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Zur moralischen Ökonomie des Buches

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Im Gespräch

Zur moralischen Ökonomie des Buches

Ein Gespräch mit Michael Hagner von Andreas Brandtner und Peter Reuter

http://doi.org/10.1515/abitech-2018-0016

Michael Hagner studierte Medizin und Philosophie und ist seit 2003 Professor für Wissenschaftsforschung an der ETH Zürich. Im Jahr 2000 wurde er mit dem Preis der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet, 2008 erhielt er den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Michael Hagner ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, der Leopoldina und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Historische Epistemologie der Humanwissenschaften, das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft sowie die Ge- schichte des wissenschaftlichen Buches. Sein neues Buch Wir Analphabeten. Über den Bildungstrieb der Wörter er- scheint 2018.

ABI Technik: Ausgangspunkt unseres Gesprächs ist Ihre Studie, die Sie unter dem Titel Zur Sache des Buches im Jahr 2015 vorgelegt haben. Wenn man diese Studie liest, merkt man rasch, dass sie auch Für die Sache des Buches heißen könnte. Denn Sie vertreten einen emphatischen Begriff des Buches, der stark mit Phänomenen wie Ent- schleunigung oder Konzentration korreliert. Wir möchten Sie eingangs bitten, diesen spezifischen Begriff des Bu- ches näher zu erläutern.

Michael Hagner: Die zentrale These, die ich in die- sem Buch vertrete, besagt, dass ich das Buch als For- schungs- und Artikulationsweise und als Medium in den Geisteswissenschaften für den Goldstandard halte. Die Geisteswissenschaften als ausdifferenzierte universitäre Disziplinen sind relativ jung, es gibt sie seit dem 19. Jahr- hundert, sie haben sich allerdings im Laufe der Zeit sehr stark verändert. Das Buch hat dabei eine zentrale Rolle für die Artikulation, die Kommunikation, für das Gedächtnis und die Ausbreitung geisteswissenschaftlicher Forschung gespielt. Meine Vorstellung von einem Buch in den Geis- teswissenschaften reicht von einem 60-seitigen Essay oder einem Buch mit Denkbildern – nehmen Sie als eines der schönsten Beispiele der deutschen Sprache Walter Benjamins Einbahnstraße, das für mich auf der Grenze von Literatur und Geisteswissenschaften liegt – bis hin zu einem mehrbändigen Kompendium, das von einem oder mehreren Verfassern geschrieben wird. Meine Frage ist:

Was geschieht mit dieser Form des Buches im digitalen Zeitalter? Davon handelt meine Studie.

A. T.: Ihre positive Bewertung liegt ja sehr stark beim ge- druckten Buch. Was leistet das gedruckte Buch im Beson- deren, eventuell auch im Unterschied zu seinem digitalen Äquivalent? Übrigens haben wir gesehen, dass Ihre Studie Zur Sache des Buches auch als E-Book erschienen ist.

M. H.: Ja, das ist auch gut so, ich muss Ihnen aber auch sagen, sie verkauft sich überhaupt nicht als E-Book. Meine Vermutung ist, dass nur ein paar Bibliotheken Zur Sache des Buches als E-Book gekauft haben. Nun betrachte ich das gedruckte Buch keineswegs als Gegensatz oder gar als Feind eines E-Books, sondern als ein anderes Medium,

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mit dem andere Dinge möglich sind. Das versuche ich mit einer Reihe von Argumenten zu begründen. Erstes Argu- ment: Das gedruckte Buch ist seit seiner Erfindung, also seit Gutenbergs Zeiten, anders als Marshall McLuhan es behauptet hat, ein sehr wandlungsfähiges Medium, das stets in Bewegung ist und das ständig technischen, media- len, gestalterischen, bildlichen, inhaltlichen Veränderun- gen unterliegt. Man kann nicht sagen, diese bedruckten und zusammengeleimten Papierblätter ergeben ein Medi- um, das der Vergangenheit angehört. Dies hat im Gefolge von McLuhan eine ganze Reihe von Digital-Aficionados behauptet, die ab den 1990er Jahren den Mund sehr voll genommen haben. Sie haben sich mit ihren Voraussagen alle geirrt. Also: Das Buch ist schon als Medium, das aus Papier besteht, sehr wandlungsfähig.

Zweitens hat sich das Buch in seiner Geschichte auch in den Geisteswissenschaften als Medium bewährt. Es ist nicht so, dass das Buch in der Krise wäre. Anders als das naturwissenschaftliche Publikationswesen, das in seiner herkömmlichen Form in einer existentiellen Krise steckt, hat das geisteswissenschaftliche Buch keineswegs zum Ruin der Bibliotheksetats geführt, Forscherinnen und For- scher kommen nach wie vor gut damit zurecht, sich neue, gedruckte Bücher aus Bibliotheken auszuleihen, und vor allem werden nach wie vor glänzende Bücher geschrie- ben.

Drittens ist das gedruckte Buch aus der Autorenper- spektive betrachtet ein Gegenstand, der durch seine Er- scheinung eine Art von symbolischer Belohnung für im Durchschnitt drei bis sieben Jahre Arbeit bedeutet. Wer glaubt denn im Ernst, dass sich irgendjemand dieser jah- relangen Arbeit unterzieht, um dann mit einem PDF-File unterm Arm stolz nach Hause zu gehen?

Viertens ist ein Buch eine Forschungsform, das heißt, auch ein Buch zu schreiben ist selbst noch Teil der For- schung, anders als in den Naturwissenschaften einen Arti- kel zusammenzustellen, wenn man schon alle Daten erho- ben und ausgewertet hat. Das Schreiben ist integraler Teil der geisteswissenschaftlichen Forschung, die vielleicht anfängt mit ersten Gedanken beim Spazierengehen, der Formulierung von Fragen und dazu passenden Auswahl von Gegenständen, seien es Bücher, Bilder oder Anderes, und das hört erst auf, wenn man die Druckfahnen bear- beitet. Diese Art von Forschung bedeutet eben nicht, wie in einem Artikel oder einem Spezialaufsatz, eine Frage bis in die vorletzte Verästelung auszuführen, und auch nicht wie in einem kurzen Essay von wenigen Seiten einen Ge- danken versuchsweise, ohne Gewähr und ohne Fangnetz, durchzuspielen. In einem Buch werden unterschiedliche Gedanken und Aspekte eines Themas oder auch unter- schiedliche Themen und Thesen sowie unterschiedliche

narrative Stränge zu einem Ganzen zusammengeführt.

