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Hellmut Dittrich

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Rezensionen

Bezalel Bar-Kochva: The Seleucid army. Organization and tactics in the great cam- paigns. Cambridge, London, New York, Melbourne: Cambridge University Press 1976.

XI, 306 S. ( = Cambridge classical studies.)

Das Buch untersucht Stärke, Aufbau, Organisation und Ergänzungsmöglichkeiten der seleuki- dischen Armee und demonstriert in einem 2. Teil (S. 103 ff.) anhand der bekannten Schlachten die auf diesen Elementen beruhende Einsatzfähigkeit. Was der Verfasser dabei unter Zuhilfe- nahme und ζ. T. in Auseinandersetzung mit einschlägiger Forschung (70 S. Anmerkungen) her- ausarbeitet, ist alles in allem nicht ganz neu: Als Detailuntersuchung eines kaum genügend gewürdigten Materials indes erscheint es für künftige Erforschung von taktischen wie militär- soziologischen Fragen von unschätzbarem Wert.

Was das Buch vermittelt, ist der Eindruck eines bis ins letzte durchorganisierten Heereskörpers, regional weit verteilt und doch als in sich kompaktes Ganzes zu sehen. Dieser Heereskörper garantierte allein den Bestand des Reiches nach außen wie nach innen, in ihm allein scheint jene Reichskonzeption eines Alexander gewahrt, auch wenn das Seleukidenimperium selbst gerade in dieser Frage über Ansätze kaum hinauskam. Bei all dem freilich wird, stärker als hier betont, die Tradition des makedonischen Reiches mit seinem Feudalsystem des Hetairenwesens im Hintergrund sichtbar, eine Form des Reichsaufbaues, wie sie sich in keinem der hellenistischen Staaten mehr durchführen ließ, hier aber allein die ethnische Heterogenität zu überwinden ver- mochte. So liefert ein System von Ansiedlungen griechischer und makedonischer Soldaten in Syrien, Mesopotamien und Kleinasien (s. dazu Liste S. 22ff.) um Pella und Apamea fast 200 Jahre hindurch eine stets verfügbare Streitmacht von 44000 Mann Infanterie und 8000 Reitern mit stets bereitstehenden Reserven, dies neben den υπαίθριοι als dauernd garnisonierender ste- hender Armee (zu OGIS 229 s. S. 57, 214), wobei sich die Nebenabsicht einer Hellenisierung etwa in der entsprechenden Ansiedlung jüdischer Militärkolonisten in Kleinasien (S. 21) variie- ren läßt. Sie paßt zur entsprechenden Gewinnung jüdischer Militärkolonisten auch durch die Ptolemäer angesichts eines für wirkliche Hellenisierung unterworfener Länder von vornherein kaum ausreichenden griechischen Menschenpotentials. Mit Recht legt der Verfasser bei all dem weniger Wert auf die Frage nach dem in der Forschung bisher immer überbetonten Rechtscha- rakter der Militärsiedlungen: Für die Angesiedelten selbst kann angesichts königlicher Kon- trolle die Pseudoautonomie des πολίσματα-Status immer nur nebensächliche Formalität gewe- sen sein (zur Terminologie der Κατοικίαι s.S. 37). Unklar freilich bleibt im einzelnen, wie sich der Verfasser die Probleme von Erbzwang, ehelicher Verbindung und auch Zusammenleben mit Einheimischen und nicht zuletzt die des Bürgerrechtes vorstellt. Denn an die hier vermutete, durch Generationen aufrechterhaltene ethnische Homogenität der Militärkolonisten ist nur schwer zu glauben, kann doch der hierfür nötige Bevölkerungszustrom aus dem Mutterland nicht unbegrenzt angehalten haben; der Vergleich mit Nachrichten aus anderen Reichen gibt zu Bedenken Anlaß, mögen auch die überlieferten Stärkezahlen der Verbände als gerechtfertigt er- scheinen. Anderseits liegt nahe, daß auch bei allmählicher Vermischung mit einheimischen Ele- menten ihrem rechtlichen Sonderstatus nach diese angesiedelte Militärbevölkerung nicht nur ein unvergleichliches Reservoir auch an Führungsschichten darstellte, sondern als Substrat einer wirklichen Reichsbevölkerung fungierte, wie es als die Fortführung von Gedanken Alexanders zu verstehen ist: Daß hier wie dort die Entwicklung äußerer Umstände das Konzept vorzeitig zum Scheitern brachte, widerlegt seine Originalität nicht. Plausibel erscheint denn auch die Ar- gyraspidenhypothese des Verfassers (S. 47ff.), wonach die mit dem Terminus bezeichnete Garde von 10000 Mann als Ausbildungs- und Eliteverband zu verstehen ist, den jeder der Mili- tärsiedler zu durchlaufen hatte, um sich Qualitäten anzueignen, die ihm auch für den Fall der Neuaktivierung im Kriegsfalle blieben. Die Heranziehung auch von σύμμαχοι (S.48f.) aus reichsuntertanen und verbündeten Ländern hat darüber hinaus wohl personalpolitische Hin- tergründe, während man sich den Verzicht auf Babylonier und Assyrer (s. bes. S. 51 ff.) aus de- ren notorisch schlechten militärischen Qualitäten zu erklären hat. Für den Aufbau dieser Armee sind Nachrichten nur von Kriegen erhalten (vgl. S. 87 ff.). Doch läßt die Verwendung des Stra- tegentitels in Heer wie Zivilverwaltung (vgl. S. 88) anders als in Ägypten etwa auf die Fernziele seleukidischer Militär- und Bevölkerungspolitik schließen. Gleiches gilt für die Rolle des 187 M G M 1 / 7 9 ηγεμών (vgl. OGIS 101) als Identifizierung von Offizier und Beamter der Reichs Verwaltung.

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Für die verschiedenen (18) Schlachten hat der Verfasser eine Reihe topographischer Voruntersu- chungen geleistet, die die von ihm erarbeiteten Thesen erst verständlich machen und zugleich über bisherige Erkenntnisse hinausführen. Bei all dem erweist sich die militärische Überlegen- heit der Seleukiden immer wieder. Das herbe Urteil des Verfassers über Antiochos III.

(S. 128 ff.) wäre gerechtfertigt, ginge man von der Norm einer bestimmten Taktik aus: Die Nie- derlage von Raphia 217 erklärte sich demnach aus allzu starrem Festhalten an diesen Prinzipien (vgl. S. 138) ohne Rücksicht auf die besonderen Bedingungen der Situation. Die erstmals an- klingende Notwendigkeit, Menschen zu sparen, ähnlich wie die auf ägyptischer Seite erstmals massierten μάχιμοι, scheinen charakteristisch für eine Zeitenwende. Eine Stärkung des jüdi- schen Staates nach 160 durch Rom ist nicht zu übersehen und wird den Hintergrund makkabä- ischer Politik bilden (bezeichnend für römische Politik scheinen bereits die griechischen Reser- ven auf ägyptischer Seite 200 bei Panion als Auftakt römischer Einmischung im Osten nach Be- endigung des 2. Punischen Krieges, vgl. Polyb. 15,25,66; Liv. 31,43). In die römische Politik wird sich auch die Unterstützung des Antiochos Sidetes durch jüdische Bundestruppen im Par- therkrieg einfügen. Der Zerfall des seleukidischen Militärpotentials wird zu Recht aus den Kämpfen des 2. Jahrhunderts, Prätendentenkriegen und parthischer Bedrohung erklärt. Die Folgen indirekter römischer Einmischung seit 190, besonders aber seit der Regierung Antiochos IV., sind bei all dem wohl kaum katastrophal genug zu veranschlagen. Ich möchte glauben, daß um diese Zeit wohl auch das Menschenpotential der Siedlungsgebiete erschöpft war, und Reser- ven aus ihnen nicht mehr kamen. Im übrigen lassen die Just. 38,10 für 129 gegebenen Zahlen auch auf einen inneren Verfall schließen. Gerhard Wirth

The Journal of Modern History. 49 (1977) No. 4, December. Special Issue on the English Revolution. Chicago, 111.: University of Chicago Press 1977, pp. 557-660.

The Journal of Modern History. 50 (1978) No. 1, March. Chicago, 111.: University of Chicago Press 1978, pp. 1-71.

Mit der legendären Schlacht bei Bosworth 1485 ging eine lange Epoche der englischen Ge- schichte zu Ende Im Krieg der beiden Rosen der Häuser York und Lancaster zerbrach vor al- lem die Macht der Feudalaristokratie, jener kohärenten und sich gleichzeitig bekämpfenden Gruppe der »King Makers«. Die neue Dynastie der Tudors begann, den schwankenden Boden ihrer frisch gewonnenen Macht zu befestigen und den englischen absolutistischen Zentralstaat zu schaffen. Sie tat dies - vor allem unter Heinrich VIII. und dessen Staatssekretär Thomas Cromwell2 - mit Hilfe einer sich gerade, zum Teil aufgrund der Säkularisationspolitik des Kö- nigs formierenden Schicht des unteren Adels, der Gentry3. Heinrich VIII. nutzte diese gesell- schaftlichen »newcomers«, um den politischen Machtverlust des Feudaladels zu zementieren.

Indem unter ihm das Unterhaus (der Sitz dieser Gentry) zur Absegnung entscheidender natio- naler Fragen herangezogen wurde, erfuhr es damit eine faktische, wenn auch von der Monarchie nicht beabsichtigte Aufwertung. Langfristig erklärt sich daraus die weitere Entwicklung bis zur Mitte bzw. dem Ende des 17. Jahrhunderts. Die Erosion der königlichen Macht kulminierte im englischen Bürgerkrieg 1642 bis 1648, in der Abschaffung der Monarchie 1649 und, nach dem Scheitern einer königlosen Herrschaft und der Restauration der Stuarts 1660, im schließlichen Sieg der »landed gentry« in der sogenannten Glorreichen Revolution der Jahre 1688/894. Die Ereignisse der 40er und 50er Jahre des 17. Jahrhunderts, vor allem die Zeit von 1647 bis 1653 s, werden heute als »Englische Revolution« bezeichnet. In dieser Revolution - der ersten der Neu- zeit - wurden letztlich alle jene Ansprüche angemeldet, aus denen die politische und gesell- schaftliche Rolle des Bürgers heutiger Prägung und damit die parlamentarische Demokratie er- wuchsen.

Seit jeher wurde diese Auseinandersetzung als emanzipatorischer Kampf interpretiert. Dabei wechselten allerdings die Betrachtungsweisen6. Von einer rein konstitutionellen Interpretation im Sinne der Whig-Schule ist man in diesem Jahrhundert abgekommen; es wurden und werden zunehmend größere Teile der Bevölkerung in die Erklärung mit einbezogen, die Revolution in

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ihren Ursachen und Folgen wird nach »unten«, in Richtung »Volk« ausgebaut und gedeutet.

Diese Sicht ist das Generalthema des Werkes von Christopher Hill7 und jüngst wieder von des- sen Schüler Brian Manning8 aufgegriffen und bekräftigt worden.

Das vorliegende Sonderheft der bekannten amerikanischen Zeitschrift sowie die nachfolgenden Repliken müssen daher einiges Interesse beanspruchen, zumal auch in der Bundesrepublik.

Denn die englische Revolution ist wohl allzulange einer äußerst deterministischen Betrach- tungsweise unterzogen worden. Dabei wurden Unwägbarkeiten in den Entscheidungen der po- litischen Akteure häufig nahezu vergessen oder doch zu gering geschätzt. Die Revolution - die- sen Eindruck mußte gewinnen, wer die Debatte der Historiker vor allem in den letzten 30 Jah- ren verfolgte - war unvermeidlich. Gerade im akademischen Lehrbetrieb der Bundesrepublik scheint sich die englische Revolution als »Hill's Revolution« zu präsentieren. Die hier vorgeleg- ten Aufsätze geben in dieser Hinsicht reichlich Stoff zum Nachdenken. Dieses Nachdenken ist im übrigen fällig. Denn nachdem die Debatte um die gesellschaftlichen Ursachen der Revolution sich im Versiegen der berühmten Gentry-Kontroverse zunächst einmal erschöpft hat bzw. auf der Ebene der Counties weitergeht (und zu immer stärkerer Relativierung einer »nationalen«

Generalthese von der Rolle der Gentry führt), verlagerte sich das Interesse auf andere gesell- schaftliche Gruppen. Nach einigen Studien zur Rolle des Bürgertums9 sind nun offenbar die Lords, der Hochadel, an der Reihe. Maßgeblich ist dabei allerdings nicht so sehr die Frage nach einer einheitlichen Erklärung ihres Verhaltens als Gruppe. Dies wäre auch verwunderlich, da die Debatte um die Gentry gezeigt hat, daß solche Thesen quellenmäßig einfach nicht haltbar sind. Vielmehr muß das Interesse dem Spielraum einzelner Personen oder Gruppierungen gel- ten. Das Interesse wendet sich also wieder dem Politischen zu.

Im Mittelpunkt der meisten Artikel des Sonderheftes stehen explizit die Peers (John K. Gruen- felder: The Electoral Patronage of Sir Thomas Wentworth, Earl of Strafford, 1614-1640; Paul Christianson: The Peers, the People, and Parliamentary Management in the First Six Months of the Long Parliament; Clayton Roberts: The Earl of Bedford and the Coming of the English Revolution; Mark Kishlansky: The Emergence of Adversary Politics in the Long Parliament;

James E. Farnell: The Social and Intellectual Basis of London's Role in the English Civil Wars benutzen einen erweiterten Ansatz). Methodisch reicht die Palette vom prosopographisch-so- ziologischen Ansatz bis zur politischen bzw. Ideengeschichte. Nach Lektüre dieser Artikel stellt sich die Landschaft der Revolution, und um so mehr die ihrer Ursachen, anders als ge- wohnt dar. Vereinfacht lassen sich die Thesen der vorliegenden Studien folgendermaßen zu- sammenfassen:

Weder die »Commons« noch »das Volk« haben den Bürgerkrieg angezettelt oder auch nur ge- wollt. Von einer Revolution sei schon gar nicht die Rede gewesen. Vielmehr handelte es sich um einen Machtkampf zwischen bestimmten Gruppen des Parlaments und dem König. Auf seiten des Parlaments waren prominente Mitglieder der Peerage federführend. Dabei standen folgende Fragen im Zentrum des Interesses:

1. Krone und Peerage hatten gemeinsame Interessen. Noch immer waren die Peers »die« politi- sche Schicht des Landes und fühlten sich auch als solche. Durch die Wirksamkeit des Patronage- systems war ihre Macht nicht nur auf das königliche Council und das Oberhaus beschränkt, sondern erstreckte sich auch auf das Unterhaus (wo »die« Klientel der Peers saß) und auf reli- giöse wie merkantile Zirkel.

2. Nicht nur Karl I., sein fähigster (und daher von der Opposition Anfang der 40er Jahre auch schnell zu Tode gebrachter) Berater Strafford und der Erzbischof Laud hatten ein politisches Programm, nicht nur das Unterhaus unter Führung von John Pym hatte seine Vorstellungen von der erforderlichen Umverteilung der Macht; auch bei den Peers gab es in dieser Richtung konkrete Planungen. Ganz offensichtlich verkannte Karl I. dies in seiner Inflexibilität und half so ungewollt mit, eine aristokratische Opposition entstehen zu lassen.

3. Im Kielwasser der Gentry-Kontroverse haben sich offensichtlich die meisten Historiker dem soziohistorischen Determinismus ergeben. Fasziniert von der Entdeckung gruppen- bzw. klas- senspezifischer Interessen gingen sie wie selbstverständlich davon aus, daß der Konflikt zwi- schen der königlichen Prärogative10 auf der einen und den Interessen des Parlaments und diesem nahestehenden Gruppen auf der anderen Seite zwangsläufig in den Bürgerkrieg einmünden 189 mußte. Nach programmatischen, unter Umständen sogar praktikablen Entwürfen zur Lösung

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dieses Konfliktes wurde kaum einmal gefragt. Zudem wird häufig nicht sorgfältig genug zwi- schen »Bürgerkrieg« (1642-46 und 1648) und »Revolution« (1647-1653) unterschieden. Erst die spezifische Entwicklung nach dem Ausbruch des bewaffneten Konfliktes hat nämlich aus die- sem eine Revolution werden lassen. Die Independenten, Republikaner und die diversen Grup- pen radikaler Heilserwarter und Chiliasten gewannen erst dann an politischer Bedeutung, als sich das Auseinanderfallen der parlamentarischen Opposition anbahnte und die radikalen Rich- tungen in der »New Model Army« eine innenpolitisch machtvolle Plattform gefunden hatten.

Selbst zu Beginn des Jahres 1647 war noch lange nicht ausgemacht, daß man in eine Revolution steuerte. Erst der törichte Versuch der Mehrheit des Parlaments, die Armee aufzulösen und da- mit innenpolitisch kaltzustellen, sollte hier den Ausschlag geben1 1.

4. Die Tatsache, daß auch nach der Abschaffung des Oberhauses im März 164912 die Peers eine bedeutsame Rolle gespielt haben, ist trotz der Arbeit von Firth1 3 offensichtlich vergessen wor- den. Zwar hatte schon der »Rumper«1 4 Sir Arthur Hazelridge, einer der maßgeblichen Parla- mentarier der Zeit, nach der Säuberung des Parlaments 1648 durch die Independenten (»Pride's Purge«i s) festgestellt, daß in der Entwicklung der Revolutionsjahre eine immanente Logik stek- ke: Nach der Monarchie und dem Oberhaus seien eben nun auch die Commons reif zum Unter- gang gewesen. Es zeigte sich jedoch nur zu bald, daß in England allenfalls ohne, nicht aber gegen die Peers zu regieren war. Auch während der Verfassungsexperimente der 50er Jahre ver- stummte die Diskussion um die Notwendigkeit einer die verschiedenen Interessen ausbalancie- renden dritten Kraft (neben der Exekutive und dem Unterhaus) nicht. Der Protektor Oliver Cromwell suchte ständig das Bündnis mit der Aristokratie, und 1657 wurde das Oberhaus unter anderem N a m e n1 6 wieder eingeführt.

Gruenfelder untersucht die Wahlkreis- und Wahlkampfbereitschaft des (späteren) Earl of Straf- ford in Yorkshire. Er betont dessen Effektivität und hebt seinen faktischen, aber auch potentiel- len Einfluß zugunsten der Sache des Königs hervor. Hätte der König, so das Fazit der Studie, 1640 mehr Helfer und Freunde unter den einflußreichen lokalen Magnaten des Landes gehabt, so wäre ein ganz anderer Ausgang der Wahlen dieses Jahres möglich und wahrscheinlich gewe- sen. Der dieser Behauptung zugrundeliegende Schluß ist klar: Karl I. vernachlässigte es, den Hochadel zu umwerben und ihn durch entsprechende Machtbeteiligung an sich zu binden. Kri- tisch zu dieser Implikation wäre allerdings zu vermerken, ob denn nun wirklich nur charakter- liche Eigenheiten des Königs einer Lösung des Verfassungskonflikts im Wege gestanden haben.

Roberts behandelt die schließlich vergeblichen Bemühungen des Earl of Bedford im Winter und Frühjahr 1641, das Parlament für den König und seine Sache zu dirigieren. Der Preis dafür sollte in der Vergabe von Ämtern an den Earl und seine Freunde bestehen. Dieses Unternehmen hätte nach Roberts' Einschätzung den Bürgerkrieg verhindert. Die Gründe für sein Scheitern seien vielfältiger Natur. Entscheidend sei aber gewesen, daß der König mit Bedford und seiner

»Country Party« nur gespielt und zu keiner Zeit die ehrliche Absicht gehabt habe, ihnen wirk- lich Macht zu übertragen. Dabei mag Karls felsenfester Glaube an die göttliche Herkunft einer Prärogative eine wichtige Rolle gespielt haben. Mindestens ebenso entscheidend aber war sein unaufrichtiges Taktieren. Sein permanenter Versuch, gemäßigte wie dezidierte Oppositionelle gegeneinander auszuspielen, war typisch für ihn. Auch nach dem verlorenen ersten Bürgerkrieg 1646 setzte er weiter auf diese Karte und verlor deshalb 1649 seinen Kopf. Seiner Macht (oder besser seinem Anspruch auf diese) zuliebe war er gewillt, den Bürgerkrieg einem Kompromiß- frieden vorzuziehen. Gruenfelders wie Roberts' Studien können über die Hocharistokratie als Gruppe nur begrenzt etwas sagen. Wichtig aber ist ihr Grundgedanke, daß es um eine Änderung der bestehenden Verfassung ging, bei der jedoch lediglich innerhalb der Herrschenden (König, Bischöfe, Hochadel, Gentry und Großbürgertum) die Gewichte verschoben werden sollten.

Vom Volk war nicht die Rede. In dieser Hinsicht bieten die Arbeiten von Christiansen, Kish- lansky und Farneil interessante Hinweise. Zum einen geht es um das Programm der oppositio- nellen Peerage, wobei Innen- und Außenpolitik sich wechselseitig durchdringen sollten. Farneil scheint auf den ersten Blick seinen bekannten Ansatz zu verlassen, in dem das Großbürgertum des Außenhandels für maßgeblich erklärt wurde1 7. Er baut auf den Thesen Arthur P. New- tons 18 auf. Dieser hat in einer seinerzeit bahnbrechenden Arbeit gezeigt, daß die einflußreich- sten Mitglieder der Peerage-Opposition in der »Providence Company« organisiert waren. Hier 1 9 0 befand sich in den parlamentslosen 30er Jahren der Nukleus des Widerstandes gegen den König.

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Brenner19 hat dies noch dahingehend ergänzt, daß dieses Wirtschaftskonsortium der Peerage entscheidende Kontakte zu aufstrebenden Außenhandelskaufleuten knüpfte, die sich unter der königlichen Politik nicht entfalten konnten (die sogenannten »colonial interloping merchants«).

Zum Programm dieser Kreise gehörte eine aggressive Außen- und Außenhandelspolitik. Farnell deutet diese Konzeption in überzeugender Weise als breit angelegtes, aus der inneren Opposi- tion entwickeltes Programm, das zudem als Palliativ im Sinne einer sekundären Integration wir- ken sollte. Durch spektakuläre Erfolge gegen das spanische Imperium sollte das Prestige der

»natural rulers« aus Hocharistokratie und Gentry erhöht werden, das des Königs dagegen lang- sam unterhöhlt und abgelöst werden. Im Rahmen einer gemischten Monarchie sollte dann die Verfassung Englands umgegossen werden. Die Macht sollte vornehmlich beim Parlament und dort bei der Peerage liegen. Den sozialen Problemen des Landes, vor allem Ansprüchen aus den Unterschichten, wollte man dadurch begegnen, daß man die Energien der Masse des Volkes in der erwähnten imperialen, aggressiven Politik band. Vorbild dabei war die römische Republik des Livius. Die politische Theorie fand sich bei Macchiavelli und Sir Walter Raleigh. Diesen To- pos hat im übrigen bereits Christopher Hill herausgearbeitet. Für den verfassungspolitischen Teil dieser These berufen sich sowohl Farnell als auch Christiansen auf Äußerungen Lord Says, eines der prominentesten Führer der antimonarchischen Opposition in der Providence Compa- ny; die staatstragende Schicht in dieser gemischten Monarchie seien natürlich die Peers (S. 581):

The peers of England, and their power and privileges in the House of Lords, they have been as the beam keeping both scales, King and people, in an even posture, without encroachments one upon another to the hurt and damage of both. Long experience hath made it manifest that they have preserved the just rights and liberties of the people against the tyrannical usurpation of Kings, and have also as steps and stairs upheld the Crown from falling and being cast down upon the floor by the insolency of the multitude from the throne of government.

Es ist klar, daß dieses Modell einer gemischten Monarchie von einem standortgebundenen Inter- esse, dem des »natural ruler«, ausgeht. Ersichtlich ist auch, daß Say (und seine Standesgenossen in den Lords und Commons) die Gefahr eines politischen Machtanspruches von unten sahen und fürchteten. Die Lösung schien ihnen eben das obige Consensus-Modell zu bieten. Inkonse- quent und unrealistisch, wie sich in den folgenden Jahren zeigen sollte, war diese Analyse des politischen Kräftefeldes insofern, als Konflikt, Kampf und Dynamik lediglich in der politischen Auseinandersetzung der arrivierten Schichten (Hocharistokratie, Gentry und bürgerliche Gen- tlemen) angenommen wurden. Doch der Keim der Erosion und das Bewußtsein einer mögli- chen sozialen Gefahr ist durchaus ersichtlich im Hinweis auf »das Volk«, dessen Wohl man an- geblich im Auge hatte.

Immerhin geht die Saysche Sicht von realistischen Premissen aus, indem sie Interessengegen- sätze zwischen den einzelnen Klassen und Gruppen im Prinzip anerkennt und erkennt (mit Ausnahme aller jener Interessen und Anliegen, die unterhalb von Adel und Großbürgertum wirkten). Doch auch diese Erkenntnis war nicht selbstverständlich. Denn ursprünglich war das englische Parlament ja »King's Parliament« gewesen. Die Entwicklung vor allem seit Heinrich VIII. war dadurch bestimmt, daß sich das Parlament von diesem Selbstverständnis löste. Erst dann konnte es wirklich initiativ und politisch wirksam werden. Karl I. hatte den Emanzipa- tions- und Konfliktkurs mit seinem Versuch, seit 1629 ohne Parlamente zu regieren, ungewollt beschleunigt; dies wohl auch in grundlegender Verkennung seiner eigentlichen Macht, die in je- dem Fall nur in, wenn auch relativer, Harmonie mit den herrschenden Schichten des Landes ge- sichert war. Der Bürgerkrieg mit der innerparlamentarischen Frontstellung von Tauben und Falken wirkte als zusätzlicher und gründlicher Katalysator. »To speak the truth«, bemerkte der Parlamentsgeneral William Waller später, »the destruction of Parliament was from itself.« (S.

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Kishlansky hat dies in seinem Beitrag zweifelsfrei herausgearbeitet. Denn das Konsensus-Mo- dell funktionierte zumindest teilweise auch noch während des Bürgerkrieges, übrigens nicht nur auf den Schlachtfeldern, wo dem Einhalten der Gentleman-Etikette makabre Bedeutung einge- räumt wurde. »Adversary politics« - also der offene Kampf von Interessen in all ihren Gegen- sätzen und in aller Schärfe - begann erst nach dem ersten Bürgerkrieg. Anhand der Auseinander- setzungen innerhalb des Langen Parlaments wurde erst richtig deutlich, daß ein erbitterter Machtkampf innerhalb der herrschenden Schichten Englands ausgebrochen war. Dies war al-

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lerdings auch eine zwangsläufige Folge aufgrund des Autoritätsverlustes des Königs, auch wenn viele dies nicht offen aussprachen.

Allerdings war nach dem Ende des ersten Bürgerkrieges eine grundlegend veränderte Situation eingetreten. Die beiden Hauptstützen des Parlaments, die »City« von London und die »New Model Army«, gerieten aneinander. Die Folge war eine Schwächung der Autorität des Parla- ments - in der Tat ein absurd-ungewolltes Ergebnis im Konflikt zwischen königlicher Präroga- tive und parlamentarischem Herrschaftsanspruch. Als nämlich die Gruppe um Denzill Holies im Bewußtsein ihrer Macht ab 1646 versuchte, das Militär billig loszuwerden, wurde die Frage der neugewonnenen politischen Kompetenzen des Parlaments erneut aufgeworfen. Sie endete vorläufig mit der faktischen Entmachtung des Parlaments. Fortan nahm die Armee das Konsen- sus-Denken und die diesem innewohnende Apologetik auf, nun aber eben gegen das Parlament der »Adversary Politics«, gegen »party and interest« (S. 638). Die Armee, und nicht länger das Parlament, war in den Augen der sendungsbewußten puritanischen Offiziere und Mannschaf- ten das Sprachrohr der englischen Nation (S. 638):

Those worthies who have formerly acted, and carried on things for public good, right and free- dom, are now awed and overborn by a prevailing party of men, of other private interests, crept in, and that neither we, nor any other can expect right, freedom, or safty (as private men) or to have things acted in Parliament for public good while the same parties continue there in the same power, to abuse the name and authority of Parliaments, to serve and prosecute their private interests and passion.

Mit anderen Worten: Das Heraufkommen pluralistischer Interessen und deren Versuche, sich im Parlament und dem gesamten »political framework« Englands eine institutionelle Plattform zur Durchsetzung ihrer Anliegen zu verschaffen, waren dafür verantwortlich, daß der Sieg des parlamentarischen Konstitutionalismus gegen die Monarchie in England verschoben wurde. In Verkennung der Machtlage und wohl auch der explosiven Stimmung im Heer versuchte Karl I.

in den Jahren 1647 und 1648, sich die fundamentalen Gegensätze im Lager seiner Gegner zu- nutze zu machen. Seine späten Zugeständnisse an das englische Parlament im Vertrag von N e w - port vom September 1648 kamen zu spät. Im Verbund mit der Armee vertrieb die antiroyalisti- sche Minderheit des Parlaments, vor allem aber des Unterhauses, die konservative Mehrheit, füllte das »Rumpfparlament« mit eigenen Anhängern und erhob im Januar 1649 Anklage gegen den König. Kurz nach der Enthauptung des Königs und der Abschaffung der Monarchie wurde auch das Oberhaus liquidiert.

Nach 1649 im Zeichen der Herrschaft des »Rump«, der »Heiligen« 1653 und dann Cromwells, wurde vergeblich versucht, die verlorengegangene Einheit der Nation, die Nation im hierar- chisch gestuften Konsensus, wieder zu beschwören. Doch die kraftvolle Dynamik puritanischer Rhetorik mit dem ständigen Hinweis auf »Providence« und »Necessity« erwies sich als erfolglo- ses Legitimationsmittel. Denn auch die Zeitgenossen Cromwells konnten sehr wohl zwischen tiefempfundener Religiosität und berechnender Heuchelei unterscheiden.

Als die Lords 1649 kurz nach der Monarchie in Zwangspension geschickt wurden, erwies sich recht schnell, daß man ohne sie nicht auszukommen vermochte. Übrigens hatte Cromwell sich noch im Januar 1649 in der diesbezüglichen Unterhausdebatte vehement gegen die Abschaffung des Haus of Lords gewehrt. Und auch nach der Restauration 1660 änderte sich an der Wert- schätzung dieser Institution nichts. So pries denn auch 1680 einer der Republikaner der 40er und 50er Jahre, wenn auch in später Einsicht, die Unersetzlichkeit der Peerage innerhalb der Verfas- sung Englands: Aus dem ehemaligen Schwertadel des Mittelalters war ein konstitutionelles Bollwerk der englischen Moderne geworden.

Gegen die hier vorliegenden Aufsätze kann und muß im Detail Kritik vorgebracht werden. J. H . Hexter: Power Struggle, Parliament, and Liberty in Early Stuart England und Derek Hirst:

Unaminity in the Commons, Aristocratic Intrigues, and the Origins of the English Civil War heben in ihren Repliken im Märzheft 1978 des Journal of Modern History gemeinsam hervor, daß revisionistische Ansätze immer zum Extrem neigen. Hexter betont den Primat von »liberty and law«. Er hebt hervor, daß die Historiker der letzten 50 Jahre vor diesen beiden, für die Re- volution so entscheidenden Punkten, nahezu blind waren, daß dem angloamerikanischen Intel- lektuellen die Herrschaft des Rechts allzu selbstverständlich geworden sei, und daß man daher 1 9 2 die überragende Bedeutung dieses Anliegens für die Revolutionäre des 17. Jahrhunderts ver-

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kannt habe. Sowohl Hexter als auch Hirst betonen, wie wichtig es sei, daß dem Politischen wie- der angemessene Bedeutung eingeräumt werde.

Zu Recht mag und muß bezweifelt werden, daß die Lords die treibende Kraft der englischen Re- volution waren. Doch der Hinweis auf ihre Aktivitäten ermöglicht eine wirklichkeitsgerechtere Einschätzung und macht zudem die überragende Rolle der bewaffneten Macht in England von 1642 bis 1660 deutlich - und so den Primat des Politischen. Hans-Christoph Junge

1 M. Powicke: Medieval England 1066-1485. London 1931.

I G. R. Elton: The Tudor Revolution in Government. Administrative Changes in the Reign of Henry VIII. Cambridge 1974. 1. Aufl. 1953.

3 G. E. Mingay: The Gentry. The Rise and Fall of a Ruling Class. London 1976.

4 G. M. Trevelyan: Die Englische Revolution 1688/89. München 1950.

5 Im April 1653 löste Cromwell unter dem Einfluß des Heeres und chiliastischer Gruppen das Parlament auf. Im Dezember 1653 wurde er Lord Protektor und distanzierte sich in der Innenpolitik konsequent von jedem »linken« Kurs, um den inneren Frieden mit den konservativen Eliten des Landes zu errei- chen.

6 R. C. Richardson: The Debate on the English Revolution. London 1977.

7 Seine wichtigsten Arbeiten sind Chr. Hill: God's Englishman. Oliver Cromwell and the English Revo- lution. London 1973; ders.: Intellectual Origins of the English Revolution. Panther Book 1966; ders.:

Puritanism and Revolution. Panther History 1969 (eine Aufsatzsammlung); ders.: The Century of Re- volution 1603-1714. Cardinal Book 1974; ders.: Change and Continuity in 17th Century England.

London 1975 und zahlreiche andere Monographien und Aufsätze.

8 B. Manning: The English People and the English Revolution 1640-1649. London 1976.

9 Siehe u.a. V. Pearl: London and the Puritan Revolution. City Government and National Politics -4625-43; J. E. Farnell: The Politics of the City of London 1649-1657. Chicago, unveröffentl. Diss.

1963; R. Brenner: Commercial Change and Political Conflict. The Merchant Community in Civil War London. Princeton, N. J., unveröffentl. Diss. 1970; ferner G. E. Aylmer: The State's Servants. The Civil Service of the English Republic 1649-1660. London 1973.

1 0 G. A. Ritter: »Divine Right« und königliche Prärogative der englischen Könige 1603-1640. In: HZ 196 (1973) 584-625.

I I Dazu I. J. Gentles: The Arrears of Pay of the Parliamentary Army at the End of the First Civil War. In:

Bulletin of the Institute of Historical Research. 117 (1975) 52-63.

1 2 Text des Gesetzes in The Constitutional Documents of the Puritan Revolution 1625-1660. Ed.: S. R.

Gardiner. Oxford 1968, S. 387f., No. 89.

1 3 Ch. H. Firth: The House of Lords during the Civil War. London 1974 (Reprint).

14 Angehöriger des sogenannten Rumpfparlaments nach der Säuberung ν. 6. Dezember 1648.

1 5 D. Underdown: Pride's Purge. Politics in the Puritan Revolution. Oxford 1971.

1 6 M. C. Hart: The Upper House During the Protectorates of Oliver and Richard Cromwell. London, unveröffentl. Magisterarbeit 1929.

1 7 Siehe Anm. 9 sowie J. E. Farnell: The Navigation Act of 1651, the First Dutch War, and the London Merchant Community. In: Economic History Review. 16 (1963/64) 439-454.

1 8 The Colonizing Activities of the Early English Puritans. The Last Phase of the Elizabethan Struggle with Spain. New Haven 1914.

1 9 Siehe Anm. 9 und R. Brenner: The Civil War Politics of the London Merchant Community. In: Past and Present. 58 (1973) 53-107.

Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Hrsg. von Hermann Aubint und Wolfgang Zorn. Bd 2: Das 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. von Wolfgang Zorn.

Stuttgart: Klett 1976. X I V , 998 S.

Mit diesem Werk ist Mitarbeitern und Herausgebern ein Maßstäbe setzender Wurf gelungen.

Berücksichtigt man, daß der erste Band (1971) Jahrtausende abdecken mußte (von der Vorzeit bis 1800), so ergibt sich als Schwerpunkt des Gesamtwerkes die neueste Geschichte. Als Epocheneinschnitte wurden für Band 2 die Jahre 1 8 0 0 , 1 8 5 0 und 1914/18 gewählt. Diese Art der Periodisierung wirft die hier nicht weiter zu erörternde Frage nach Bruch und Kontinuität in der deutschen Geschichte neu auf.

Zu Anfang des analysierten Zeitabschnitts ist Deutschland ein Agrarland; an seinem Ende gibt es in Deutschland zwei hochindustrialisierte Staaten. Tiefgreifende Wandlungen des gesell-

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schaftlichen Lebens sind nachzuzeichnen, ebenso das Hineinwachsen der deutschen in die Weltwirtschaft, aber auch Krisen und Konjunkturen, Kriege und Katastrophen. Die damit ge- gebene Stoffülle wird folgendermaßen gegliedert: Sechs Längsschnitte schlagen Schneisen durch die Gesamtentwicklung in der Zeit von 1800-1970 - Quellen und Hilfsmittel (W. Zorn), Be- völkerungsgeschichte (W. Köllmann), Technik in Wirtschaft und Gesellschaft (W. Treue), Wirtschaftsordnungen (E. Schremmer), Staatliche Wirtschafts- und Sozialpolitik und öffentli- che Finanzen (W. Zorn), Wirtschaftliches Wachstum und Wechsellagen (K. Borchardt). Durch Querverweise werden in diese Kettfäden hineingewoben Abschnitte zu Landwirtschaft (G.

Franz, M. Roifes), Handwerk, Industrie und Bergbau (Κ. H. Kaufhold, W. Fischer), Handel, Verkehr, Nachrichten-, Geld-, Kredit- und Versicherungswesen (H. Kellenbenz, R. Tilly, Κ.

Borchardt) und Sozialgeschichte (W. Conze, W. Zorn). Ergänzende Abschnitte geben einen Uberblick zur Entwicklung Österreichs (W. Zorn, A. Brusatti), ferner zu Zahlungsmitteln, Maßen und Gewichten (H. Kellenbenz).

Die Tatsache, daß hier mehrere Autoren unter ein gemeinsames Joch gespannt wurden, bedingt

»Auffassungs- und Deutungsunterschiede«, zu denen sich der Herausgeber im Vorwort aus- drücklich bekennt. Der weitgehende Verzicht auf Fachsprache kommt der Lesbarkeit des Wer- kes zugute. Der Band sollte für »den Leser mit Historiker-Vorbildung ohne ein Zusatz-Vorstu- dium voll zugänglich« sein und dürfte dadurch - so fährt der Herausgeber im Vorwort fort -

»wie wir glauben, doch nicht seinen Wert als Tatsachen-Handreichung für systematisch-theore- tisch angesetzte wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Studien einbüßen«. Gelegentlich set- zen sich einzelne Autoren - ζ. B. W. Fischer und K. Borchardt - über diesen Rahmen hinweg;

sie bedienen sich der Theorie und Fachsprache der modernen Nationalökonomie und Wirt- schaftsstatistik und machen gerade damit den traditionell ausgebildeten Historiker mit Metho- den und Fragestellungen moderner Wirtschafts- und Sozialgeschichte bekannt. Überschnei- dungen und Wiederholungen sind bei einem solchen Werk nicht zu vermeiden; hier bringen sie fast immer den Gewinn neuer Perspektiven.

Voraussetzung einer solchen Synthese ist die Bestandsaufnahme des Forschungsstandes. Die Autoren vermerken immer wieder die durch den Mangel an Quellen und/oder wissenschaftli- chen Vorarbeiten bedingte Unsicherheit; aufgedeckte Forschungslücken regen zu gezielter Weiterarbeit an. Handbuchautoren sehen sich in dem Dilemma, sowohl die großen Linien her- ausarbeiten als auch konkrete Details bringen zu sollen. Daß beide zu ihrem Recht kommen, sei überprüft an einer im Rahmen der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte recht speziellen Fragestellung: an der Darstellung der Militärgeschichte in diesem Werk. Es wird deutlich, wie stark die Militärgeschichte in die gesamte Wirtschafts- und Sozialgeschichte eingebunden ist;

Erörterungen von militärgeschichtlichen Fragen finden sich daher in fast allen Abschnitten, in denen zur Bevölkerungsentwicklung ebenso wie in denen zur Technikgeschichte. Für eine schnelle Erschließung des Inhalts ist das Register daher unentbehrlich. Es weist die Stichworte Offizier, Rüstung, Streitkräfte, Wehrverbände ebenso aus wie die Namen von Roon und Speer;

Stichworte wie »U-Boot« oder KZ sucht man im Register allerdings vergeblich; bedauerlich ist, daß die Autoren der in den wertvollen Anmerkungen genannten wissenschaftlichen Werken nicht in das Register aufgenommen wurden.

International setzt es sich mehr und mehr durch, Handbücher zur Wirtschafts- und Sozialge- schichte mit einem Abschnitt zur Bevölkerungsgeschichte zu eröffnen. Köllmann stellt fest, daß in der Größe der Bevölkerung - »zugleich Maßstab der Wehr- und Arbeitskraft« - sich der österreichisch-preußische Dualismus innerhalb des Deutschen Bundes abzeichnete (S. 10).

Kaufhold ergänzt an anderer Stelle (S. 360), daß Preußen 1840/41 gegenüber Österreich über ei- nen erheblichen Vorsprung in der Montanindustrie, dem eigentlichen Träger des industriellen Wachstums im 19. Jahrhundert, verfügte. - Im Zeitpunkt seiner Gründung übertraf das Deut- sche Reich hinsichtlich seiner Bevölkerungsgröße alle anderen europäischen Mächte mit Aus- nahme Rußlands (S. 17). Die Kriegsverluste in beiden Weltkriegen werden von Köllmann in ih- ren Auswirkungen auf das Wirtschaftsleben und das Sozialgefüge (Frauenüberschuß) unter- sucht und mit den Bevölkerungsverlusten Polens und Rußlands verglichen (S. 38/40). Es fehlen nicht Details zur Evakuierung der Zivilbevölkerung und zur Kinderlandverschickung während 194 des Zweiten Weltkrieges (S. 42).

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Sowohl in den Abschnitten zur Technik als auch in denen zur Landwirtschaft wird auf die Be- deutung des Pferdes als Energiequelle auch im militärischen Bereich verwiesen. Noch bei der Remilitarisierung des Rheinlandes 1936 war die Mechanisierung der Wehrmacht alles andere als abgeschlossen. In diesem Zusammenhang sei bedauert, daß das Handbuch keine zeitgenössi- schen Abbildungen enthält (wie etwa das Handbuch zur französischen Wirtschafts- und Sozial- geschichte *); wahrscheinlich hätte sich damit der ohnehin schon prohibitiv wirkende Preis noch weiter erhöht. In dem Abschnitt über die Technik kontrastiert Treue Deutschlands Armut an Eisenerzlagerstätten mit dem zunehmenden Eisenbedarf von Industrie, Heer und Flotte (S. 83);

er erörtert die technischen Probleme, die mit dem Bau von Kriegsschiffen, besonders mit der Konstruktion von U-Booten verbunden sind (u.a. Dieselmotoren) (S. 86 f., 94). Der Kriegs- ausbruch 1914 bietet die Gelegenheit, Kausalketten aufzuzeigen im Bereich von Landwirtschaft und Ernährung, Technik, Rüstung und Verkehr (Eisenbahnkrieg, S. 862): Die Mobilmachung führte zu einem Mangel an Arbeitskräften und damit zu einem empfindlichen Produktions- rückgang in Industrie und Landwirtschaft; fehlende Arbeitskräfte und fehlender Dünger führ- ten fast zwangsläufig auch zu einer Ernährungskrise. Die verschiedenen Seiten der Kriegstech- nik im Ersten Weltkrieg werden ebenso berücksichtigt wie die Aufrüstungs- und Forschungsar- beiten in den 20er und 30er Jahren, die in Produkten wie der Me 262 gipfelten (S. 113), und die zur Folge hatten, daß die Sieger noch jahrelang von deutschen Entwicklungen aus der Zeit vor dem Zusammenbruch des Reiches profitieren konnten. Auf Einzelheiten der Technik im Zwei- ten Weltkrieg geht Treue bewußt nicht ein (S. 116 Anm. 37). - Die militärische Bedeutung des Telegrafenwesens schon in napoleonischer Zeit erörtert Kellenbenz in anderem Zusammenhang (S. 382).

Die Ve'rklammerung von militärgeschichtlichen Fragen im weitesten Sinne mit den übrigen Be- reichen des wirtschaftlichen Lebens begegnet nicht nur in den Abschnitten zu Bevölkerung, Technik, Wirtschaft, Rüstungs- und Kriegsfinanzierung, sondern auch in Erörterungen zur Sozialgeschichte der wilhelminischen Zeit (S. 157, 487), ferner im Zusammenhang mit Unter- suchungen zu Adel und Beamtentum (S. 459 ff., 646 ff., 680 ff.). Die Frage der Militärgerichts- barkeit, der sozialen Zusammensetzung des Offizierkorps der Wehrmacht (S. 904) ist der Auf- merksamkeit der Autoren ebenso sicher wie die der sozialen Herkunft der Offiziere der Bun- deswehr 1970 (S. 909). Zu den Streitkräften beider deutscher Staaten wird weiterführende Lite- ratur angegeben (S. 912 Anm. 10 und 14).

Als Kernstück des zweiten Bandes möchte der Rezensent die Abschnitte zu wirtschaftlichem Wachstum und Wechsellagen betrachten. Borchardt weist hier überzeugend nach, wie frucht- bar der Einsatz von in der modernen Nationalökonomie geläufigen Methoden für die Ge- schichtswissenschaft sein kann, auch bei der Beurteilung des Anstiegs der Militärausgaben vor dem Hintergrund der Quote des gesamten öffentlichen Verbrauchs (S. 220). Borchardt legt den Zusammenhang zwischen Depression und Aufrüstung dar (S. 712); bei der Untersuchung der Frage der Rüstungskonjunktur (S. 713) kommt er zu dem Ergebnis, »daß das System 1938/39 einer allgemeinen wirtschaftlichen Krise zusteuerte« (S. 716). Er betont einmal mehr die er- staunliche Ineffizienz der kriegswirtschaftlichen Planung vor und nach dem Kriegsausbruch (S.

716). Diese Aussagen ergänzt Fischer mit Belegen zum geringen Auslastungsgrad der deutschen Wirtschaft, die die Aufrüstung begünstigt habe (S. 817). Um so erstaunlicher, daß trotz des Kompetenzwirrwarrs (Fischer, S. 828) die Produktion der Me 262 noch ab September 1944 bis März 1945 gesteigert werden konnte. Fischer bringt tabellarische Daten zum Anteil einzelner Industriegruppen an der industriellen Nettoproduktion: Danach entfielen noch 1942 auf Rü- stungsgerät nur 22 %, auf Konsumgüter 25 %; 1944 hatte sich das Verhältnis allerdings umge- kehrt (40 bzw. 22 %, S. 824).

Da das Handbuch die Nachkriegszeit bis 1970 umspannt, sind höchst anregende Vergleiche zwischen der Bundesrepublik und der DDR möglich. Eine kritische Sichtung der statistischen Quellen aus der Zeit vor und nach der Währungsreform führt Borchardt dazu, die Bedeutung von Währungsreform und Marshallplan stark zu relativieren. Wie auch Fischer im Abschnitt zu Bergbau und Industrie, sieht er erstaunliche Parallelen in der Entwicklung von Bundesrepublik und DDR. In diesem Zusammenhang ist besonders eindrucksvoll Abb. 10, S. 725 bei Bor- chardt, aus der sich die überraschende Unstetigkeit des Wachstums der Bundesrepublik und der DDR ergibt - überraschend vor allem deshalb, weil es sich im einen Fall um eine freie, im ande-

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ren um eine staatlich gelenkte Planwirtschaft handelt. Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, daß sich in den 60er Jahren die beiden deutschen Staaten hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Struktur eher wieder angenähert haben, daß die Bedingtheiten einer hochindustrialisierten Ge- sellschaft für eine parallele Entwicklung sorgen - selbst wenn Lebensstandard und die Versor- gung mit Konsumgütern in der D D R im allgemeinen hinter der Entwicklung in der Bundesre- publik herhinken.

Zahlreiche Tabellen, Karten und Schaubilder dienen der Veranschaulichung und Verdichtung der Informationsmasse. Der weitgehende Verzicht auf theoretische Erörterungen kommt der Lesbarkeit für einen großen Kreis zugute. Vielleicht entschließt sich der Verlag dazu, in abseh- barer Zeit dieses Standardwerk - ähnlich dem »Gebhardt« - in einer Taschenbuchausgabe auf den Markt zu bringen.

Über Schwerpunktsetzungen und einzelne Deutungen wird man immer verschiedener Meinung sein können. Gemessen an der Fülle des hier verarbeiteten Materials (Quellen und Literatur), an den zahllosen Anregungen, den neuen Perspektiven können einige Anmerkungen wie Beckmes- serei wirken: Insgesamt weniger befriedigend erscheint der Abschnitt über Wirtschaftsordnun- gen (S. 122 ff.); hier hätte man doch wohl gelegentlich weiter ausholen und den Gegenstand stärker vertiefen müssen. - Danzig wird in Abb. 5, S. 36 als Teil des Deutschen Reiches darge- stellt. Juden wanderten in den 30er Jahren nach Palästina aus, nicht - wie es S. 37 heißt - nach

»Israel«; an anderer Stelle (S. 431) wird gesagt, die Juden »vermehrten sich dort [in Preußen]

überdurchschnittlich«. S. 47, Tab. 6 wird Berlin (West) eigens aufgeführt, Berlin (Ost) - als ob selbstverständlich - zur D D R gezählt. Siglen bleiben mehrfach unaufgelöst: DAF (S. 163), GW (S. 311), Mark Bco (S. 398), VdgB (S. 910). Tabellen und Abbildungen sind nicht fortlaufend durchgezählt; das Zitieren wird dadurch erschwert.

Insgesamt liegt hier ein ungemein materialreiches, problemorientiertes Handbuch vor, in dem Makrostudien immer wieder durch konkrete Beispiele veranschaulicht werden, in dem die In- terdependenz von gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklung deutlich wird. Ange- sichts der gelungenen Einordnung auch militärhistorischer Fragen in größere Zusammenhänge, der Zusammenschau von Einzelfragen zu gesamtwirtschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Synthesen erweist sich dieses Handbuch auch für den Militärhistoriker als unentbehrlich.

Norbert Ohler

1 Histoire economique et sociale de la France, dirigee par F. Braudel et E. Labrousse. 1 ff. Paris 1970 ff.

Bislang erschienen Tome 1, 1.2. 1977, 2, 1970, 3, 1.2. 1976.

Holger Η. Herwig: Das Elitekorps des Kaisers. Die Marineoffiziere im Wilhelminischen Deutschland. Überarb. und veränderte deutsche Ausg. Die Ubertr. aus dem Englischen besorgte Karl-Heinz Neubauer. Hamburg: Christians 1977. 279 S. ( = Hamburger Bei- träge zur Sozial- und Zeitgeschichte. 13.)

Nach der für Herwigs Soziologie des Kaiserlichen Marineoffizierkorps grundlegenden These erscheinen in diesem »Mikrokosmos der Wilhelminischen Gesellschaft« die Seeoffiziere mit ih- rer strikten Abgrenzung gegen Marineingenieur- und Deckoffiziere als besondere feudale Kaste mit Faible für Gardes-du-Corps-Allüren (die Metapher soll aliberale, reaktionäre, veraltet-ad- lige Verhaltensweisen ausdrücken). Als Herwig dieses Teilergebnis seines Quellenstudiums

1972 auf der vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt Freiburg veranstalteten Tagung über

»Marine und Marinepolitik 1871-1914«1 zur Diskussion stellte, fand er die Zustimmung man- cher Kollegen - freilich auch die Ablehnung bei Historikern, die meist selbst ehemals Marineof- fiziere gewesen waren.

Ein ähnliches Bild boten die Rezensionen zu Herwigs 1973 veröffentlichtem Buch The German Naval Officer Corps, in dem er seine Untersuchungen noch erweitert und zeidich bis 1918 fort- geführt hatte. »Social and political history« verbanden sich dabei zur Schlußfolgerung, daß ge-

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rade das blinde Beharren der Marineleitung auf einer Personalpolitik, die den anachronistischen Status der Seeoffiziere entgegen allen Reformforderungen auch im Krieg zu zementieren suchte, in Meuterei und Untergang der Flotte endete.

Mit der folgenden Ubersicht wurden sicherlich nicht alle diese Rezensionen, vielleicht aber be- sonders repräsentative erfaßt. Die verschiedenen Stellungnahmen ließen sich dabei zwischen zwei Positionen einordnen2, die in größeren Sammelbesprechungen von Marineliteratur, hier Fischer (1), dort Hubatsch (8) markierten.

Das im Gegensatz zu älteren Arbeiten durch einen adäquateren Forschungsansatz neu gezeich- nete Bild der Marineoffiziere würdigt Kennedy (2), frei von Kritik, als gelungene Ergänzung zu V. Berghahns Interpretation der Tirpitz'schen Flottenpolitik. Wie engagiert Herwig mit seiner sozialgeschichtlichen Fragestellung Neuland betreten hat, betont auch Frau Harder-Gersdorff.

Ihr erscheint als zentrales Ergebnis dieser Methode der Hinweis auf den direkten Zusammen- hang von fehlender Homogenität im Offizierkorps und erfolgreicher Matrosenrevolte - eine These, die ihre Kollegin Muncy in weiterem Zusammenhang dazu ermutigt, von einem »Dolch- stoß in umgekehrter Richtung« zu sprechen (3). In anderer Gewichtung bringt für Messer- schmidt (4) die Behandlung der Kadettenfrage sowie die Diskussion der Probleme von See-, Ma- rineingenieur- und Deckoffizieren den wichtigsten Forschungsertrag. Dazu berichtigt dieser Rezensent einige Details (etwa die Abiturientenfrage) in Herwigs Darstellung. Prinzipieller bemängelt Lill (5), daß die Gegensätze zwischen den drei Korps nicht in einen die Kaiserliche Kriegsmarine übergreifenden historischen Kontext eingeordnet wären. Hier knüpft auch die Kritik von Salewski (6) an, dem darüber hinaus wichtige Aspekte des gesellschaftlichen, geisti- gen und familiären Herkommens der Offiziere nicht hinreichend analysiert erscheinen. Dazu wird Herwigs Quellenbasis teilweise in Frage gestellt. Persönlich falsch zitiert fühlt sich Rüge (7), der in seiner Buchbesprechung die wohl umfassendste Breitseite von Detail- und General- kritik abfeuert (u. a. in Sachen Ausbildungskosten, der Garde-Allüren, des Ingenieurproblems, der technischen Details beim Ösel-Unternehmen). Am Ende steht die Feststellung, daß Her- wigs soziologische Maßstäbe das Gesamtbild vom Offizierkorps verzerren, weil er vom Wesen einer Marine wenig weiß.

Wo immer ihnen die Detailkritik berechtigt erscheinen konnte, haben der Autor, sein Uberset- zer Kapitän z. S. a. D. Neubauer und Manuskriptbearbeiter Dr. W. Johe die Hinweise und Er- gänzungen dieser Rezensionen für die nun erschienene deutsche Ausgabe des Buches verarbei- tet. Darüber hinaus waren auch noch die Ergebnisse von W. Bräckows Geschichte des deut- schen Marine-Ingenieuroffizierkorps zu berücksichtigen 3. Um so mehr sich Herwig aber durch diese in den eigenen Ansichten bestätigt sah, blieben seine grundsätzlichen Thesen unverändert.

Freilich scheint gerade Bräckow in der Darstellung des Verhältnisses zwischen See- und Mari- ne-Ingenieuroffizieren im Kaiserreich längst nicht Herwigs Dimensionen suizider Dramatik für nötig zu halten; folgerichtig sieht er auch keinen Zusammenhang zwischen der Verschleppung des Ingenieurproblems und dem raschen Umsichgreifen der Meuterei am Ende des Ersten Welt- krieges. So wird man hoffen dürfen, daß die Übersetzung von The German Naval Officer Corps weniger einen Forschungsstand festschreiben, als vielmehr zu weiteren Auseinandersetzungen mit dem »Elitekorps des Kaisers« anregen wird. J. Kloosterhuis

1 Marine und Marinepolitik im kaiserlichen Deutschland 1871-1914. Hrsg. von H. Schottelius und W.

Deist. Düsseldorf 1972.

2 Rezensions-Spiegel

(1) F. Fischer: Recent Works on German Naval Policy. In: European Studies Review. 5 (1975) 443—461; jetzt teilweise auch abgedruckt in F. Fischer: Der Erste Weltkrieg und das deutsche Ge- schichtsbild. Düsseldorf 1977, S. 322-332. Hier wird allerdings nur Herwigs Beitrag zu »Marine und Marinepolitik«, noch nicht sein Buch berücksichtigt.

(2) P. M. Kennedy: Sozialgeschichte der Flotte. In: Neue Politische Literatur. 20 (1975) 266-269, bes.

S. 267.

(3) E. Harder-Gersdorff, (Rez.) in Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. 64 (1977) 379 f . ; L . W. Muncy, (Rez.) in Central European History. 11 (1978) 113-119, bes. S. 117-119. Hier werden Herwigs Ergebnisse mit denen von L. Cecil: The German diplomatic service, 1871-1914.

Princeton, N . J . 1976 verbunden; vgl. zu diesem Buch die Bespr. in MGM 23 (1978) 258-261.

(4) M. Messerschmidt, (Rez.) in MGM 18 (1975) 222f. Ausführlich (mit einem Herwigs Thesen flan- 1 9 7 kierenden Ergebnis) schildert Messerschmidt die letztlich negativen Stellungnahmen der Armee-

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bzw. Marineleitung zur Frage, ob Oberrealschul- in gleicher Weise wie Gymnasialabiturienten als Offiziernachwuchs heranzuziehen seien, in Militär und Schule in der wilhelminischen Zeit. In:

M G M 23 (1978) 51-76.

(5) R. Lill: Literaturbericht 1870-1917. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht. 29 (1978) 44-51 und 191-196, bes. S. 191.

(6) M. Salewski, (Rez.) in H Z 222 (1976) 731 f.

(7) F. Rüge, (Rez.) in Marine-Rundschau. 71 (1974) 707 f.

(8) W. Hubatsch: Tirpitz' Flottenpolitik und der deutsch-englische Gegensatz 1908-1912 im Lichte neuerer Darstellungen. Eine kritische Bilanz. (Ungedruckter Vortrag 1974). In: W. Hubatsch:

Kaiserliche Marine. München 1975, S. 52-78. Dazu Hubatschs Herwig-Rez. in Das Historisch- Politische Buch. 22 (1974) 302 f.

3 W. Bräckow: Die Geschichte des deutschen Marine-Ingenieuroffizierkorps. Oldenburg, Hamburg 1974; vgl. die Bespr. in M G M 18 (1975) 223.

Alfred Hein: Eine Kompanie Soldaten in der Hölle von Verdun. Überarb., gekürzt und neu hrsg. von Annke-Margarethe Knauer und Alois M. Kosler. Nachwort von Alois Kosler. Wiesbaden, München: Limes 1978. 366 S.

Ein Artilleriemajor, im Zivilberuf Archivrat, steht 1916 als Stabsoffizier vor Verdun. Zur Vor- bereitung eines Angriffs hat er einen Feuerleitplan ausgearbeitet, dessen fürchterliche Folgen auf französischer Seite ihm deutlich vor Augen stehen. Bevor er trotzdem pflichtgemäß den Befehl zum Trommelfeuern gibt, faßt der Deutsche daher den Entschluß:

»Wenn er heimkehrte, wollte er ein Buch gegen die Mechanisierung des Menschen schreiben.

Geh durch die Qual und Pein, sagte eine Stimme. Leide an dem Wahn dieser Martern. Erfülle die Seele mit Abscheu vor dem, was du tust. Damit der Abscheu riesengroß werde, um auf Kind und Kindeskinder nachzuwirken, so tue das Grausige und Furchtbare, gerade weil du es nicht willst.« (S. 272)

Vielleicht formulierte der Schriftsteller Alfred Hein1 mit diesen Gedanken seiner Romanfigur eigene Motive, die ihn 1927/28 bewogen, »Eine Kompanie Soldaten« zu schreiben. Jedenfalls erschien 1929 die Erzählung aus der »Hölle von Verdun«. Dort hatte der Kriegsfreiwillige Hein in der Schlacht als Meldegänger der 12. Komp. Res. Inf. Rgt. 203 (eine Einheit der Angriffs- gruppe West) gedient.

So dreht sich der Inhalt des Buches um die Kämpfe, die zwischen März und Mai 1916 auf dem linken Maasufer um die Höhen 304 und Toter Mann ausgefochten wurden. Doch Hein will hierüber keinen authentischen Bericht liefern, sondern sein persönliches Erleben »jenes großen Totentanzes« in künstlerischer Darstellung verdichten (S. 5). Er folgt dabei einer in der Kriegs- literatur der späten 20er Jahre allgemein üblichen Konzeption: schonungslose Schilderung des Grauens der Materialschlacht, entspannt durch Szenen aus humorigem Feldsoldatenleben (z.B.

S. 322). Aber man wird einräumen, daß Heins Buch in seinen stärksten Passagen dem besonde- ren Anspruch des Autors gerecht zu werden vermag (ζ. B. jene Stelle vom einzelnen Meldegang aus dem Hinterland über die Reservestellung in die Kampfzone hinein; S. 195-204). Mit einge- streuten eigenen Versen und immer wieder durch das Dante-Zitat von der »Malebolge« versucht der Schriftsteller, das Bild vom Trichterfeld als einem Ort »grausigster Liebesverschlossenheit«

zu vertiefen (z.B. S. 312/319). Der »Totenpfuhl« wird darüber hinaus mit seinem Gegenteil gleichermaßen häufig wie kräftig kontrastiert (z.B. dem Wäldchen von Montmedy, wo ein

»Karbolmäuschen« den nervlich erschöpften Meldegänger zu rekreieren weiß; S. 213-215).

Bei alledem muß freilich über manches geschichtlich Unstimmige, militärisch Unmögliche hin- weggelesen werden - wenn anders man den Text nicht beckmessern will.

Denn letztlich stehen »in der Hölle von Verdun« die Kämpfe um eine Höhe 304 nicht im Mittel- punkt. Heins Hauptkampflinie verläuft gleichsam quer zur deutschen Front, begrenzt die Heimat vom Kriegsschauplatz, trennt Etappe und Stellung, ja selbst die Männer im Schützen- graben ! Sie teilt zwei unversöhnliche Gruppen: hier jämmerliche Gemeine, bösartige Unteroffi- ziere, charakterlose Offiziere, allesamt Feiglinge, Drückeberger oder Ordensjäger - dort Solda- ten und ihre Führer, die über alle ehemaligen sozialen Unterschiede hinweg in Befehl und Ge- horsam »das Fronterlebnis . . .: die Kameradschaft« vereint (S. 17), zu einer »Kumpanei in Tod

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und Verderben, Offizier und Mann Kameraden« (S. 224). Wieder wird Hein nicht müde, diese beiden Gruppen gegeneinander zu setzen, damit desto stärker die einzigartigen Werte erstrah- len, die »das Kameradsein« für das Zusammenleben aller »ganzen Kerle« mit »stahlhartem Frontwillen« (S. 325), ja sogar für ein Verhältnis zwischen Mann und Frau (S. 230 f., 349) nach seiner Meinung beinhaltet. Aus dieser Sicht läßt die Einheit von »Tat und Tod« die scheußliche

»Mordei« doch noch »irgendwie edel und groß« erscheinen (S. 129) - als Ort, wo »eben die Ka- meradschaft blühte« (S. 149). Sie wird in letzter Konsequenz zum Modell einer heilen Gesell- schaft erhoben, wenn ein Infanterieleutnant, im Zivilberuf Chemiker, der nicht umsonst als Protagonist der Kameradenwelt verehrt wird, zum Schluß seinen Musketieren einprägt:

»Vergeßt das Böse da vorn, so schnell ihr könnt, aber nicht, was dennoch in der Wüste aus uns wuchs: Das Echte, das Menschenwürdige, das Kameradschaftliche, ja, das vor allem: die Kame- radschaft! wollen wir in die ganze Welt tragen. Aus dieser Qual heraus in ein friedliches, freies, besseres Leben.« (S. 345)

So tritt zum Vorsatz des Artilleriemajors, die Abscheu vor dem Krieg weiterzugeben, das Ver- mächtnis des Infanterieleutnants, um den Preis des Vergessens die Kriegskameradschaft als Zu- kunftswert zu erhalten. Diese zwei Grundaussagen legte der Autor in »Eine Kompanie Solda- ten« - »Das einzige Kriegsbuch, dessen innerer Wert und Wahrhaftigkeit ohne Unterschied der Partei, von rechts bis links einmütig anerkannt wurde.« (So ließ der Köhler-Verlag 1931 auf den Buchdeckel der ungekürzten Volksausgabe, dem 52.Tausend der Gesamtauflage, schreiben.) Solche Rezeption kann wohl nur mit der Doppelbödigkeit des Buches begründet werden - das eben viel, für jeden etwas brachte. Sie unterstreicht, welch kompliziertes Stück Kriegsliteratur von Hein 1929, gleich zu Beginn der »großen Hausse« im Genre produziert wurde: ein Janus- Stück, das sich weder ganz bei den Kriegsanklägern (ζ. B. Remarque, Renn, A. Zweig) noch nur bei den Kameradschaftsverteidigern (z.B. Beumelburg, Schauwecker, Wehner, um hier Bear- beiter des Verdun-Stoffes auszuwählen!) aufhält. Nach seinem Entstehungszeitraum kann es darüber hinaus nicht lediglich als Teil der Reaktion auf Remarque verstanden werden (was viel- leicht erklärt, daß sich auch die neueste einschlägige Untersuchung von M. Gollbach nicht mit Hein auseinandersetzt?). Es scheint freilich, daß »Eine Kompanie Soldaten« von den Zeitgenos- sen immer mehr nach rechts in die Reihen um Schauwecker gezogen wurde, die sich in der Krise der Weimarer Republik von dem aus der Frontkameradschaft entwickelten Gesellschaftsmodell von Führer und Volksgemeinschaft die Überwindung einer ungeliebten Demokratie erhofften 2. Daß Hein hierfür durchaus reklamiert werden konnte, wird zu bedenken sein, wenn man eine Antwort auf die Frage sucht, die am Ende der Lektüre steht: hat es sich gelohnt, das Buch neu herauszubringen (S. 360)?

Der Verlag und die Bearbeiter haben sie positiv auf der Basis eines Nachwortes entschieden, das A. Kosler beisteuerte. Hier wird Hein in - methodisch wohl nicht ganz einwandfreier - Ab- grenzung zu W. Flex eindeutig in das Lager der Kriegsankläger gestellt. Mit Bezug auf Heins Auffassung von der Kameradschaft als neuem sozialen Gemeinschaftsbewußtsein behauptet Kosler:

»Der Stellungskrieg von 1915 bis 1918 wurde die Geburtsstätte eines Gemeinschaftsbewußt- seins, das auch nationalistischen Egozentrismus überwand. Er wurde auch zur Geburtsstunde der politischen Erkenntnis, daß aus Unrecht neues Unheil, ein neuer Krieg entstehen kann. Der Schützengraben . . . wurde gewissermaßen die Wiege einer neuen Humanität, einer Idee, die noch Zukunft hat«. (S. 366)

Um zu erhellen, warum dieser Wiegen-Theorie nicht gefolgt werden kann, sei auf die Bespre- chung eines anderen Verdun-Buches von 1936 zurückgegriffen, das wieder der Limes-Verlag 1976 neu erscheinen ließ. Vom Stoßtruppführer Ettighoffer wurde damals (in MGM 21 (1977) 247-249) gesagt, daß er 1936 ungefähr eine mittlere Position im Spektrum zwischen Remarque und den Vertretern des »Soldatischen Nationalismus« eingenommen hatte, er sich und sein Buch bis 1976 jedoch von alten Anschauungen emanzipieren konnte. Der Meldegänger Hein stand 1929 nicht in der Mitte, sondern da und dort; sein Buch bietet auch 1978 noch die entspre- chenden Aussagen. (Die Bearbeiterin, Frau Knauer, Nachlaßverwalterin des 1945 verstorbenen Schriftstellers, stutzte im wesentlichen nur den Wildwuchs an Pathos in besonders phantasie- vollen Passagen zurecht.) Bei Ettighoffer konnte sich der Gegner zum Gegenüber wandeln, zum Kameraden im Leid, das nicht mehr wiederkehren darf. Es soll nicht übersehen werden, 199 daß auch der Meldegänger an einer Stelle fragt (S. 321): »Sind wir nicht alle hüben und drüben

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Kameraden in einer Todesnot?« - aber der Franzose bleibt weiter der Feind. Zwangsläufig, denn nur so wird eine Folie gewonnen, von der sich Kameradschaft abziehen läßt. Folgerichtig scheinen Gesellschaftsmodelle, die aus dieser kriegsbedingten Sozialbeziehung entwickelt wer- den, eben dem Krieg letalerweise verhaftet zu bleiben. So schließt sich der Kreis, wenn derselbe Hein, der seinen Infanterieleutnant 1929 die Musketiere in ein friedliches Leben führen lassen will, zehn Jahre später eine neue Erzählung überschreibt: »Greift an, Grenadiere!«

Ein aus dem Schützengraben abgeleitetes Gemeinschaftsbewußtsein hat keine Zukunft. Bücher, die sich trotzdem für solche Auffassungen stark machten, sollten heute bei uns nicht mehr nach- gedruckt werden. Vielleicht wollte Franz Marc, gefallen als Melde-Offizier 1916 vor Verdun, auch vor ihnen warnen, als er einmal sagte3:

»Jeder von uns hat große Sehnsucht nach dem Frieden. Aber was stellen sich die meisten unter Frieden vor? Wiederaufnahme des friedenswidrigen Lebens!« /. Kloosterhuis

1 Um sich einen Uberblick über das gesamte Schrifttum Heins zu verschaffen, darf man nicht nur das Verzeichnis weiterer Veröffentlichungen im besprochenen Buch (S. 368), sondern muß man auch den Artikel Alfred Hein in Koschs Deutsches Literaturlexikon. Bd 2. Bern 1953, S. 890 zu Rate ziehen.

2 Ins Lager um Schauwecker wird Hein gezogen von H. Pongs: Krieg als Volksschicksal im deutschen Schrifttum. Stuttgart 1934, S. 24. - Weitere einschlägige Schriftsteller des Kameradschaftserlebnisses finden sich bibliographiert bei A. Möhler: Die Konservative Revolution in Deutschland 1918-1932. Ein Handbuch. Darmstadt 21972, S. 441 ff. - Als Untersuchungen können u. a. herangezogen werden K.

Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. München 1962; K. Prümm: Die Literatur des Soldatischen Nationalismus der 20er Jahre. Kronberg 1974 (vgl. die Bespr. in M G M 18 (1975) 233 f.); M. Gollbach: Die Wiederkehr des Weltkrieges in der Literatur. Kronberg 1978.

3 Zit. nach H. Cysarz: Zur Geistesgeschichte der Weltkriege. Bern 1973, S. 181.

Hagen Schulze: Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung. Eine Biographie.

2. Aufl. Frankfurt a. M., Berlin, Wien: Propyläen 1977. 1094 S. ( = Veröffentlichung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz.)

»Otto Braun war der einzige Staatsmann, der über die ganze Spanne der Epoche von Weimar hinweg, also durch alle vierzehn Jahre hindurch, an entscheidender Stelle vor der Aufgabe stand, nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs dem deutschen Volk eine neue politische Le- bensform zu geben und zu sichern.« Diese eher nüchterne Vorstellung Brauns durch seinen ehemaligen Mitarbeiter, den späteren Hamburger Ersten Bürgermeister Herbert Weichmann, ist dahingehend zu ergänzen, daß der langjährige preußische Ministerpräsident einer der bedeu- tendsten Politiker der Weimarer Zeit war, ein Staatsmann, der es - einer Spekulation seines Bio- graphen zufolge (S. 856 f.) - möglicherweise sogar in der Hand hatte, die Republik vor dem Zu- griff der nationalistischen und faschistischen Rechten zu retten.

Unverständlicherweise hat sich die historische Forschung bislang um Braun kaum gekümmert.

1932 erschienen anläßlich des 60. Geburtstags des »roten Zars von Preußen« zwei Lebensbe- schreibungen1. Dann dauerte es bis Anfang der 70er Jahre, daß sich zwei junge Historiker wie- der mit Braun befaßten. