedingungen der Vertreibung zur Nazi-Zeit waren. Trotz dieser Widrigkeiten und trotz der vielen Nazi-Gräuel blieben viele der Vertriebenen der Wiener Kultur eng verbunden. Sie blieben in einer Weise wienerisch, wie ich dies in Wien kaum mehr antreffen konnte.

Die Universität Wien hat vor und nach 1945 viel Schuld auf sich geladen. Vor 1945 wirkte sie an der Vertreibung mit, nach 1945 unterließ sie es häufig und durch lange Zeit, diese Mitwirkung einzubekennen. Auch unternahm sie viel zu wenig, um die Vertriebenen für eine Tätigkeit an der Universität wiederzugewinnen. Dabei wäre es ihre Aufgabe gewesen – ohne Rücksicht auf Interessen –, die historische Wahrheit zu suchen, ihre Schuld anzuerkennen und durch Rückberufungen an die „große“ Zeit vor 1938 anzuknüpfen.

Die Universität Wien hat, insbesondere in den letzten Jahren, wiederholt Projekte initiiert und unterstützt, die sich mit der Geschichte der Universität auseinander- setzen. Ziel der Universität Wien ist es, damit das Bewusstsein eines großen For- schungsbedarfs betreffend der Rolle der Wissenschaften in der ns-Zeit zu schaffen.

Die Ergebnisse dieser Forschungsprojekte sind selbstverständlich in der Öffentlich- keit bekannt zu machen. Mehr als sechzig Jahre nach dem Ende des Nationalsozialis- mus sind die Beteiligungen der Universität Wien und ihrer WissenschaflerInnen an den ns-Verbrechen noch immer nicht in ihrem ganzen Ausmaß erforscht, obwohl

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sich die Universität und die Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten verstärkt um Aufklärung bemühten.

Mit der vorliegenden Publikation wird die wissenschaftliche Aufarbeitung dieser Zeit um einen wesentlichen Beitrag reicher. Möge dieser Band dazu beitragen, die Größe der Wiener Jüdischen Kultur vor 1938 zu beleuchten und damit die Tragweite ihres Verlustes begreifbar zu machen.

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Einleitung

Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938

Das Jahr ist […] 1919 – und die Stadt ist Wien, und das Land ist – sagen wir: Don-Quijoten-Land, und die Zeit ist voller Illusionen, Phantasien, Träume.“

Der vorliegende Band Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938. Akkulturation, Anti- semitismus, Zionismus verhandelt in seiner Themenstellung Fragestellungen, Forschungen, individuelle Erinnerungen, literarische, filmische und andere künstlerische Darstellun- gen und Debatten, in denen sich die gesellschaftlichen Umbrüche und ihre Reflexion in den Jahren 1900–1938 widerspiegeln, wobei der Zwischenkriegszeit besonderes Interesse gilt. Was war die Bedeutung dieser Jahrzehnte für die Wiener jüdische Erfahrung jenseits von Illusionen, Phantasien, Träumen ? Welche gesellschaftlichen, politischen, kulturellen, wissenschaftlichen, religiösen Erfahrungen kennzeichnen diese Periode ? Welche Bezie- hungen und Widersprüche erfährt das historische Dreieck von Akkulturation, Antise- mitismus und Zionismus ? Die folgenden Beiträge versuchen aus einer interdisziplinären Perspektive darauf Antwort zu geben. Sie basieren auf vielschichtigen und kontrover- sen Diskussionen, mit denen im März 2007 auf der Konferenz „Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938. Akkulturation, Antisemitismus, Zionismus“ an der Universität Wien eine Initialzündung für das vorliegende Projekt gegeben wurde.

Melech Rawitsch: Das Geschichtenbuch meines Lebens, Übersetzung und Nachwort von Armin Eidherr, Salzburg, Wien: Müller 1996, S. 171.

Vgl. übergreifend zur österreichisch-jüdischen Geschichte u. a.: Eveline Brugger, Martha Keil, Albert Lichtblau, Christoph Lind, Barbara Staudinger : Österreichische Geschichte. Geschichte der Juden in Öster- reich, Wien : Ueberreuter 2006 ; Steven Beller : Geschichte Österreichs, Wien : Böhlau 2007 ; David Biale (Hg.) : Cultures of the Jews. Vol. 3 : Modern Encounters, New York : Schocken 2002 ; Sander L. Gilman, Jack Zipes (Hg.) : Yale Companion to Jewish Writing and Thought in German Culture, 1096–1996, New Haven : Yale University Press 1997 ; Erika Weinzierl, Kurt Skalnik (Hg.) : Österreich 1918–1938. Bd. 1, Bd. 2, Geschichte der Ersten Republik, Graz, Wien : Styria 1983.

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Der kulturgeschichtliche Rahmen 1900–1938 wurde gewählt, um über die bis- herigen Darstellungen des fruchtbaren Fin de Siècle hinaus die kulturellen, gesell- schaftlichen, politischen und vor allem auch antisemitischen Verflechtungen und ihre unterschiedliche, langsame Manifestation in der Gesellschaft – vor allem durch die Verbreitung von geflügelten antisemitistischen Botschaften der Printmedien damali- ger Zeit – und dann im Austrofaschismus auch wieder vehement in der Politik – zu betonen und zu diskutieren. Die Wiener jüdische Erfahrung hat ihre Vorläufer weit zurück in der Geschichte Wiens – erinnert sei an die Ausweisung der Juden im Jahr 1670/71 und die jahrhundertealte jüdische Geschichte der Leopoldstadt, die auch akkulturierte Juden als das ihnen zugeschriebene Viertel, heute, siebzig Jahre nach dem „Anschluss“ als die beinah schon romantisierte „Mazzesinsel“ kennen und kann- ten. Von der Begründung der zionistischen Bewegung, die von Wien ausging und in Theodor Herzl ihren vehementesten Vertreter fand, bis zur Vertreibung der Wiener Juden schließt sich ein Kreis der nationalen und ethnischen Debatten, von Distanz und Nähe.

Selbst wenn man sich nicht als Jude, sondern als Wiener fühlte, bzw. wenn man gar nicht über seine „Zugehörigkeit“ nachdachte, – die Konfrontation mit dem Jüdisch- sein war keineswegs etwas, das 1938 gar plötzlich über die österreichischen Juden und Jüdinnen hereinbrach – ganz im Gegenteil. Antisemitischer Wortschatz gehörte in Wien spätestens mit der Jahrhundertwende zum „offiziellen“ Ton. Zu den berühm- testen Beispielen einer sich damals entwickelnden dunklen Ahnung von in naher Zukunft gelegenen, unvorstellbaren Verbrechen, die nicht nur über Wien, sondern über Europa lag, gehört Hugo Bettauers Roman Die Stadt ohne Juden von 1922, der 1924 unter dem gleichnamigen Titel und mit Hans Moser in der Hauptrolle verfilmt wurde. Während der Kinovorführungen kam es bereits in den 20er Jahren zu Aus- schreitungen und Protestaktionen von Hakenkreuzlern.

Eines der wohl weltweit meistgelesenen Bücher, das das facettenreiche Wien der Jahrhundertwende beschreibt, ist Stefan Zweigs Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Diese von Zweig im Exil entstandene und 1944 posthum veröffent- lichte Autobiografie verklärt rückblickend aber auch die Widersprüchlichkeit in den

Vgl. im kulturgeschichtlichen Kontext : Jüdisches Museum der Stadt Wien (Hg.) : Die Macht der Bilder.

Antisemitische Vorurteile und Mythen, Wien : Picus Vlg. 1995.

Ruth Beckermann (Hg.) : Die Mazzesinsel. Juden in der Wiener Leopoldstadt 1918–1938, Wien : Löcker 1984.

Vgl. Mark H. Gelber, Vivian Liska (Hg.) : Theodor Herzl : From Europe to Zion, Tübingen : Niemeyer 2007.

Guntram Geser, Armin Loacker (Hg.) : Die Stadt ohne Juden, Filmarchiv Austria. Edition Film und Text 3, Wien : Filmarchiv Austria 2000.

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Krisenjahren nach 1918, die in den Werken und privaten Aufzeichnungen anderer SchriftstellerInnen und KünstlerInnen – verfasst in dieser Zeit – zu finden sind. Fin de Siècle ist heute ein Synonym für die multikulturelle Blütezeit Wiens. „Die treibende Kraft hinter dieser Verknotung der mitteleuropäischen Moderne“, betont Steven Beller,

„war die jüdische Bourgeoisie“. In ihren Milieus fanden sich die psychoanalytischen Debatten von Sigmund Freud und Alfred Adler, die Werke des Hebräisch schreibenden Wiener Autors David Vogel, Joseph Roths schmerzvolle Auseinandersetzung mit seiner ostjüdischen Herkunft und dem untergegangenen „Kakanien“, aber auch Karl Kraus’, Otto Weiningers oder Joseph Popper-Lynkeus’ kritischer Modernismus etc.

Nach dem Ersten Weltkrieg bewahrte der Ungar Béla Balázs mit seinen Filmkri- tiken im Wiener Morgenblatt die ironisch-verträumte Sprache der k.u.k. Monarchie, und Felix Salten schrieb sein Bambi, das im Film bis heute weiterlebt. Hermann Leopoldis Wienerlieder tragen immer noch zur Charakterisierung der Stadt als me- lancholisch-musikalische „Frau Wien“ bei, und Adolf von Sonnenthal stand zu Leb- zeiten mit „Vorbildlicher Wiener Eleganz“0 auf allen internationalen Bühnen und jonglierte imposant mit den Projektionen auf seine Person – Jude ? Wiener ? Aristo- krat ? Armin Berg und Gisela Werbezirk spielten Theater und Kabarett auf den damals zahlreichen Wiener Kleinkunstbühnen – auch in der Vorstadt –, die das Jiddische Theater, nicht nur in New York, beeinflussten. Anfang der 20er Jahre produzierte der Filmregisseur S. M. Goldin mit seinem aus den USA mitgebrachten jungen Star Molly Picon jiddische Stummfilme in Wien, die ein Massenpublikum fanden und ausgesprochen vergnüglich die Widersprüche zwischen ostjüdischen religiösen Tra- ditionen und Bildung, Akkulturation und sozialer Integration visuell gestalteten. Jü- dische Themen waren auf der Leinwand selbstverständlich – die junge Filmindustrie war ein erfolgreicher Repräsentant der visuellen Moderne. Ganz zu schweigen von jenen in Hollywood berühmt gewordenen Filmschaffenden, die sich z. B. wie Billy Wilder in den 20er Jahren in Wien und Berlin als Reporter durchschlugen oder Mi- chael Kertész, der für Die sklaVenkönigin (ö 1924) über 5.000 Statisten in den Studios der Sascha-Film und im Freien am Laaer Berg in Wien zu dirigieren wusste und in Hollywood dann als Michael Curtiz casablanca (usa 1943) drehte.

Die Liste der Wiener KünstlerInnen jüdischer Herkunft in Literatur, Kunst, Musik und Film dieser Zeit ließe sich wohl endlos fortführen. Gleichzeitig sei auf die Prob-

Beller, Geschichte Österreichs, S. 165.

Siehe : Robert Musil : Der Mann ohne Eigenschaften/Erstes und zweites Buch (erstmals erschienen ab 1930), neu durchgesehene und verbesserte Ausgabe 1978, 17. Aufl. 2003, Reinbek bei Hamburg : Rowohlt, S. 31–35.

Felix Salten : Bambi, ein Leben im Walde (erstmals erschienen 1923).

0 Zitat siehe : Beitrag von Birgit Peter in diesem Band.

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lematik eines zu fokussierten Rückblicks auf die Wiener jüdische Erfahrung als eine auf die jüdischen Wiener bürgerlichen und Intellektuellen beschränkte verwiesen.

Seit 1945 gab es immer wieder Tendenzen, die Rolle von Jüdinnen und Juden in der deutschsprachigen Kultur philosemitisch überzubetonen und dabei Projektionen auf die Vergangenheit zu entwickeln, die sehr stark durch die kulturellen und wis- senschaftlichen Folgen der Shoah und die Erinnerungskulturen in Deutschland und Österreich bestimmt sind. Erinnert sei an die Publikationen von Carl E. Schorske, Steven Beller und den provokativen Einwurf von Ernst Gombrich 1996, „dass der Begriff der jüdischen Kultur von Hitler und seinen Vor- und Nachläufern erfunden wurde“, der eine heftige Kontroverse nach sich zog. Der Überbetonung der Wiener jüdischen Kultur, der Romatisierung des Fin de Siècle – vor allem in Publikationen außerhalb Österreichs – entsprach die Unterbetonung in der offiziellen österreichi- schen Kultur nach 1945. Erst die Forschungsarbeiten jüngerer Generationen und eine Veränderung in der österreichischen Erinnerungskultur, damit dem österreichischen Gedächtnis, führten allmählich zu einer ausgeglicheneren Sichtweise, zu sensiblen Positionen, die sich sowohl antisemitischer als auch philosemitischer Lesart entzie- hen. Weder können ÖsterreicherInnen jüdischer Herkunft aus der Wiener Moderne weggedacht werden, noch kann diese als eine Art europäisch-jüdische „Schöpfungs- geschichte“ gelesen werden.

Der vorliegende Band beschäftigt sich in interdisziplinären Perspektiven mit den Interferenzen zwischen der Wiener jüdischen Erfahrung und den politischen und nationalen Verhältnissen Wiens wie auch ihrer Widerspiegelung in Literatur, Kunst und Wissenschaft dieser Zeit. Wie stoßen antijüdische Traditionen, Emanzipation, Integration und Akkulturation in unterschiedlichen Generationen aufeinander ? Wer-

Vgl. Frank Stern : Im Anfang war Auschwitz. Antisemitismus und Philosemitismus im deutschen Nachkrieg, Schriftenreihe des Instituts für deutsche Geschichte Universität Tel Aviv, Bd. 14, Gerlingen : Bleicher Vlg. 1991 ; ders.: The Whitewashing of the Yellow Badge. Antisemitism and Philosemitism in Postwar Ger- many, Oxford, New York : Pergamon 1992.

Vgl. Ernst H. Gombrich : Jüdische Identität und jüdisches Schicksal. Eine Diskussionsbemerkung. Mit einer Einleitung von Emil Brix und einer Diskussionsdokumentation von Frederick Baker, Wien : Passagen 1997, die sich wiederum auf Carl E. Schorske : Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle (erstmals erschienen 1982), Frankfurt am Main : Fischer 1998 beziehen. Siehe hierzu auch Beller, Geschichte Öster- reichs, S. 161ff. und Peter Gay : Modernism. The Lure of Heresy. From Baudelaire to Beckett and Beyond, New York : W.W. Norton & Company 2008, z. B. S. 55 f. u. S. 238 ff.

Vgl. Meinrad Ziegler, Waltraud Kannonier-Finster : Österreichisches Gedächtnis. Über erinnern und Ver- gessen der NS-Vergangenheit, Wien : Böhlau 1993, Heidemarie Uhl (Hg.): Zivilisationsbruch und Gedächt- niskultur. Das 20. Jahrhundert in der Erinnerung des beginnenden 21. Jahrhunderts, Innsbruck, Wien : Studienverlag 2003.

Siehe dazu u. a.: Anne Betten, Konstanze Fliedl : Judentum und Antisemitismus. Studien zur Literatur und Germanistik in Österreich, Berlin : Erich Schmidt Verlag 2003.

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den jüdische KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen allein durch die Herkunft zu jüdischen AutorInnen ? Welches ambivalente Verhältnis entsteht zwischen akkultu- rierten Wiener Jüdinnen und Juden und der jungen zionistischen Bewegung ? Und wie artikulierte sich das gespannte Verhältnis zwischen religiösen und regional ge- prägten Traditionen innerhalb des Judentums, die in Wien vor allem während der Monarchie aus Süd-Osteuropa zusammentrafen ? Die folgenden Beiträge betonen über den Begriff der Akkulturation das Gemeinsame des Austauschs, der kulturel- len und sozialen Kommunikation und wechselseitiger Teilhabe und vor allem auch Akkulturation als eine Vorbedingung für Emanzipation und Integration – ohne Dis- tanz und Ausgrenzungen und ohne den Gegensatz zwischen alteingesessenen Wiener Jüdinnen und Juden und Zuwanderern aus Galizien zu ignorieren. Sie betonen Wien als urbanen Migrationsort vor 1938, der jüdische Lebenswelten verband und auch trennte, der die Entwicklung einer jüdischen Wiener Kultur fördern wie auch behindern und zerstören konnte.

In der Rezeption des geschriebenen Worts, der künstlerischen Repräsentationen und der neuen visuellen Kunst des Films sticht mit literarischer Meisterschaft immer wieder der Arzt und Schriftsteller Arthur Schnitzler hervor, mit dessen Roman Der Weg ins Freie auch die Konferenz in Wien im Festsaal des Rathauses ihre stimmungs- gebende Eröffnung fand.

In seiner autobiografischen Darstellung des Werdegangs eines jungen Wiener Ju- den, die zwischen 1915 und 1920 entstand9, betont Schnitzler den spannungsrei-

Vgl. u. a. Hans Tietze : Die Juden Wiens, 1. Aufl. (erstmals erschienen 1933), Wien : Mandelbaum 2007, Steven Beller : Wien und die Juden 1867–1938, Wien, Köln, Weimar : Böhlau 1993, sowie zu Emanzipa- tion, Integration und Akkulturation : Michael Brenner, Stefi Jersch-Wenzel, Michael A. Meyer : Deutsch- Jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 2 : Emanzipation und Akkulturation 1780–1871, München : C. H.

Beck 1996, S. 10f.; Frank Stern : Dann bin ich um den Schlaf gebracht … Ein Jahrtausend jüdisch-deutsche Kulturgeschichte, Berlin : Aufbau-Verlag 2002, S. 12 f. und S. 75 f.

Vgl. Steven M. Lowenstein, Paul Mendes-Flohr, Peter Pulzer, Monika Richarz : Deutsch-Jüdische Ge- schichte in der Neuzeit, Bd. 3 : Umstrittene Integration 1871–1918, München : C. H. Beck 1997, S. 85 so- wie die jeweiligen Abschnitte zu Österreich in : Avraham Barkai, Paul Mendes-Flohr, Steven Lowenstein : Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 4 : Aufbruch und Zerstörung 1918–1945, München : C. H.

Beck 1997.

Siehe u. a.: Peter Gay : Das Zeitalter des Arthur Schnitzler, Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main : Fischer 2002 ; Ulrich Weinzierl : Arthur Schnitzler. Lieben, Träumen, Sterben, 2. Aufl., Frank- furt am Main : Fischer 1994.

Die Schauspielerin Elisabeth Orth las als Auftakt der Konferenz Auszüge aus Der Weg ins Freie von Arthur Schnitzler. Siehe das Konferenzprogramm unter : http ://www.univie.ac.at/zeitgeschichte/veran- staltungen/a-07-03–1.pdf, Stand : 18.1.2009.

Arthur Schnitzler : Jugend in Wien : Eine Autobiographie, hg. von Theresa Nickl u. Heinrich Schnitzler, Frankfurt am Main : Fischer 1999.

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chen Bogen des Jüdischen, der zwischen Glaube einerseits und Erinnerung, Tradition und Atmosphäre andererseits besteht0 – und zwar im Gegensatz zu jenen Sichtwei- sen, für die Judesein vor allem Herkunft und Religion bedeutet. Sein Roman Der Weg ins Freie liest sich hinsichtlich der Spannungen zwischen Akkulturation, Antise- mitismus und Zionismus wie ein Textbook der jüdischen Erfahrung in Wien, in der vor 1914 bereits alle Tendenzen aufscheinen, die in den 20er und 30er Jahren dann eine bedeutende Rolle spielen. Das zweite Kapitel des 1908 erschienenen Romans beschreibt abendliche Gesprächsimpressionen in einem jüdisch-bürgerlichen Wiener Salon. Vom aktuellen Zionismus eines Wieners ostjüdischer Herkunft kommt das Gespräch auf getaufte Juden, Konfessionslosigkeit, Gefühle des Jüdischseins, Rassis- mus, den Antisemitismus der „Rabauken“ und der Gebildeten, den Antisemitismus unter Juden, Sozialismus und Kommunismus. Alles wird ironisiert, nichts hat im Gespräch Bestand, Ideologien werden zu Meinungen, Vorurteile zu Gesprächshal- tungen. Die ethnische, soziale und mentale Vielschichtigkeit alteingesessener Wie- ner, von Galizianern, von Ungarn, das Spiel mit den tradierten Bildern der „schönen Jüdin“, des „reichen“, des „gebildeten“ Juden lösen sich immer wieder auf in neuen Gesprächsbegegnungen. Diskussionsthemen jüdischer Sozialdemokraten, jüdischer Liberaler, jüdischer Deutschnationaler, jüdischer Reservisten werden angesprochen.

Die Wiener Politik ist präsent, das Jüdische erscheint als ein kultureller und gesell- schaftlicher Wiener Reigen.

Nicht selten ist die Verarbeitung der Wiener jüdischen Vergangenheit, die indivi- duelle, künstlerische und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Jüdischsein in unterschiedlichen Perioden der österreichischen Kultur und Geschichte, erst durch Erfahrungen mit der Judenfeindschaft motiviert. Arthur Schnitzler bemerkte hierzu :

„Meine Sprache ist Deutsch. Meine Kultur, meine Errungenschaften sind deutsch.

Geistig betrachtete ich mich als einen Deutschen, bis ich die Zunahme antisemiti- scher Vorurteile in Deutschland und Deutschösterreich bemerkte. Seither bezeichne ich mich lieber als Juden.“ Noch radikaler formulierte dies Sigmund Freud 1932 in einem Brief an Arnold Zweig : „Wenn Sie mir von Ihren Grübeleien erzählen, kann

0 Siehe dazu : Bettina Riedmann : „Ich bin Jude, Österreicher, Deutscher“. Judentum in Arthur Schnitzlers Tagebüchern und Briefen, Tübingen : Niemeyer 2002; und : Frank Stern : „Wege ins Freie. Der Dichter der Akkulturation (1862–1931) und die Angst vor der Visualisierung des Jüdischen im Werk Arthur Schnitzlers (1945–2007)“, in : Die Tatsachen der Seele. Arthur Schnitzler und der Film, hg. von T. Ball- hausen, B. Eichinger, K. Moser, F. Stern, Wien : verlag filmarchiv austria, 2006, S. 171–206.

Arthur Schnitzler : Der Weg ins Freie (erstmals erschienen 1908), Frankfurt am Main : Fischer 1990, S. 64 ff.

Zitiert nach Yosef Hayim Yerushalmi : Freuds Moses. Endliches und unendliches Judentum. Berlin 1991, S. 65.

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ich Sie von dem Wahn befreien, daß man ein Deutscher sein muß. Sollte man dies gottverlassene Volk nicht sich selbst überlassen ?“

Auch Werke von heute weltberühmten jüdischen Musikern wie Erich Zeisl und Arnold Schönberg reflektieren, dass die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Judentum und ihrer persönlichen Stellung zum Jüdischen vor allem erst dann ein- setzte, als sie sich antisemitischen Übergriffen ausgesetzt sahen und sie mit ihrer jüdi- schen Identität zunehmend von „außen“ konfrontiert wurden. Als Arnold Schönberg im Sommer 1921 mit seiner Familie in Mattsee (Salzburg) Urlaub machen wollte und ihn der Bürgermeister mit der Begründung, dass Juden in seinem Ort unerwünscht seien, aufforderte, den Ort zu verlassen, war dies für den 47-jährigen Komponisten, der mit 24 Jahren den protestantischen Glauben angenommen hatte, ein einschnei- dendes Erlebnis. Schönberg begann, sich mit biblischen Geschichten zu beschäftigen und über mehrere Jahre an der Oper Moses und Aron zu arbeiten. 1933 rekonvertierte er zum Judentum.

Für den Musiker und Komponisten Schönberg bedeutete die Beschäftigung mit Moses und Aron eine „Rückkehr zur jüdischen Religion“, aber nicht nur das – die Arbeit an dieser Oper war für ihn die Auseinandersetzung mit einer religiösen und, dem Sprachgebrauch der Zeit entsprechend, nationalen Identität, die für ihn im Ju- dentum eine untrennbare Einheit bildeten. In diesem Sinne wurde auch das Titel- bild dieses Buches, Moses und Aaron, des österreichisch-jüdischen Malers Heinrich Sussmann (1904–1986) ausgewählt – identitätsstiftende Tradition und Religion wa- ren und sind in der jüdischen Erfahrung untrennbar miteinander verbunden. Diese Identität aufzuspüren, versuchte der Wiener jüdische Kunsthistoriker und Museums- direktor Hans Tietze, der ebenfalls vor den Nationalsozialisten ins Exil flüchten musste, und dessen Ziel dem Band als Motto vorangestellt ist :

„Was ich […] versuche, ist […] die Geschichte der Juden Wiens im Zusammenhang mit dem Leben dieser ganzen Stadt zu erfassen, das heißt, zu erkennen, was Wien für sie und sie für Wien bedeutet haben und bedeuten, und so die Besonderheit dieses Stückes Wien und dieses Stückes westeuropäischer Judenheit zu verdeutlichen.“

Ebd., S. 73.

Siehe dazu die Aufführung von Moses und Aron an der Wiener Staatsoper (Saison 2005/2006), Premiere 3. 6. 2006, Dirigent : Daniele Gatti, Regie : Reto Nickler, Ausstattung : Wolfgang Gussmann) ; und auch das Programmheft.

Hans Tietze : Die Juden Wiens,1. Aufl. (erstmals erschienen 1933), Wien : Mandelbaum 2007, S. 9 ; Hans Tietze : Lebendige Kunstwissenschaft. Texte 1910–1954, hg. von Almut Krapf-Weiler, Schriften der Akademie der bildenden Künste Wien, Wien : Schlebrügge Editor 2007.

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Je breiter die Kultur und Gesellschaft Wiens betrachtet werden, umso mehr lösen sich allerdings eindeutige Trennlinien einer jüdischen Identität bzw. jüdischer Identitäten auf. Wien repräsentierte auch hinsichtlich der Bevölkerung jüdischer Herkunft eine Vielzahl jüdischer Milieus, unterschiedliche Bereiche intellektueller, wissenschaft- licher, wirtschaftlicher und medialer Präsenz, die unter anderem wiederum durch Sozialstruktur, religiöse und säkulare Affinitäten, politische Orientierungen und An- wesenheitsdauer, aber auch durch die Sprachenvielfalt Deutsch, Hebräisch und Jid- disch beeinflusst waren. Regional geprägte Traditionen, religiöse und säkulare Strö- mungen stechen genauso hervor wie rituell unterschiedlich bestimmte Synagogen, Bethäuser, Schulen, Vereine, Jugendorganisationen, die zwischen Orthodoxie und Reformjudentum, zwischen Zionismus und Sozialismus, Arbeiterjugend, Studenten- verbindungen und Blau-Weiß oszillierten. Oftmals beeinflussten die Unterschiede der Generationen, antisemitische Erfahrungen und die Ausstrahlung des Projekts einer jüdischen Ansiedlung Palästina, erst unter ottomanischer Herrschaft und dann unter der britischen Mandatsmacht, die innerjüdischen Debatten. Hinzu kam unter ande- rem durch Martin Buber die Popularisierung einer jüdischen Renaissance und damit einhergehend des kulturellen Zionismus, wofür nicht allein die Zeitschrift Der Jude stand. Stets ging es um die jeweiligen Einstellungen zur umfassenden Integration oder zu einer stärkeren eigenständigen kulturellen Abgrenzung, die Spannung zwi- schen Universalismus und Partikularismus. Und immer scheint in solchen Debatten, Reden, Erinnerungen und ästhetischen Verarbeitungen ein intensives Ringen um die Inhalte der Moderne auf. Es gibt wohl kaum ein nachdenkenswerteres Zitat in diesem Zusammenhang als Schönbergs Bemerkung in seiner Rede auf Gustav Mahler in Prag am 25. März 1912, in der er, sich auf Mahlers Viii. Symphonie beziehend, selbstironisch vermerkt, welchen Satz er bei jedem Musikschüler weggestrichen hätte und dann anfügt : „Und unglaublich : hier ist es richtig ! Hier stimmt es ! Hier dürfte es gar nicht anders sein. Was sagen die Gesetze dazu ? Man muß eben die Gesetze än-

Vgl. Hanni Mittelmann, Armin A. Wallas (Hg.) : Österreich-Konzeptionen und jüdisches Selbstverständnis.

Identitäts-Transfigurationen im 19. und 20. Jahrhundert, Tübingen : Niemeyer 2001; Klaus Hödl (Hg.) : Historisches Bewusstsein im jüdischen Kontext. Strategien – Aspekte – Diskurse, Schriften des Centrums für Jüdische Studien, Bd. 6, Innsbruck : Studienverlag 2004.

Eleonore Lappin : Der Jude 1918–1928. Jüdische Moderne zwischen Universalismus und Partikularismus, Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts 62, Tübingen : Niemeyer 2000 ; vgl. zu Bubers politischen Auffassungen : Paul Mendes-Flohr (Hg.) : Martin Buber. Ein Land und zwei Völker. Zur jüdisch-arabischen Frage, Frankfurt am Main : Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 1993.

Vgl. als Beispiel für eine Untersuchung der kulturellen und sozialen Übergänge im Deutschen Reich : Till van Rahden : Juden und andere Breslauer. Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und Katholi- ken in einer deutschen Gesellschaft von 1860 bis 1925, Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht 2000.

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dern !“9 Bezieht Schönberg sich hier auch auf die Musik, so ist es doch ein treffendes Zitat auch für andere Bereiche, in denen die Herausforderungen der Moderne, glei- chermaßen die Verbindung und Abgrenzung zum Tradierten deutlich werden.

Die kulturellen und nationalen Perspektiven innerjüdischer Debatten reflektieren Brüche der Moderne und immer auch die Übergänge von der Monarchie zur Ersten Republik, von einer krisengeschüttelten Demokratie zum Ständestaat zwischen ita- lienischem Faschismus und deutschem Nationalsozialismus. Die Multikulturalität der Monarchie, die langfristigen Auswirkungen des Toleranzedikts von 1782 und die sukzessiven Beschneidungen der bürgerlichen Emanzipation, die allmähliche Durchsetzung der Integration, die legislativen Fortschritte der Ersten Republik, in der erstmals Frauen und Juden in Österreich durch die volle formale Gleichheit ein breiterer Weg ins Freie ermöglicht wird als vor 19190, vermindern sich radikal durch antidemokratische Entwicklungen, Bürgerkrieg, Austrofaschismus und den schleichenden „Anschluss“ an ein Deutschland, das die Traditionen der bürgerlichen Revolution von 1848 und der Begründung einer demokratischen Republik 1919 vom Tische wischt.

Der Antisemitismus im kulturellen und ethnischen Schmelztiegel Wien kann zwar als eine Klammer zwischen konservativen und deutschnationalen Strömungen gese- hen werden, doch ist er nicht dem Berliner Antisemitismus seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts gleichzusetzen. Zu bedenken ist unter anderem, dass es die Berliner jüdische Gemeinschaft mit einer protestantischen Mehrheitskultur und die Wiener mit einer durch den Katholizismus bestimmten Gesellschaft zu tun hatten. Überdies kamen in Wien viel stärker Tendenzen zur Geltung, die sich aus dem vielschichtigen regionalen und nationalen Rahmen der k.u.k. Monarchie ergeben hatten. Die im- mense Zuwanderung ärmerer Schichten aus Galizien bedingte schon rein quantitativ eine ausgeprägtere Klassenstruktur der jüdischen Bevölkerung in Wien.

Das Jahr 1938, die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Österreich, mar- kiert in der Kultur und der Geschichte der Stadt Wien den Beginn vom Ende einer ihrer fruchtbarsten und vielschichtigsten kulturellen Phasen. Mit dem Jahr 1938 be- gann die systematische Vertreibung und Ermordung der Wiener jüdischen Bevölke- rung. Doch keine Geschichte beginnt außer in ihren Büchern mit einem Jahr. Ge- schichte und Kultur entwickeln sich in Prozessen, Übergängen und Spuren, die die Erinnerung und unsere heutigen Perspektiven verändern. Daher bemühen sich die folgenden Beiträge, bisherige Forschungen unter neuen Perspektiven zu diskutieren und neue wissenschaftliche Ansätze, die sich unter anderem aus den Jewish Cultural

Arnold Schönberg, Rede auf Gustav Mahler am 25. März in Prag, Hamburg 1993, S. 29.

0 Die Frauen, damit auch die Jüdinnen, erhalten 1919 das Wahlrecht.

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Studies, der Visual History, Studien zur Performativität sowie der Mentalitäts- und Biografiegeschichte ergeben, zu nutzen.

Ein Blick von heute, nach der Wende des 20. zum 21. Jahrhundert, auf das jüdische Leben zeigt fruchtbare kulturelle und wissenschaftliche Verflechtungen vieler Länder mit jenem Wien vor 1938 – erinnert aber auch schmerzvoll an die radikale „Vertrei- bung der Vernunft“. Zahlreiche Entwicklungen in künstlerischen und universitären, genauso wie in ökonomischen Bereichen in den usa, in Großbritannien, in der Tür- kei, in Israel sind von der Integration emigrierter Wiener Jüdinnen und Juden geprägt.

Sie waren und sind die Mittler zwischen den Kulturen und Repräsentanten eines mehr oder weniger erzwungenen Kulturtransfers. Traditionen und Erinnerungen wurden in die neuen Lebensräume mitgetragen, an die neuen Bedingungen angepasst – oft- mals um den Preis schwerer persönlicher Zugeständnisse und Krisen.

Die oft widersprüchlichen Bilder eines Wiens von 1900–1938 ergeben sich daher nicht allein aus quellenorientierten Analysen jener Jahre sondern aus den Bildern, Vorstellungen, Erinnerungen und wissenschaftlichen Untersuchungen, Oral History Archiven, Formen visualisierter Geschichte, in denen die ehemaligen WienerInnen ihre vergangenen Erfahrungen bis in die Gegenwart bewahrten. Es interessieren die Spuren dieser Wiener Ursprünge, sozusagen der „Thirty-Eighters“ in New York und Hollywood, in Haifa, Tel Aviv, Jerusalem und Shanghai und zahlreichen anderen Orten, an denen sich die Vertriebenen mit ihren Kindern niedergelassen und ihre Geschichte mitgetragen haben. Diese weltweiten alltagskulturellen Übertragungen verschmelzen zu neuen Identitäten, die noch heute die jüngste Generation der Nach- fahren der Exilierten prägen, die u. a. durch wiederbelebte kulturelle und wissen- schaftliche Aktivitäten versucht, die Folgen der Shoah zu verarbeiten. So ist gegen- wärtig an den Universitäten ein großer Nachholbedarf hinsichtlich der vertriebenen Wissenschaften spürbar, wenngleich mit einer Verspätung von Jahrzehnten. Aber auch in anderen Bereichen der Gesellschaft – der Hochkultur genauso wie der Populärkul- tur – werden die Spuren des einstigen Wiener jüdischen Lebens revitalisiert. Jaques Le

Friedrich Stadler : Die Vertriebe Vernunft : Bd. 1 : Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft 1930–

1940, Bd. 2 : Kontinuität und Bruch. 1938–1945–1955, Wien : Verlag Jugend und Volk 1987/2004 ; Hel- mut Kramer, Karin Liebhart, Friedrich Stadler (Hg.) : Österreichische Nation – Kultur – Exil und Wider- stand. In memoriam Felix Kreissler, Wien : Lit Verlag 2006.

Harry Zohn : Amerikanische „Thirty-Eighters“ aus Wien als doppelte Kulturträger, Wiener Vorlesungen, Bd. 28, Wien : Picus Verlag 1994.

Ebd.

Siehe dazu auch die Internationale Konferenz : „Exil – Glaube und Kultur. 1933–1945 : Der Tag wird kommen (Lion Feuchtwanger)“, 7.–9. Mai 2009 an der Universität Wien ; zur Wiener Identität von Exilierten vgl. Ruth E. Wolman : Crossing Over. An Oral History of Refugees from Hitler’s Reich, New York : Twayne Publishers 1996

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Goffs allgemeine Forderung einer Histoire de l’Imaginaire, im Zusammenhang des vorliegenden Bandes auch die interdisziplinäre Suche nach Verknüpfungen des Jüdi- schen und des Nichtjüdischen als etwas Spezifischem der Wiener Kulturgeschichte, ist nie abzuschließen. Sie ist vielmehr ein kontinuierlicher Anspruch in der Beschäfti- gung mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Deutlicher denn je ist heute, dass weit über das Fin de Siècle hinaus aus der kom- plizierten Dialektik der Longue durée einer jüdischen Akkulturation, ihrer Brüche und ihrer Wechselwirkungen, wie sie Wien vor 1938 prägten, eine Integration dieser Wiener jüdischen Erfahrung in die moderne Weltkultur entstehen konnte. Nicht zu- letzt in Wien selbst finden zu Beginn des 21. Jahrhunderts markante Entwicklungen statt, in denen die historische jüdische Erfahrung der Zwischenkriegszeit erneut auf- scheint. Das Jüdische Theater erlebt eine Renaissance, Aktivitäten jüdischer Schulen und jüdische Erwachsenenbildung sind zu einer Selbstverständlichkeit geworden, jährliche jüdische Filmfestivals, ein Jüdischer Filmclub, kulturelle jüdische Institu- tionen wie das Jüdische Museum der Stadt und der Sportverein Hakoah erneuern Ansätze eines jüdischen Lebens in Wien und stehen in Wechselwirkung mit einer sich ausprägenden religiösen Vielfalt. Die junge Generation knüpft ohne museale Empfindlichkeiten an die Wiener Zeit ihrer Großeltern in den 20er Jahren an, andere jüdische Milieus bringen osteuropäische, sephardische und israelische Traditionen nach Wien – wenngleich nicht in dem Umfang und der multikulturellen und gesamt- gesellschaftlichen Intensität wie vor 1938.

Die Wiener jüdische Geschichte und Kultur wird in diesem Band im Zusammen- wirken von Sozial- und Politikgeschichte, von analytischer Religions- und Institutions- betrachtung, von theoretischer Reflexion der Prozesse der Akkulturation im Kontext von Integration, Antisemitismus und Zionismus fachübergreifend verhandelt. Dass dies ein nicht abgeschlossener wissenschaftlicher Prozess ist, in dem anknüpfend an die Diskussionen über die Rolle der Wiener Juden im Fin de Siècle und in der Zwi- schenkriegszeit erneut Fragen an die Rolle und die Bedeutung des Jüdischen in der österreichischen Kultur und Geschichte gestellt werden, wird offensichtlich durch die Vielzahl von neueren Forschungen und Ansätzen in den unterschiedlichsten Diszipli- nen. Aktuelle wissenschaftliche Fokussierungen werden unter anderem in den Unter-

Jaques Le Goff, Roger Chartier, Jacques Revel (Hg.) : La Nouvelle Histoire, Les encyclopédies du savoir moderne, Paris : Editions Retz 1978.

Vgl. Frank Stern, Maria Gierlinger (Hg.) : Die deutsch-jüdische Erfahrung. Beiträge zum kulturellen Dia- log, Berlin : Aufbau-Verlag 2003 ; Carl E. Schorske : Mit Geschichte denken. Übergänge in die Moderne, Wien : Löcker 2004 ; Klaus Hödl : Wiener Juden – jüdische Wiener. Identität, Gedächtnis und Performanz im 19. Jahrhundert, Innsbruck : Studienverlag 2006, Wolfgang Schmale, Martina Steer (Hg.) : Kultur- transfer in der jüdischen Geschichte, Frankfurt am Main, New York : Campus 2006.

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suchungen der Zusammenhänge von Antisemitismus und Misogynie deutlich, andere widmen sich den Konstruktionen und Projektionen, denen Juden und insbesondere jüdische Frauen durch die Vermengung verschiedenster medial geschürter Vorurteile ausgesetzt waren, wobei die auch international beachtliche Beschäftigung etwa mit Bertha Pappenheim nicht zu übersehen ist.

Seit den 80er und verstärkt seit den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ha- ben sich zahlreiche junge WissenschaftlerInnen, Lehrende, Kunstschaffende, Schrift- stellerInnen und FilmemacherInnen österreichisch-jüdischen Themen zugewendet, die über die Rolle der österreichischen Gesellschaft vor und nach dem „Anschluss“

hinausgehen. Die notwendige Antisemitismusforschung, die oft schmerzhafte Aus- einandersetzung mit hiesigen Geschichtsbildern, mit individuellen und kollektiven Biografien, mit Verlaufsformen und Folgen antijüdischer Politik, die Demokratie- forschung und die analytische Durchdringung des Alltags der Ersten Republik, dann des Austrofaschismus und der Rolle von ÖsterreicherInnen im ns-Regime und im Vernichtungskrieg im Osten wurden in der Zweiten Republik zunehmend zu einem engagierten akademischen und publizistischen Projekt eines Teils der österreichischen Nachkriegsgenerationen. Hier ist nicht allein an Forschung und Lehre an den ös- terreichischen Universitäten zu denken, sondern ebenso an eine Vielzahl von For- schungseinrichtungen und Projekten, die auch langfristig kein Gras über die ver- gangene österreichisch-jüdische Geschichte wachsen lassen werden. Sicher hat die kontroverse Beschäftigung mit Mentalitäten, historischer Verantwortung und den Kontinuitäten des Gestern im Heute viel zu spät eingesetzt, wurde 1986 durch die Waldheim-Affäre und dann 1988 durch den Jahrestag von 1938 beschleunigt, doch ist die Vielfalt transdisziplinärer Forschung, wie die folgenden Beiträge zeigen, be- achtlich. Der weitgesteckte Rahmen von Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938.

Akkulturation, Antisemitismus, Zionismus soll dem Rechnung tragen.

Wien kann nicht nur als „Hauptstadt des Antisemitismus“ erinnert werden, son- dern auch als ein kulturelles, politisches, soziales und wirtschaftliches Zentrum öster- reichisch-jüdischer Akkulturation und Integration. Für künftige Forschungen ergibt sich daher gerade im Vergleich der jeweiligen nationalen und regionalen jüdischen Erfahrung ein weites Feld, da die jüdische Geschichte und Kultur wohl mehr denn je schärfer und bewusster von der Antisemitismus-Forschung zu trennen ist. Die fortgeschrittenen Aufarbeitungsprozesse historischer Erfahrungen und der Stand der Forschung lassen es heute zu, an die Untersuchung des österreichischen Judentums im Rahmen einer europäisch-jüdischen Kulturgeschichte, an die Verflechtung in Ge- sellschaften und Kulturen so heranzugehen, dass wir ein unvoreingenommenes, wenn auch immer unvollständiges Mosaik einer Wiener jüdischen Erfahrung in der Erin- nerung und der Gegenwart zusammensetzen können.

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Abb. 1: Moses und Aron (Aufführung in der Wiener Staatsoper, Saison 2005/2006 © Wiener Staatsoper GmbH/Axel Zeininger)

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Was nicht im Baedeker steht

Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit

1927 erschien ein Buch von Ludwig Hirschfeld, Was nicht im Baedeker steht : Wien und Budapest. Dieses Buch war als ein informelles Gegenstück zum berühmten Bae- deker Reiseführer für Wien gedacht und berichtete auch das eine oder andere über Budapest. In diesem Buch schreibt Hirschfeld über Kaffeehäuser, Fasching, das Thea- terleben, die Wiener Mode und die Wienerinnen. Im interessanten Kapitel „Eigen- tümlichkeiten, an die man sich gewöhnen muss“ stellt Hirschfeld eine Frage : „Ist er ein Jud ?“

Für Hirschfeld hat diese „Wienerische Judenfrage“ gar nichts mit Politik und Ras- senantisemitismus zu tun, denn diese Frage sei im damaligen Wien von allen, ohne Unterschied der Konfession, gestellt worden – von Hakenkreuzlern wie von Juden :

„,Ist er ein Jud ?‘ – Alle andern Fragen kommen nachher : Ob der Komponist, der Schriftsteller wirklich Talent hat, ob der berühmte Arzt schon viele Patienten geheilt, der Fußballchampion schon viele Goals geschossen hat. Die primäre Frage lautet : ,Ist er ein Jud ?‘ Erst wenn sie beantwortet ist, dann stellt man sich zu der Leistung des Schriftstellers, des Universitätsprofessors entsprechend ein. In jedem Gespräch wird man Ihnen damit aufwarten. Wenn Sie Ihrer Verwunderung Ausdruck geben, dass unser größter Gelehrter, Professor Sigmund Freud, der Schöpfer der Psychoanalyse, ein Mann von europäischer Geltung, noch nicht Ordinarius an der Wiener Universi- tät ist – Antwort : Er ist doch ein Jud. Es mag daran liegen, dass so viele interessante und originelle Köpfe Juden sind : Egon Friedell, der raffiniert gescheite Polyhistor, Philosoph und Amateurschauspieler, Raphael Schermann, der Schriftendeuter. Des- halb gebe ich Ihnen den guten Rat : Seien Sie während Ihres Wiener Aufenthaltes nicht zu interessant und originell, sonst sind Sie hinter Ihrem Rücken plötzlich ein Jud […].“

Lange Zeit wurde behauptet, dass die Frage nach dem jüdischen Beitrag an der modernen Wiener Kultur der Jahrhundertwende und auch der Zwischenkriegszeit

Ludwig Hirschfeld, Was nicht im Baedeker steht. Wien und Budapest, München 1927, S. 56–57.

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erst nach Hitler, nach der Shoah, gestellt wurde – im Nachhinein, als eine Art um- gekehrter Rassismus. Das Zitat von Ludwig Hirschfeld widerlegt diese Annahme eindeutig. Der Beitrag von Juden an der Wiener Kultur, an dem Wiener Wirtschafts- und Gesellschaftsleben war Tagesthema in Presse, Politik, Kunst und Wissenschaft der Zwischenkriegszeit. Dies wird schon in Publikationen der 1870er-Jahre deutlich und bereits ab 1880 ist das rassistische Schema „Juden gegen die Arier“ zu erkennen.

Wie Hirschfeld andeutet, war diese Trennung aber nicht nur Thema der Antisemiten, sondern gezwungenermaßen auch der vielen akkulturierten Juden, Arthur Schnitzler miteingeschlossen. Die häufige Dementierung dieses Bewusstseins der „Judenfrage“

in der Geschichte der Zweiten Republik war und ist eine Verklärung der Vergangen- heit.

Bis weit in die Achtzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts blieben die Aspekte jüdischen Lebens in der Zwischenkriegszeit wenig beachtet. Sie wurden als irrele- vant zurückgewiesen, höchstens als Ausdruck von antisemitischen Vorurteilen wahr- genommen, der nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatte. Die jüdischen Personen, die in Wien wohnten und an Kultur und Gesellschaft teilnahmen, waren so hoch gebildet und „assimiliert“, dass sie von der Bevölkerung nicht mehr als „jüdisch“

wahrgenommen worden wären. So war nach 1945 die formelle ‚Baedeker‘-Version der österreichischen Kulturgeschichte der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts eine, die mehrheitlich über die jüdische Beteiligung schwieg. Sie schwieg nicht nur aus Angst, sich dem Nazi-Rassismus allzu sehr anzunähern, sondern auch, um den Mythos der neuen nationalen österreichischen Kultur nicht zu stören. Es war einfach zu „ungemütlich“, dieses „neue“ Österreich daran zu erinnern, dass ein großer Teil seines modernen kulturellen und intellektuellen Vermächtnisses von einer Gruppe erzeugt, finanziert und gefördert worden war, deren Mitglieder zwischen 1938 und 1945 entweder zur Flucht gezwungen oder ermordet wurden.

Glücklicherweise hat in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von Forschungen be- wiesen, dass Juden und Personen jüdischer Herkunft eine sehr große, eigentlich vor- herrschende Rolle in der modernen Kultur der Jahrhundertwende und auch, beson- ders, in der Zwischenkriegszeit gespielt haben. Was nicht im Baedeker steht ist wieder ins Zentrum der Forschung gerückt worden.

Vgl. Ernst Gombrich, The Visual Arts in Vienna circa 1900, London 1997, S. 10, S. 24–28 ; auch „Ernst Gombrich : Niemand hat je gefragt, wer jetzt gerade ein Jude oder ein Nichtjude war“, ein Interview von Hermine Koebl, in : Gerhard Botz, I. Oxaal, M. Pollak, N. Scholz (Hg.), Eine zerstörte Kultur : Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert, 2. Aufl., Wien 2002, S. 85–94.

Vgl. Arthur Schnitzler, Der Weg ins Freie, Frankfurt am Main 1978.

Siehe Carl E. Schorske, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, München 1994.

Siehe Steven Beller, Wien und die Juden, 1867–1938, Wien 1993.

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Ob man vom literarischen Kreis „Jung Wien“, den Ursprüngen der Psychoanalyse oder der „Zweiten Wiener Schule“ in der Musik und vielen anderen Entwicklungen spricht – viele der wichtigsten Leistungen, die sich in der Rubrik „Wien 1900“ finden, sei es Wittgensteins Tractatus Logico-Philosophicus, Kraus’ Die letzten Tage der Mensch- heit oder Schönbergs Moses und Aron, sind ein Beitrag der jüdischen Bevölkerung in Österreich. Auch unter austromarxistischen Denkern im „Roten Wien“ waren Juden sehr prominent, und sie bildeten die Mehrheit der Mitglieder des philosophischen

„Wiener Kreises“ und des nationalökonomischen „Mises-Seminars“. Die künstleri- sche Welt in Wien war von jüdischen Schriftstellern, Kritikern, Komponisten, Libret- tisten, Regisseuren, Impresarios und Mäzenen bevölkert. Wenn Ludwig Hirschfeld in seinem Buch zu einer (imaginären) Erstaufführung im Burgtheater einlädt, sind fast alle Personen der prominenten Gesellschaft, die er anführt, von Arthur Schnitzler zu Julius Bauer, Hugo von Hofmannsthal, Raoul Auernheimer und Alfons Rothschild, jüdischer Herkunft. Der große Beitrag der Juden zum kulturellen und intellektuel- len Leben Wiens und Europas wurde auch offen und manchmal witzelnd anerkannt.

Eine Karikatur der Damenspende für den Concordia-Ball von 1931 zeigt drei große Denker, einen Deutschen und zwei Österreicher : Albert Einstein, Sigmund Freud und Eugen Steinach, den „Entdecker“ der Verjüngungstherapie (und daher ein Bahn- brecher der Hormontherapie). Es gab ein Begleitgedicht :

„Drei Männer bilden das Staunen der Welt : Der erste stürmte das Himmelszelt, Der zweite der Seele Tiefen erforscht, Der dritte den alternden Leib entmorscht.

Und alle sind schon bei Lebenszeit Todsicher ihrer Unsterblichkeit.

Was aber brüllt der alte Chor ? Die Juden drängen sich überall vor !“

Wie immer dies von Antisemiten auch interpretiert wurde, so war die Leistung dieser drei Männer nur die Spitze eines Eisbergs. Auch in den Naturwissenschaften (Lise Meitner), in der Pädagogik (Eugenia Schwarzwald), in der Rechtslehre (Hans Kel- sen), in der Erziehungspsychologie (Siegfried Bernfeld) und Soziologie (Paul Lazars- feld) und vielen anderen Disziplinen waren Juden prominent und bahnbrechend.

Hirschfeld, Was nicht im Baedeker steht, S. 88–90.

Zitiert in : Ernst Freud, Lucie Freud u. Ilse Grubrich-Simitis (Hg.), Sigmund Freud : His Life in Pictures and Words, London 1978, S. 259.

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Kurz, wenn man die Beteiligung von Juden am modernen kulturellen und intellek- tuellen Leben Wiens und Österreichs der Zwischenkriegszeit auflistet, wird klar, dass der österreichische Beitrag zur modernen Weltkultur ohne diesen jüdischen Beitrag undenkbar ist.

Die Ursprünge dieser phänomenalen jüdischen Beteiligung (als Juden nur etwa drei Prozent der Bevölkerung der Republik Österreich ausmachten) gehen bis ins späte achtzehnte Jahrhundert zurück, als die Juden in Mittel- bzw. Zentraleuropa sich zu „modernisieren“ begannen. Impulse dazu kamen von außen und von innen.

Der Ausgangspunkt war die traditionelle Lebenswelt und Kultur der aschkenasischen Juden in den deutschsprachigen und zentraleuropäischen Ländern. Zu dieser Lebens- welt gehörten besondere Sitten, die sie von der umliegenden christlichen, vormo- dernen Welt unterschieden. Unter diesen komplexen und vielfältigen Unterschieden waren zwei Aspekte besonders wichtig :

Erstens erfuhr das Lernen, das religiöse Lernen in der jüdischen Lebenswelt eine viel größere Betonung, und zweitens wurde der ethischen Seite des Lebens mehr Be- deutung zugemessen als der ästhetischen. Die Idealfigur dieser Lebenswelt war der talmid hakham, der weise Lehrende, der durch sein Lernen, die Interpretation von sakralen Texten, der Thora und des Talmuds, die Wege Gottes zu verstehen trachtete.

In dieser Idealfigur waren Lernen und Ethik eins.

Aber diese Lebenswelt entsprach nicht der „modernisierenden“ Welt des neuen zentralisierten Beamtenstaates in der Ära des aufgeklärten Absolutismus. Weder aus der Sicht der habsburgischen Behörden noch aus der Sicht der Anhänger der jüdi- schen Aufklärung, der Haskalah. So wurde versucht, die Juden Zentraleuropas in die umliegende Gesellschaft zu integrieren. Im Westen hat man diese Integration durch die sofortige Anerkennung der Gleichheit der Juden vorgenommen, in Zen- traleuropa, den deutschen Ländern und der Habsburgermonarchie hingegen wurde ihnen ein Quidproquo vorgeschlagen. Das hieß, die Juden sollten sich assimilieren und moralisch verbessern und dafür würden sie von bedrückenden Sondergesetzen und Verboten befreit. Dieser Prozess begann 1780 und resultierte erst etwa 1867 in der endgültigen, vollen Emanzipation (Gleichsetzung) der Juden Zentraleuropas. In diesem fast jahrhundertlangen Zeitraum änderten Juden zwar Identität und Sitten, gleichzeitig entwickelten sie aber ihre eigene Ideologie und ihre eigenen Traditionen.

Das Resultat war nicht die radikale Integration, die die Behörden und auch manch jüdischer Führer vielleicht gewünscht hatten, sondern eine neue jüdische Identität, zwar ganz akkulturiert, aber doch eine besondere Art von deutscher Kultur, eine jü-

Zum Folgenden siehe Beller, Wien und die Juden, S. 97–205 ; David Sorkin, The Transformation of Ger- man Jewry, 1780–1840, Oxford 1987.

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dische Subkultur mit ihren eigenen Werten und ihrer eigenen Weltanschauung. Das Ideal dieser neuen jüdischen Lebenswelt war Bildung, ihre Idealfigur der Gebildete.

Dieses Ideal hatte zwar eine deutsche äußere Form, war jedoch jüdischen Inhaltes und besaß jüdische Voraussetzungen. Und in der Vereinigung von sittlicher und wissen- schaftlicher Bildung konnte sich der Gebildete als direkter Erbe des talmid hakham behaupten.

Die integrations- und emanzipationsorientierten Juden, die von den böhmischen Ländern, von Ungarn und – wenn auch anfänglich nicht so stark – aus Galizien nach Wien gekommen waren, trugen oft bereits dieses „aufklärerische“, deutschliberale Bildungsideal der Emanzipationsideologie mit sich.9 Aber diese idealistisch-liberale Kultur passte nicht ganz zu jener der habsburgischen Haupt- und Residenzstadt, in der sich die althergebrachte Kultur des konservativen, katholischen, gegenreforma- torischen Barocks sowohl am Hof als auch in der „phäakischen“ Volkskultur der Be- völkerung noch gegen den Rationalismus des Josephinismus behaupten konnte. Der resultierende culture-clash im Wien des späten neunzehnten Jahrhunderts hatte län- gerfristig folgenschwere Konsequenzen.

Erstens hatten die jüdischen Einwanderer mit ihrer alt-neuen Betonung auf Bil- dung rasch eine starke Präsenz in der Bildungswelt Wiens, in den Schulen, besonders den Elite-Gymnasien, sowie in den literarischen Salons und Kaffeehäusern erworben.

Weiters erwarben Juden auch eine besondere Stelle in den sozioökonomischen und kulturellen Strukturen Wiens, weil sie meistens in „kapitalistischen“ Wirtschaftsbran- chen wie Finanz, Kommerz und den freien Berufen arbeiteten – jenen modernen Äquivalenten wirtschaftlicher Funktionen, die Juden in vormoderner Zeit erlaubt waren. Sie wurden ein großer Teil, eigentlich der Kern des „liberalen Bildungsbürger- tums“ von Wien 1900.0

Zweitens, zum Teil als Reaktion, wurde Wien vor dem Zweiten Weltkrieg zur Haupt- stadt des Antisemitismus. Hierbei ist anzumerken, dass eine gewählte antisemitische Stadtregierung wie die eines Dollfuß und Schuschnigg nicht bedeutete, dass die Mehr- heit der Wiener Bevölkerung antisemitisch oder antisemitisch zu wählen bereit war.

Nur ein schmaler Sektor der Bevölkerung besaß damals das Wahlrecht. Wahr aber ist, dass die Christlichsozialen, die Wiens Stadtregierung stellten, explizit antisemitisch waren und ihren Erfolg auf dem Antisemitismus aufbauten. Es gab genügend Leute im Wiener ‚illiberalen‘ Bürgertum, die nur zu gern bereit waren, Antisemiten zu wählen.

Die Gründe für diesen Erfolg des politischen Antisemitismus in Wien sind vielfältig,

Ivar Oxaal, „Die Juden im Wien des jungen Hitler : Historische und soziologische Aspekte“, in : Botz u.

a. (Hg.), Eine zerstörte Kultur, S. 47–64.

0 Beller, Wien und die Juden, S. 42–81.

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aber er kann nicht geleugnet werden und ist offensichtlich die Kehrseite des großen wirtschaftlichen und kulturellen Erfolgs der Juden in der Stadt.

Drittens ist aus der komplizierten und mannigfaltigen Dialektik der jüdischen Integra- tion und ihren Wechselwirkungen auf die Wiener Umgebung ein besonders fruchtbarer Beitrag zur modernen Weltkultur entstanden. Gleichzeitig gab es auch interessante Ent- wicklungen innerhalb der jüdischen Gemeinde in Richtung einer intensiveren Selbst- behauptung als Juden, besonders in den verschiedenen Gruppen der zionistischen Be- wegung. Juden waren wichtige Teilnehmer an den drei Hauptformen der Moderne in Wien : der ästhetischen Moderne des Fin de Siècle, einem fortschrittsgerichteten Moder- nismus der Sozialreformen und einem „kritischen Modernismus“, der sowohl auf den anderen Kriterien beruhte und sie auch von innen kritisierte. Viele der Repräsentanten der ästhetischen Moderne der Jahrhundertwende waren jüdischer Herkunft, allen voran Hugo von Hofmannsthal. Wenn auch die Künstler der Secession meistens nicht jüdisch waren, so waren es doch zu einem großen Teil ihre Mäzene und Unterstützer.

Das war ein Zeitraum, in dem sich die Dialektik der jüdischen Begegnung mit der modernen Welt in Zentraleuropa weiterentwickelt hat. Besonders in Wien wurde der fort- schrittsgerichtete Modernismus – vor allem in sozialistischer Form – von Persönlichkeiten wie Josef Luitpold Stern, Julius Tandler, Otto Neurath, Josef Frank, David Josef Bach, Hugo Breitner und vielen anderen jüdischen Teilnehmern am „Roten Wien“ gestaltet.

Die meisten Hauptwerke des „kritischen Modernismus“ wie Karl Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit, Ludwig Wittgensteins Tractatus und die philosophischen For- schungen des „Wiener Kreises“, die Kritik von Karl Popper, und die zweite Philoso- phie Wittgensteins sind Produkte dieser späteren Zeit. Das Hauptwerk des kritischen Modernismus, typisch unvollendet, war Schönbergs Moses und Aron von 1930. Auch die späten Werke von Freud und Schnitzler gehören zur Blüte des „kritischen Moder- nismus“ zwischen den Kriegen. Dies war bemerkenswerterweise ein Modernismus, der einen stark ethischen Ansatz vertrat und der Werte der Moderne durch textuelle Kritik prüfte und infrage stellte. Das Hinterfragen der „Wahrheiten“ der Gesellschaft und der Wissenschaft war der Kern des „kritischen Modernismus“ und kann als eine moderne Version der Hinterfragung der sakralen Texte betrachtet werden, die eine der großen jüdischen Traditionen der Vormoderne ausmachte.

Zusammenfassend formuliert haben Juden nicht nur viel zur modernen Kultur in Wien beigetragen, sondern die Identität Wiens und Österreichs mitgestaltet. Wenn

Steven Beller, „What is Austrian about Austrian Modern Art ? The Belvedere and the Struggle for Aus- trian Identity”, in : H. Kräutler, G. Frodl (Hg.), Das Museum : Spiegel und Motor kulturpolitischer Vi- sionen, Wien 2004.

Siehe Ernst Glaser, Im Umfeld des Austromarxismus, Wien 1981.

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es eine „Integration“, sogar eine „Assimilation“ gegeben hat, waren diese zweiseitig.

Viele nichtjüdische Wiener und Österreicher sind von ihren jüdischen Kollegen, Ka- meraden, Nachbarn und auch Rivalen belehrt und inspiriert worden. Die Dialektik der jüdischen Emanzipation und Integration hatte eine starke Wirkung auf nichtjüdi- sche Österreicher. Wenn die Nazis von einer „Verjudung“ gesprochen haben, war das nicht so falsch, wie man nachher behauptete – das folgenschwere Problem damit war, dass diese „Verjudung“ als etwas Negatives betrachtet wurde und nicht als positiver, emanzipierender Einfluss auf Kultur und Gesellschaft.

Juden hatten nicht nur in der Hochkultur einflussreiche Stellen inne, sondern auch in der Populärkultur, in der Welt der Unterhaltungskultur und des Showbusiness waren sie stark vertreten. Viele der populärsten Wienerlieder sind von Juden wie zum Beispiel Hermann Leopoldi komponiert, und auch in der Welt der Operette waren viele der Komponisten und noch ein größerer Teil der Librettisten (wie auch Impre- sarien, Sänger usw.) jüdisch. Diese jüdische Präsenz – wie später auch in Hollywood und im amerikanischen Fernsehen – war auf der Bühne oder im Film selten offen- sichtlich. Die meisten Unterhaltungsstoffe bezogen sich auf Prinzen und Mädchen.

Manchmal konnte man auch eine jüdische Gestalt, einen jüdischen Helden, sehen und auch Themen, die der jüdischen Erfahrung entsprachen. Manche dieser Werke sind aus heutiger Sicht erstaunlich.

Ein gutes Beispiel ist eine Operette – uraufgeführt im November 1914 in Wien : Frühling am Rhein klingt vom Titel wie ein Propagandastück für Deutschlands Hoff- nungen an der westlichen Front. Und es gibt wirklich ein patriotisches Lied in der Operette zum Thema „Frühling am Rhein“ und mehrere Bemerkungen zum Krieg.

Aber das war die Welt der Wiener Operette. Der „Frühling“ des Titels ist ein Herr Moritz Frühling, ein jüdischer Kaufmann, der am Rhein wohnt. Frühling ist ein halbgebildeter, liebenswerter, ethisch guter Mensch, der mit jiddischen Worten (neb- bich, oi weh, Süppele usw.) spricht und witzelt. Er bringt auch eine „jüdische“ – wenn auch zweckgerichtete – Weltanschauung zum Vorschein. So singt er :

„Das Leben ist e’ schwer’ Geschäft, Und was a braver Jud’ ist,

Der denkt sich, was ihm immer trefft, Wer weiß zu was es gut ist !“

Edmund Eysler (Text : Carl Lindau, Beda und Oskar Fronz), Frühling am Rhein : Soufflier- und Regiebuch, Wien 1914.

Ebd., S. 99.

Ebd., S. 33.

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In der Operette hat Frühling eine Tochter, Trendl bzw. Therese, die eigentlich seine Stieftochter ist, Kind einer verstorbenen deutschen, christlichen Adeligen, die er innig liebt. Frühling verteidigt die Interessen seiner Stieftochter gegen ihren bösen Onkel, Baron Hartenstein, einen Mann mit verfeinertem ästhetischem Geschmack und her- vorragenden Manieren, aber ohne irgendwelche ethischen Skrupel, indem er, Früh- ling, vortäuscht, ein ganz stereotypisch verlogener, nur geldgieriger „Jud“ zu sein.

Frühling „gesteht“, dass Trendl nicht die Tochter des Adeligen, sondern seine eigene sei. Das adelige Kind sei als Baby gestorben, und er habe seine Tochter, Trendl, in die Identität des adeligen Kindes schlüpfen lassen, um an das Geld der anderen Mitglieder der adeligen Familie zu kommen. Therese hat ihre Erbschaft schon direkt von einem verstorbenen Onkel bekommen – dessen Geld ist also ihr Eigentum. Da nun Therese angeblich eine Jüdin ist, will Baron Hartenstein über- haupt nichts mit ihr zu tun haben, denn dann wäre sie ja auch nicht seine Nichte.

Durch diesen Trick, ein Paradebeispiel der jüdischen Schlauheit bzw. Klugheit, ermöglicht Frühling, dass Trendl ihrer Erbschaft von ihrem Onkel nicht beraubt wird. Er nimmt die daraus resultierende Beschämung und die Bestätigung vom antisemitischen Stereotyp in Kauf, um die Interessen seiner geliebten Stieftochter zu verwirklichen. Im Handlungsverlauf gibt es ein Lied, das mit verheerend anti- semitischen Verleumdungen über die „jüdische Familienliebe“ spottet. Wenn man nur diesen Gesangtext zu lesen hätte, wäre man überzeugt, dass die Operette ein antisemitisches Werk sein muss. Als Trendl aber nach ein paar Jahren, im dritten Akt, mündig geworden ist, widerruft Frühling und beweist, dass Trendl eigentlich die Tochter des Adeligen ist. Therese ist jetzt kein Mündel mehr und kann frei entscheiden, was sie will. So kann sie ihre Erbschaft noch genießen und ihren Ge- liebten, Heini, Kapitän des Rheindampfschiffes „Loreley“, heiraten. Im Finale sind Frühling und Trendl auf dem Schiff :

„Frühling : ,Das haben wir fein gemacht ! Wir fahren doch auf der Loreley, von der Heine sagt : ‚halb zog sie ihn – halb sank er hin‘ !

Trendl : ,Erstens ist das nicht die Loreley und zweitens ist das von Goethe !‘

Frühling : ,Das ist auch von Goethe ? Großartig ! Ich hab’ geglaubt, von dem ist nur Nathan der Weise !‘“

Hier hat das Publikum vielleicht gelacht, in der Anerkennung von Frühling am Rhein als eine Operetten-Version von Lessings Nathan der Weise.

Ebd., S. 91.

Ebd., S. 104.

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