Das kann natürlich niemals vollständig sein, hat aber in sich eine gewisse Kohärenz. Diese Art von Artikulations- form, diese Artikulationsmöglichkeit, ist durch nichts zu substituieren. Durch nichts! Sie ist ein Alleinstellungs- merkmal. Deswegen halte ich so sehr am Bücherschreiben fest. Scharf formuliert: Wenn es keine Bücher mehr gibt, wird es auch keine Geisteswissenschaften mehr geben.

Letzter und absolut essentieller Punkt  – Leseprak- tiken. Dem habe ich in meinem Buch ein ganzes Kapitel gewidmet. Ich habe zu meiner Überraschung festgestellt, dass die empirische Leseforschung außerordentliche Schwierigkeiten hat, diesen Gegenstand zu untersuchen.

Lernt bzw. versteht man mehr, wenn man ein gedruck- tes Buch liest, als wenn man ein Tablet hat oder ein E- Book – jedenfalls einen digitalen Text liest? Diese Frage ist aus verschiedenen Gründen schwer zu beantworten.

Meine Schlussfolgerung der Sichtung und Bewertung der empirischen Forschungen läuft darauf hinaus, dass sich das Lesen auf Papier und digitales Lesen überhaupt nicht tangieren müssen, sondern dass beide unterschiedliche Funktionen erfüllen und es gut ist, dass es beides gibt. Für Leserinnen und Leser, die erst anfangen zu lesen, die sich quasi in das professionelle Lesen einüben, ist es wichtig, ihre eigene Ökologie des Lesens zu entwickeln, um zu wissen, welches Medium – das gedruckte Buch oder ein digitaler Text – für sie günstiger oder sinnvoller und der Situation angemessen ist.

A. T.: Ihre Studie Zur Sache des Buches hätten Sie als rei- nes E-Book wohl nicht geschrieben. Aber sehen Sie denn einen Zugewinn darin, dass sie auch als E-Book vorliegt?

Würden Sie im E-Book überhaupt irgendeinen Mehrwert sehen?

M. H.: Nie und nimmer hätte ich die Studie als reines E- Book veröffentlicht, ebenso wenig wie irgendein anderes meiner Bücher. Ich kann mir auch nur schwer vorstellen, dass es viele Leserinnen und Leser gibt, die geisteswissen- schaftliche E-Books von vorne bis hinten lesen. Das wird mit gedruckten Büchern bekanntlich oft auch nicht getan, aber wir wissen, dass bei der Lektüre eines wissenschaft- lichen Buches von vorne nach hinten in der Regel die ge- druckte Form bevorzugt wird, insbesondere, wenn es sich um ein schönes und gut handhabbares Objekt handelt, das durch eine sorgfältige und lesefreundliche Ausstat- tung geprägt ist. Das sind äußerst nützliche, wenn auch natürlich nicht hinreichende Voraussetzungen dafür, um den narrativen und argumentativen Fluss im Buch nach- vollziehen zu können.

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Der Mehrwert eines E-Books ist der, dass man schnell nach irgendwelchen Namen oder Begriffen suchen kann.

Selbst wenn es in einem gedruckten Buch ein Namens- oder ein Begriffsverzeichnis gibt, ist die Suche in einem digitalen Text bequemer und auch effektiver, da Leserin- nen und Leser möglicherweise an Begriffen interessiert sind, die gar nicht in einem Sachwortverzeichnis enthal- ten sind.

A. T.: Nun erleben wir ja, dass die meisten E-Books nichts anderes sind als eine Simulation, manchmal eine schlech- te Simulation des gedruckten Buches, indem sie nur aus PDFs bestehen. Sehen Sie in der digitalen Publikations- kultur nicht noch mehr Potential für die Geisteswissen- schaften jenseits vom E-Book? Zu denken wäre hier etwa an Netzwerkanalysen und ähnliche Verfahren, wie sie in Briefeditionen zunehmend eingesetzt werden und die an der Universitätsbibliothek Gießen auch im Zuge der Digita- lisierung der Erschließung der Briefe Karl Ernst von Baers, des „Humboldt des Nordens“, eingesetzt werden sollen.

M. H.: Damit kommen wir auf ein Thema, das zurzeit un- ter dem Stichwort Digital Humanities behandelt wird und das vor allem auf dem beruht, was Franco Moretti „Distant Reading“ nennt,1 und das davon abhängig ist, dass mög- lichst große Datenmengen verfügbar sind. Bleiben wir bei dem von Ihnen erwähnten Beispiel des großen Naturfor- schers Karl Ernst von Baer, weil ich mich mit dem ausken- ne und selbst vor Jahren Briefe an ihn publiziert habe.2

Es gibt eine umfangreiche Forschungsliteratur zu von Baer, in der unterschiedliche ideologische Interessen zum Ausdruck kommen. Beispielsweise wurde in der sowjeti- schen Forschung und auch in der DDR-Forschung seiner- zeit mehrfach die These vertreten, dass von Baer eigent- lich entscheidende Teile der Evolutionstheorie Charles Darwins vorweggenommen hat. Man war der Meinung, dass man einen besonders fortschrittlichen und in die Zukunft blickenden baltischen Adligen wissenschafts- historisch konstruieren müsse, der Teil einer großen Fortschrittserzählung ist. Schauen Sie sich dagegen dieje- nigen Forschungen zu von Baer an, die im Westen, insbe- sondere nach dem Zweiten Weltkrieg, publiziert wurden.

Dort wird von Baer tendenziell als jemand bezeichnet, der an der Teleologie und an einer zielgerichteten Entwick- lung, die zu einer immer größeren Differenzierung führt, festhält, er wird also eher als nicht-darwinistisch gesehen.

1 Moretti, Franco. Distant Reading. Paderborn: Konstanz University Press, 2016.

2 Hagner, Michael. Sieben Briefe von Johannes Müller an Karl Ernst von Baer. Medizinhistorisches Journal 27 (1992) 138–155.

Das ist – stark vereinfacht gesagt – der Forschungsstand, der mit hermeneutischen Mitteln erreicht wurde. Jetzt kann man natürlich nicht nur die Werke von Baers, son- dern auch die gut 4 400 überlieferten Briefe durchforsten und z. B. versuchen, Netzwerkanalysen aufzubauen. Ich finde, das ist kein uninteressantes Forschungsprojekt und insofern ist die digitale Aufbereitung dieser Briefe, die dann höchstwahrscheinlich nie als gedrucktes Buch pu- bliziert werden, sondern hoffentlich allen Forscherinnen und Forschern offen im Netz zur Verfügung stehen, sinn- voll. Aber ob das ein revolutionär neues Instrument der Geisteswissenschaften ist, darüber bin ich noch sehr im Zweifel. Ich glaube, dass mit Digital Humanities und Netz- werkanalysen die eine oder andere Frage quasi mehr in die eine oder andere Richtung beantwortet werden kann, aber dass dadurch unser Erkenntnishorizont etwa in der Wissenschaftsgeschichte revolutioniert wird, das sehe ich noch nicht. Das sehe ich bei Franco Moretti und seinen Forschungen auch nicht, hier stehen Aufwand – riesiger Aufwand – und Ertrag bislang in einem gewissen Missver- hältnis zueinander. Wer sich also über Karl Ernst von Baer und seine Zeit gründlich ins Bild setzen möchte, tut viel besser daran, seine Schriften sorgfältig zu lesen als sie al- gorithmisch auszuwerten.

A. T.: Gibt es denn jenseits der Alternative gedrucktes Buch und E-Book Ihrer Meinung nach durch den Einsatz von Techniken und Verfahren aus den Digital Humani- ties im geisteswissenschaftlichen Bereich noch potentiell viel mehr Ansätze, die Erkenntnisse bieten oder einen Er- kenntnisfortschritt zumindest möglich machen, die sich aber vielleicht nicht mehr in gedruckten Büchern ohne weiteres abbilden lassen?

M. H.: Natürlich. Wer mit einem Corpus von 20 000 Brie- fen arbeitet, kann bezüglich Begriffen, Redewendungen, stilistischer Eigenarten usw. Fragen stellen, die mit den bisherigen Methoden außer Reichweite waren. Und die Resultate werden in Statistiken, Graphiken oder vielleicht auch Animationen abgebildet, die sich auf dem Bild- schirm oder in Vorträgen gut machen, aber will man da- mit Bücher füllen? Ich gebe Ihnen Recht, das ist nicht sehr sinnvoll. Für die Darstellung und Dokumentation solcher Forschung reicht das gedruckte Buch nicht mehr aus. Aber auch bei solcher Art von Forschung gilt, dass wir auf das Argumentieren in geschriebenen Texten nicht verzichten können. Wieso sollte das dann nicht in einem gedruckten Buch stehen? Alles andere, was an zusätzlichen techni- schen Daten zur Verfügung steht, sollte im Netz parallel zum Buch verfügbar sein, wenn man diese Information haben möchte. Das ist eine neue Entwicklung und auch

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eine Möglichkeit geisteswissenschaftlichen Publizierens, die es vor der Korpuslinguistik und vor der Informations- technologie, die riesige Datenmengen sehr leicht speicher- bar und abrufbar macht, nicht gegeben hat.

A. T.: Lassen Sie uns nochmals auf Ihr Buch zurückkom- men und zu den Geisteswissenschaften. In den Schluss- passagen findet sich folgende Aussage: „Bücher sind der maßgebliche Ausweis einer moralischen Ökonomie der Geisteswissenschaften.“3 Was meinen Sie mit diesem Be- griff einer moralischen Ökonomie der Geisteswissenschaf- ten?

M. H.: Der Begriff der moralischen Ökonomie stammt von dem marxistischen englischen Sozialhistoriker Edward P.

Thompson.4 Er hat ihn verwendet, um moralisch geleitete Verhaltensweisen englischer Unterschichten des 18. Jahr- hunderts zu kennzeichnen, also der Menschen, die vielfach als unorganisiertes und sittenloses Gesindel diffamiert worden waren. Thompson hat dagegen argumentiert, dass Proteste und Rebellionen der hungernden Bevölkerung auf moralischen Vorstellungen und Regeln von gerechter Verteilung von Lebensmitteln basierten, und das hat er als moralische Ökonomie bezeichnet. Das heißt also, dass be- stimmte als willkürlich und unberechenbar erscheinende Handlungen einen moralisch begründeten Hintergrund haben. Später wurde der Begriff von der Wissenschaftshis- torikerin Lorraine Daston in die Wissenschaftsgeschichte übernommen.5 Sie hat argumentiert, dass in der Frühen Neuzeit bestimmte wissenschaftliche Tugenden und Prak- tiken – die Neugierde, das Erstaunen, das Sammeln und die Klassifikation von Naturalien oder die Beobachtung – zu einer moralischen Ökonomie zusammenfügt wurden, mit der die Naturforscher ihre Autorität als Wissensprodu- zenten legitimierten. Mein Verständnis wiederum nimmt Elemente aus diesen beiden Positionen auf: Zum einen sehe ich das Buch im frühen 21. Jahrhundert als moralisch legitimierte Rebellion gegen die kleinteilige Häppchen- und Schnittchen-Mentalität der Wissensproduktion, zum anderen meine ich, dass sich im Buch die Tugenden und Praktiken der Geisteswissenschaften auf ideale Weise zu einer moralischen Ökonomie bündeln, und zwar in einer Verschränkung von Narration und Argumentation, die auch mit Fußnoten und Bibliographie beglaubigt wird.

3 Hagner, Michael. Zur Sache des Buches. Göttingen: Wallstein, 2015, 245.4 Vgl. Thompson, Edward Palmer. The Moral Economy of the English Crowd in the Eighteenth Century. Past & Present 50 (1971): 76–136.

doi:10.1093/past/50.1.76.

5 Vgl. Daston, Lorraine. The Moral Economy of Science. Osiris 10 (1995): 2–24.

Das mag alles eine Selbstverständlichkeit sein, aber ich meine, dass Geisteswissenschaftler damit nicht nur ihr Handwerk beherrschen, sondern eben einer moralischen Ökonomie entsprechen, die sich im Verlauf eines langen Zeitraums entwickelt und das Ansehen der Geisteswissen- schaften entscheidend mitbestimmt hat.

A. T.: Ist die Begründung dieser moralischen Ökonomie rein historisch oder gibt es auch eine normative Kompo- nente?

M. H.: Normativ vielleicht insofern, als ich nicht wüsste, wie die Geisteswissenschaften ihre Existenz rechtfertigen sollten, wenn sie diesen Anspruch aufgeben. Wie schon ge- sagt: Bücher sind trotz Aufsätzen, Ausstellungen, Filmen, Blogs, Hypertexten usw. der Leitstern der Geisteswissen- schaften, weil sie über die Zeit hinaus, in der und für die sie entstanden sind, für viele Generationen immer wieder etwas Neues bedeuten können. Ich füge sofort hinzu, dass das nicht erst eine Sache des Buchdrucks ist, denn wir ha- ben natürlich auch Herodot und Thukydides, Platon und Aristoteles, also Texte, die lange bevor die Technologie und damit verbunden die moralische Ökonomie des gedruckten Buches überhaupt bekannt waren, verfasst wurden. Aber diese Texte haben sich in das System sehr schön eingefügt, was sage ich: Sie haben dieses System mitbegründet.

A. T.: Wie wäre denn ein solcher normativer Anspruch an die wesentlichen Akteure im Feld der Geisteswissenschaf- ten heranzutragen oder ihnen abzuverlangen, also den Wissenschaftlern, den Verlagen, den Bibliotheken?

M. H.: Im Wesentlichen durch Selbstverpflichtung, so wie ja auch Naturwissenschaftler nur dann ihren Anspruch aufrechterhalten können, über das belastungsfähigste System zur Produktion von Erkenntnis zu verfügen, wenn sie ihrer moralischen Ökonomie treu bleiben. Dementspre- chend erwarte ich, dass auch Geisteswissenschaftler ihre moralische Ökonomie nicht ohne Not aufgeben und damit sowohl für Kolleginnen und Kollegen als auch für ein brei- teres Publikum ihre Arbeit – neben anderen Aufgaben na- türlich – in solche Bücher investieren. Auch von Verlagen erwarte ich, dass sie den Anspruch, an der moralischen Ökonomie des Buches mitzuwirken, nicht aufgeben und durch bestimmte Fokussierungen, durch programmati- sche Cluster und Programme und ein engagiertes Lektorat dazu beitragen, so wie sie es im 20. Jahrhundert vielfach getan haben. Und ich erwarte auch von Bibliotheken, dass sie solche Bücher in gedruckten Exemplaren anschaffen und selbstverständlich zur Verfügung stellen – was, um es nochmals zu sagen, E-Books keineswegs ausschließt.

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A. T.: Kommen wir noch auf zwei andere Begriffe, die in Ihrem Buch ebenfalls eine große Rolle spielen und zur Kennzeichnung des gegenwärtigen Wissenschaftsbetriebs bzw. des Publikationssektors verwendet werden, nämlich

„Informationskapitalismus“ und „akademischer Kapita- lismus“. Können Sie kurz erläutern, was diese beiden Be- griffe kennzeichnet, wie sie sich unterscheiden und ob es einen Zusammenhang zwischen ihnen gibt?

M. H.: Ich benutze diese Begriffe als Nicht-Ökonom, der sich in seiner bisherigen Forschung um ökonomische Fra- gen relativ wenig gekümmert hat. Aber bei der Arbeit an dem Essay Zur Sache des Buches habe ich gemerkt, dass ich ihn nicht schreiben kann, ohne mich in ökonomische Zusammenhänge einzuarbeiten. Informationskapitalis- mus oder auch Datenkapitalismus ist ein relativ neuer Begriff, der ganz schlicht denjenigen Teil einer kapitalis- tischen Wirtschafts- und Weltordnung bezeichnet, in dem mit Daten gehandelt und Geld verdient wird. Das bedeutet ganz konkret für das naturwissenschaftliche und zuneh- mend auch für das geisteswissenschaftliche Publizieren, dass sich Verlage als Information Provider verstehen, die bestimmte Dienste anbieten. Auch global agieren- de Unternehmen, die über eine Tradition als Verlage im herkömmlichen Sinn verfügen, wie z. B. Brill, De Gruyter, Elsevier oder Springer, sammeln, speichern und distri- buieren Daten bzw. Informationen auf ihren Plattformen und verdienen damit zunehmend Geld. Akademischer Ka- pitalismus ist ein schon etwas länger bekannter Begriff, der darauf hinweist, dass der akademische Alltag derjeni- gen Menschen, die in Universitäten arbeiten, zunehmend durch Kriterien geprägt wird, die einer kapitalistischen Konkurrenzsituation des freien Marktes und der Erfüllung bestimmter marktgetriebener Kriterien entsprechen. Ein Buch ist gut, wenn es viele Klicks und Downloads zu ver- zeichnen hat, wozu es natürlich digital und frei verfügbar sein muss. Eine Universität macht ihre Sache gut, wenn sie in Rankings weit oben ist, also gute Bewertungen hat.

Ein Wissenschaftler macht seine Sache gut, wenn er einen guten H-Faktor hat, gute Platzierungen für seine Artikel in Journalen mit hohen Impact-Faktoren vorweist. Das ließe sich endlos weiter fortsetzen.

A. T.: Die Kritik an der Ökonomisierung der Wissenschaft ist ja schon alt, bereits Friedrich Nietzsche hat diagnos- tiziert, dass „die Wissenschaft im ökonomischen Sinne immer nutzbarer“ wird.6 In Ihrer Studie vertreten Sie die These, dass durch die Entstehung einer digitalen Wissens- 6 Nietzsche, Friedrich. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. Leipzig: Fritzsch, 1874.

kultur die Geschäftsmöglichkeiten für die großen Player des Informationskapitalismus in einem bis dahin unvor- stellbaren Ausmaß gestiegen sind, wodurch zugleich der akademische Kapitalismus besorgniserregend ausgebaut wird und den Alltag der Forschung ebenso prägt wie die wissenschaftliche Publikationskultur.

M. H.: Ich habe vorhin nur kurz angedeutet, dass aka- demischer Kapitalismus und Informationskapitalismus eng miteinander verschränkt sind, und gerade deshalb kann mit akademischen Publikationen sehr viel Geld ver- dient werden. Um mehr Geld zu verdienen, als es über Jahrzehnte im 20. Jahrhundert getan wurde, als wissen- schaftliche Verlage eher moderate Familienunternehmen waren, kam nach dem Zweiten Weltkrieg die Idee auf, die Wissenschaftler auf ganz andere Weise in das System einzubinden. Man kann das ziemlich genau historisch lokalisieren, nämlich an dem englischen Wissenschafts- verlag Pergamon Press.7 Für die Wissenschaftler wur- den Cocktailpartys veranstaltet, sie wurden in exklusive Hotels geführt, sie bekamen Geld dafür, wenn sie eine Zeitschrift gründeten, oder sie wurden an den Gewinnen beteiligt. Das war vorher völlig unvorstellbar, und es pas- sierte lange, bevor von irgendwelchen Digitalisierungen oder dem Internet überhaupt die Rede war. Die Hoffnung der links gerichteten Vertreter der Budapest Open Access Initiative von 2001, dass durch die Freiheit des Netzes auch das Wissen frei für alle wird und damit die global agierenden Unternehmen, die den Markt beherrschen, zurückgedrängt werden, war leider völlig naiv und wurde vollständig falsifiziert. Es geht den entsprechenden Unter- nehmen 16 Jahre nach dem Budapester Appell besser als je zuvor. Nach einer gewissen Phase der Unsicherheit in den 2000er Jahren – erst haben sie Open Access gar nicht ernst genommen, aber als Politiker und Wissenschaftsor- ganisationen international aufgesprungen sind, fingen sie an, genauer hinzuschauen – sind sie in Klausur gegangen und haben ein neues Geschäftsmodell entwickelt, in dem sie ihr Geld nicht mehr vom Rezipienten, sondern vom Produzenten des Wissens erhalten. Gegenwärtig erhalten sie es sogar von beiden. Damit ist die Hoffnung, dass das wissenschaftliche Wissen aus den Händen dieser global agierenden Unternehmen genommen wird, zerstört. Der Informationskapitalismus befindet sich wahrlich in gol- denen Zeiten.

7 Vgl. Buranyi, Stephen. Is the staggeringly profitable business of scientific publishing bad for science? The Guardian, 27.06.2017.

https://www.theguardian.com/science/2017/jun/27/profitable-busi ness-scientific-publishing-bad-for-science (07.01.2018).

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A. T.: Sehen Sie Möglichkeiten für alternative Szenarien, und wenn ja, wer könnte relevanter Akteur sein? Oder bil- den die vielen Gründe wissenschaftsinterner wie -externer Art, die Sie anführen und die zu dieser Situation geführt haben, einen kaum mehr zu durchschlagenden Knoten?

M. H.: Ich sehe schon Möglichkeiten, aber hier muss man scharf zwischen Geisteswissenschaften und Naturwissen- schaften differenzieren. Bei den Naturwissenschaften bin ich der Meinung, dass zu Open Access keine Alternative mehr besteht und dass dieser Prozess unaufhaltsam wei- tergehen wird, nur sollte das nicht in der Form geschehen, die wir bisher gehabt haben. Dieser Knoten wäre nur zu durchschlagen, wenn die Wissenschaftler selbst das Pu- blikationsgeschäft wieder mehr in die eigene Hand neh- men. Es gibt nicht-kommerzielle Publikationssysteme wie die amerikanischen University Presses, die seit über hun- dert Jahren funktionieren, nur haben sie sich leider viel zu wenig um die Naturwissenschaften gekümmert. Das wäre ein Modell, aber da es sich im Wesentlichen auch nicht um Bücher handelt, sondern um Aufsätze, ist es nun an den Kolleginnen und Kollegen aus den MINT-Fächern, sich zu überlegen, welche Publikationsformen sie haben wollen.

Wollen sie noch das traditionelle Modell von Zeitschrif- ten, in dem eine begrenzte Anzahl von Artikeln in einem bestimmten Themengebiet publiziert wird? Wollen sie ein flaches Peer-Review-System, in dem nur geprüft wird, ob eine Arbeit methodisch sauber ist, aber Kriterien wie In- novation, Originalität, Relevanz keine Rolle spielen, oder wollen sie diese Kriterien doch beibehalten? Wollen sie ein Peer-Review-System-Pre-Publication oder wollen sie ein Peer-Review-System-Post-Publication oder wollen sie überhaupt keine Zeitschriften mehr haben und für eine ganze Disziplin nur einen großen Server betreiben, eine gigantische Plattform, auf der alles hochgeladen wird, und dann überlässt man alles der Diskussion, die daraus folgt? Schwierige Fragen, aber das müssen wirklich die Kolleginnen und Kollegen aus den Natur- und Technik- wissenschaften entscheiden. Allerdings glaube ich nicht, dass hier so schnell Licht am Ende des Tunnels sichtbar werden wird. Um es sehr deutlich zu sagen: Das Gros der Naturwissenschaftler hat die Entwicklung verschlafen, weil sie andere Prioritäten gesetzt haben und es ihnen gleichgültig war, ob sie im normalen Subskriptionsmo- dell, Green oder Gold Open Access oder auch hybrid publi- zieren. Entscheidend war und ist häufig, ob es ein Journal mit einem möglichst hohen Impact-Faktor ist, der sich auf der Publikationsliste im CV gut macht. Das muss gegen- wärtig auch so sein, weil es so verlangt wird, wenn man sich bewirbt oder Anträge schreibt. Die Verantwortung da- für liegt im Wissenschaftssystem selbst, nicht außerhalb.

Also kann auch nur die Wissenschaft selbst dieses frag- würdige Bewertungssystem ändern.

Und was die Rezeption der Zeitschriftenliteratur be- trifft, so ist alles gut und schön gewesen, so lange die Zeitschriften in gedruckter oder in elektronischer Form jeden Tag benutzbar waren. Vielen war es, sofern sie es überhaupt zur Kenntnis nahmen, völlig egal, ob die Bib- liotheken leiden und beispielsweise immer weniger geis- teswissenschaftliche Bücher anschaffen, weil die Sub- skriptionen für die Zeitschriften immer teurer werden. Ich würde das als einen kollektiven Egoismus bezeichnen und jetzt ist das Erwachen ziemlich schmerzhaft. Ich beobach- te seit ein, zwei Jahren, dass immer mehr Beteiligte sich die Augen reiben und sich mit der Sache beschäftigen.

Das ist richtig und notwendig, auch wenn im Moment nie- mand die große Lösung zu bieten hat.

In den Geisteswissenschaften liegt der Fall anders, da halte ich Open Access bei Büchern für außerordentlich problematisch. Natürlich ist es schön, wenn heute ein Le- ser in Buenos Aires ein E-Book lesen kann, das gestern in Wien hochgeladen wurde. Natürlich ist es gegenwärtig bei vollen Kassen machbar, die Publikation einer Monogra- phie mit ca. 12 000–18 000 Euro zu subventionieren, drei- hundert Exemplare für den Verkauf zu drucken und den Text gleichzeitig im Open Access zur Verfügung zu stellen.

Aber erstens ist das nur für die global agierenden Verla- ge ein gutes Geschäftsmodell. Den kleinen geht dabei mit ziemlicher Sicherheit die Puste aus und ein Aussterben der Bibliodiversität wäre für die Geisteswissenschaften Gift.

Zweitens kann sich die finanzielle Situation auch einmal ändern und dann geht das gedruckte Buch zuallererst vor die Hunde. Und drittens beobachten wir doch seit Jahren, dass auch in den Geisteswissenschaften zu viel publiziert wurde, insbesondere zu viele Sammelbände als Folge der Überforschung. Daran sind aber Wissenschaftsorganisa- tionen wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) nicht ganz unschuldig. Und klar ist, dass dieses Problem durch Open Access nicht gelöst wird, sondern eher ver- schärft.

A. T.: Lässt sich aus der dargestellten Situation eine Auf- gabe für die Bibliotheken ableiten, nämlich Publikations- plattformen anzubieten, die keinen kommerziellen Inter- essen folgen?

M. H.: Das ist eine sehr interessante Frage. Was fangen die Bibliotheken mit der gegenwärtigen Situation an?

Ich beginne mal mit der Negativ-Variante. Ich halte gar nichts davon, dass einzelne Universitätsbibliotheken der Meinung sind, sie können ihre Existenzberechtigung im 21. Jahrhundert dadurch erneuern und festigen, dass sie

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kleine Unterabteilungen für Publikationen gründen und sie als University Press organisieren, in denen Zeitschrif- ten gegründet werden und vielleicht auch Bücher erschei- nen. Hier führt der Open Access-Gedanke – ich sage es mal etwas überspitzt – nicht zur Veröffentlichung von zweit-, sondern von drittklassigen Publikationen. Um jetzt keinen Namen zu nennen, bezeichne ich eine solche Konstrukti- on mal als „Atlantis University Press“. Dort werden im We- sentlichen die Publikationen derjenigen Wissenschaftler publiziert, die an der „Atlantis University“ arbeiten. Damit werden Nestchen in einer wohligen Nische gebaut, in der auch noch das publiziert werden darf, was kein anderer haben will. Natürlich Open Access. Wie trostlos. Und was die MINT-Fächer betrifft, so wäre es in der Tat ein offenes und interessantes Experiment, wenn Bibliotheken in Zu- sammenarbeit mit Naturwissenschaftlern eine Art Redak- tion für Zeitschriften-Plattformen aufbauen könnten, so dass ein international agierendes Journal entstehen wür- de, das für Wissenschaftler in Tokyo genau so attraktiv ist wie für solche in Los Angeles oder Stockholm. Wenn wir von Zeitschriften oder von Artikeln reden, kann ich mir eine solche Plattform, die etwa an einer Universitätsbib- liothek angesiedelt ist, sehr gut vorstellen.

A. T.: Wobei der entscheidende Aspekt dann die Qualitäts- sicherung ist?

M. H.: Der entscheidende Aspekt ist, eine Infrastruktur zu bilden für Wissen und redaktionelle Kompetenz. Daraus entsteht dann ein professionell arbeitendes, zuverlässiges und tragfähiges Publikationsorgan, das für Wissenschaft- ler aus aller Welt attraktiv ist. Aber man stelle sich das bit- te nicht so einfach vor, an einer Universitätsbibliothek ein Journal, sagen wir, zur Immunologie zu gründen und bis zu fünfhundert Artikel pro Jahr zu publizieren. Die ersten Fragen, die gelöst werden müssten, wäre die der Heraus- geber und des Editorial Board und die nach einem Peer- Review-System. Und wenn man das alles geklärt hat, stellt sich die Frage, wie dieses Open Access-Journal organisiert und finanziert wird. Verlangt man APCs, und wenn ja, wie hoch sollen die Autorengebühren sein? Sind die für alle gleich oder nimmt man von Schweizern mehr als von Ni- gerianern? Und darf eine Universität in Deutschland aus juristischen Gründen überhaupt Autorengebühren neh- men, darf sie Einnahmen haben? Könnten die in die Zeit- schrift reinvestiert oder müssten sie an das entsprechende Ministerium abgeführt werden? Sie merken, worauf ich hinaus will: Deutschland ist von seiner Gesetzgebung und von der Organisationsstruktur der staatlich geförderten Universitäten her überhaupt nicht auf ein solches Szena- rio vorbereitet.

A. T.: Der Vorteil von Bibliotheken läge wohl am ehesten in ihrer Neutralität und Vertrauenswürdigkeit, auch wenn sie nicht über das Know-how verfügen, um mit internati- onal agierenden Verlagen konkurrieren zu können. Aber der entscheidende Impuls müsste wohl von den Wissen- schaftlern ausgehen, und es bliebe das Problem der Quali- tätskontrolle, ohne die kein Reputationsgewinn erreichbar ist und damit nicht die Möglichkeit, symbolisches Kapital anzusammeln. Könnten hier Aufgaben von den Bibliothe- ken für die Wissenschaftler übernommen werden?

M. H.: Das halte ich für unwahrscheinlich, es sei denn, Bibliotheken wollten sich vom Sammeln, Ordnen, Konser- vieren und Bereitstellen von Forschungsliteratur zumin- dest teilweise verabschieden und sich der Publikation von Forschungsliteratur widmen. Dann reichen Neutralität und Vertrauenswürdigkeit aber nicht aus, es müsste ein erheblicher Professionalisierungsschub in Richtung ver- legerische Kompetenz erfolgen. Das erfolgreiche Modell, das wir in dieser Hinsicht kennen, sind die amerikani- schen University Presses, die aus den Universitäten her- aus zu eigenständigen Verlagen geworden sind. Ob so et- was im 21. Jahrhundert in veränderter Art und Weise noch einmal funktionieren kann wie vor über hundert Jahren in den USA, darüber müsste ich mehr nachdenken, als ich es bisher getan habe. Vor allem müssten Fragen be- antwortet werden wie diese: Was soll publiziert werden?

Wer wären die beteiligten Akteure? Welche Dimensionen soll das Vorhaben annehmen? Welches Profil sollte auf- gebaut werden? Ohne eine leidenschaftliche und kompe- tente Arbeit an solchen Fragen wären alle Bemühungen um eine Verbesserung des geisteswissenschaftlichen Pu- blikationswesens sinnlos. Sie werden es mir nachsehen, wenn ich auf ein in meinen Augen sehr schönes Projekt hinweise, an dem ich selbst von Anfang an beteiligt bin:

Konstanz University Press. Dort erscheinen pro Jahr exakt zwölf Bücher, die von einem Herausgebergremium nach viel Lektüre und kontroversen Diskussionen ausgewählt werden. Wir arbeiten selbstverständlich ohne Bezahlung, aber die Universitätsbibliothek Konstanz hat dankens- werterweise finanzielle Mittel für eine Lektorenstelle zur Verfügung gestellt, die auch unverzichtbar ist. Konstanz University Press war bis Ende 2017 Imprint des Fink Ver- lags. Wir haben druckfertige Files abgeliefert, Fink hat schön und sorgfältig gestaltete Bücher gedruckt und vertrieben. Als der Verlag vor einem Jahr an den börsen- notierten Verlag Brill in Leiden verkauft wurde, konnten wir, das Herausgebergremium, uns nicht vorstellen, mit diesem global agierenden Konzern zusammenzuarbeiten.

Deswegen wurde die Zusammenarbeit beendet. Glückli- cherweise ist Konstanz University Press nun Imprint des

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Wallstein Verlags und wir können weiterarbeiten. Aber bitte: zwölf sorgfältig evaluierte und lektorierte Bücher im Jahr, von denen nur wenige aus der Universität Konstanz selbst kommen. Und das ist auch wichtig, denn selbst- verständlich gibt es in den Geisteswissenschaften eben- so wie in den Naturwissenschaften seit Jahrzehnten eine klare und auch verständliche Reputationshierarchie, die bis auf den heutigen Tag auch recht gut funktioniert. Es gehört zum symbolischen Kapital von Wissenschaftlern, an einer bestimmten Universität oder an einer bestimmten Forschungsinstitution zu arbeiten, und es trägt auch zum symbolischen Kapital bei, in einem bestimmten Verlag zu publizieren. Aber ich habe noch nicht gehört, dass es in irgendeiner Weise zur Reputationssteigerung beiträgt, in irgendeiner der deutschsprachigen University Presses zu publizieren. Über die Reputation, die sich Konstanz University Press erworben hat, müssen selbstverständ- lich andere befinden. Aber wenn wir dieses Projekt mal ausklammern, sehe ich im Moment einfach nicht, dass die Bibliotheken hier einen besseren Job machen könnten als die Verlage. Zur Weiterführung der bisherigen Praxis gehört es natürlich, dass die Bibliotheken Bücher kaufen.

Als ich 1992 meinen ersten Sammelband gemacht habe, lag die Auflage, glaube ich, bei siebenhundert Exempla- ren, und das Geschäftsmodell sah so aus, dass mit einem Verkauf von vierhundert Exemplaren kalkuliert wurde:

dreihundert an Bibliotheken und vielleicht hundert über die Buchhandlungen, und für die restlichen, die im Laufe der Jahre dann vielleicht noch abgesetzt würden, benötig- te man einen Druckkostenzuschuss. Über solche Zahlen würde man sich heute glücklich schätzen. Das liegt auch daran, dass die Tendenz zum Bücherkauf bei Privatper- sonen zurückgegangen ist, was damit zusammenhängt, dass die theoriegeladenen Geisteswissenschaften als Ori- entierungswissen und mit ihnen das Buch an Bedeutung verloren haben. Theorie ist nicht mehr Lebensform der jüngeren Generation, wie dies Philipp Felsch sehr schön beschrieben hat.8 Aber es hängt zu einem größeren Teil auch damit zusammen, dass die Bibliotheken viel weniger solche Bücher kaufen.

A. T.: Sie haben am Anfang unseres Gesprächs betont, dass sich das geisteswissenschaftliche Buch in keiner Kri- se befindet. Sind wir jetzt nicht in dem Gespräch an ei- nem Punkt angelangt, bei dem wir feststellen, dass es sich doch in einer Krise befindet? Und haben Sie nicht auch Ihre Studie Zur Sache des Buches deswegen erarbeitet, weil Sie gegen diese Krise anschreiben?

8 Vgl. Felsch, Philipp. Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960–1990. München: Beck, 2015.

M. H.: Klar, im Verhältnis zu den goldenen Jahrzehnten des geisteswissenschaftlichen Buches zwischen 1960 und 1985 ist jede Zeit danach Niedergang und Krise. Allerdings würde ich sagen, dass diese 25 Jahre die Ausnahme dar- stellten, alles andere ist der Normalfall. Mein Argument ist ja, dass das Buch insofern nicht in der Krise ist, als weiterhin sehr gute Bücher geschrieben werden und diese Bücher auch weiterhin gelesen werden und die Rezeption erfahren, die sie verdient haben. Manche werden über- schätzt, andere werden unterschätzt. Das kennen wir al- les seit Jahrhunderten. Manchmal kommt die Rezeption sehr spät, manchmal kommt sie ganz schnell und heftig, aber nach drei Jahren ist das Buch erst einmal vergessen.

Das wissen wir alles, das ist kein neues Phänomen. In der Hinsicht ist das geisteswissenschaftliche Buch nicht in der Krise. Aber wenn man die veränderten Rahmenbe- dingungen betrachtet, insbesondere die Tatsache, dass in den Bibliotheken ein immer größerer Anteil an Geldern für E-Ressourcen ausgegeben wird, wofür die Geisteswis- senschaften nur zu einem geringen Teil verantwortlich sind; und wenn man bedenkt, dass in der Öffentlichkeit viel zu viele Akteure die verheerende Ansicht vertreten, dass Bücher bitte ebenso wie Filme und Musik möglichst umsonst sein sollten, dann muss man natürlich konstatie- ren, dass es eine kritische Situation gibt und sowohl die Buchkultur als auch die Geisteswissenschaften in Gefahr sind, massiven Schaden zu nehmen. Diese Entwicklung durch empirische und historisch fundierte Argumente zu analysieren, da haben Sie Recht, war auch der Anspruch meiner Studie.

A. T.: Kommen wir nochmals zur Rolle der wissenschaft- lichen Bibliotheken. Wo sehen Sie denn aktuell die Chan- cen und Herausforderungen für Bibliotheken? Wie kann die Bibliothek langfristig ein konstruktiver Akteur inner- halb des Wissenschaftssystems sein?

M. H.: Ich kann es nicht besser sagen als Ulrich Johannes Schneider, der Direktor der Universitätsbibliothek Leipzig, der die Bibliothek als „Wissensraum“ bezeichnet hat;9 die Bibliothek mit ihrem Herzstück, dem Lesesaal, ist also ein Raum, in dem Bücher nicht nur zu Forschungszwecken gelesen werden, sondern in dem Bücher entstehen, viel- leicht sogar geschrieben werden. Lesesaal und Freihand- magazine sind Räume, in die man Tag für Tag geht und mit seinen Forschungen weitermacht. Ich glaube, das ist

9 Schneider, Ulrich Johannes. Die Bibliothek als Wissensraum. In:

Die Zukunft der Wissensspeicher. Forschen, Sammeln und Vermitteln im 21. Jahrhundert. Hrsg. von Jürgen Mittelstraß, Ulrich Rüdiger. Kon- stanz: UVK Verlagsgesellschaft, 2016, 147–159.

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die stärkste Eigenschaft, die zumindest Forschungsbib- liotheken seit dem 19. Jahrhundert haben und im 21. Jahr- hundert weiter haben werden. Das ist etwas ganz anderes als beispielsweise das Rolex Learning Center in Lausanne.

Diese wunderbare Architektur von SANAA, die sehr gut angenommen wird, ist für mich keine Bibliothek, es wer- den dort wahrscheinlich keine Bücher entstehen, es er- füllt einen anderen Zweck. Und das finde ich auch völlig in Ordnung so. Aber Bibliotheken sind die Orte, an denen geforscht wird. Sie haben das Charisma, die Bestände, den Service und auch die Intelligenz ihrer Mitarbeiterin- nen und Mitarbeiter, die eben nicht nur Informatiker und Datenwissenschaftler sein dürfen, sondern auch die in- haltliche Kompetenz haben, diesen Forschungsprozess zu ermöglichen.

A. T.: Bei der Vorbereitung auf unser Gespräch ist uns eine Formulierung von Ihnen untergekommen, die uns sehr gefallen hat. In einem Beitrag für die Neue Zürcher Zei- tung schreiben Sie, dass Bibliotheken „zivilisierte Räume“

sind.10 Können Sie dazu noch ein wenig mehr sagen?

M. H.: Das habe ich als Angehöriger einer Generation, die noch mit den Scherbenhaufen, die der Nationalsozialis- mus hinterlassen hat, groß geworden ist, und auch als Post-68er, als der ich mich fühle, immer so verstanden:

Eine Zivilisation, die Bücher entsorgt oder gar verbrennt und darin auch noch ein symbolisches Heil sieht, ist das Gegenteil von zivilisiert, nämlich barbarisch. Und ein Ort, in dem Bücher nicht nur aufgestellt werden und verstau- ben, sondern in dem mit diesen Büchern gearbeitet wird und in dem dann auch in der Cafeteria oder in anderen Räumen Konversation gepflegt wird, stellt einen zivilisier- ten Raum dar. Insofern ist eine Bibliothek ein zivilisier- ter Raum, in dem wir unsere eigenen zivilisatorischen An wandlungen einüben und beobachten können. Und zwar ohne Smartphone und sonstige Ablenkung durch das Internet. Der Punkt ist, dass bei allen Umfragen unter Geisteswissenschaftlern, die ich kenne, die Forscher von jungen Doktoranden bis hin zu Emeriti im Wesentlichen dasselbe sagen: Wenn sie ein Buch gründlich lesen, dann nehmen sie eine gedruckte Version, ganz gleich, ob es eine Fotokopie ist oder das Buch selbst. Sie lesen es nicht auf dem Bildschirm. Die gedruckten Formen des Buches und die digitalen Formen des Buches können sich nicht gegen- seitig substituieren. Sie haben unterschiedliche Funktio-

10 Hagner, Michael. Bibliotheken ohne Bücher? Über eine Zukunfts- vision, die ein Horrorszenario sein könnte. Neue Zürcher Zeitung, 12.02.2016. https://www.nzz.ch/feuilleton/ueber-eine-zukunftsvisi on-die-ein-horrorszenario-sein-koennte-1.18693786 (07.01.2018).

nen. Daraus folgt für mich, dass Bibliotheken nicht, wie es manchen Akteuren vorzuschweben scheint, zu einer Art Appendix der Social Media gemacht werden, also ein Ort, an dem vordringlich sozialer Austausch gepflegt wird. Im Gegenteil: Die Bibliothek sollte der Ort sein, an dem man davor seine Ruhe hat. Ich war kürzlich völlig geplättet, dass der 18-jährige Sohn meiner Frau, ein Digital Native durch und durch, den Lesesaal der Österreichischen Nati- onalbibliothek in Wien für sich entdeckte: Da könne er in Ruhe und ungestört arbeiten. Nicht schlecht, oder? Inso- fern also verstehe ich Bibliotheken neben all ihren wich- tigen Aufgaben als zivilisierte Orte, in denen ein Umgang mit Büchern, mit Texten, mit geistigen Produkten und selbstverständlich mit anderen Menschen gepflegt wird.

A. T.: Haben Sie denn eine Bibliothek, die für Sie Ihr Ideal repräsentiert?

M. H.: Ich hatte nun fast zwei Stunden Zeit, über diese Frage nachzudenken, aber es wäre auch meine Spon- tanantwort gewesen: Es ist die Bibliothek, in der ich Tei- le meiner Doktorarbeit geschrieben habe, nämlich die Staatsbibliothek zu Berlin, der Bau von Hans Scharoun in der Potsdamer Straße. Das war für mich, noch mehr als die Bibliothek der Freien Universität in Dahlem, der Initia- tionsort für Arbeiten und Forschen in der Bibliothek. Viele der Bücher, die ich für meine Dissertation benötigte, wa- ren gar nicht da, weil die Bibliothekssituation infolge des Kriegs und der Teilung der Stadt so katastrophal war, wes- wegen ich dann auch häufiger in München in der Bayeri- schen Staatsbibliothek gearbeitet habe. Ich bin zweimal nach Florenz gefahren, ich habe in Wien und in Göttingen gearbeitet, weil dort Schriften aus dem 17. und 18. Jahr- hundert waren, die in Berlin verschollen waren oder sich in Ost-Berlin befanden oder ich weiß nicht wo. Das war ein unglaubliches Chaos in den 1980er Jahren. Aber dieses Charisma, das zu einer Bibliothek gehört und das auch mit ihrer Architektur zusammenhängt, das habe ich eindeutig in Scharouns Staatsbibliothek erfahren.

A. T.: Ja, das können wir gut nachvollziehen. Sehr schön, vielen Dank!

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Autoreninformationen

Dr. Andreas Brandtner

Johannes Gutenberg-Universität Mainz Universitätsbibliothek

Jakob-Welder-Weg 6 55128 Mainz

a.brandtner@ub.uni-mainz.de

http://orcid.org/0000-0003-3883-6295

Prof. Dr. Michael Hagner ETH Zürich, RZ

Professur für Wissenschaftsforschung Clausiusstrasse 59

8092 Zürich mhagner@ethz.ch

Dr. Peter Reuter

Justus-Liebig-Universität Gießen Universitätsbibliothek

Otto-Behaghel-Straße 8 35394 Gießen

peter.reuter@bibsys.uni-giessen.de http://orcid.org/0000-0001-5039-2020

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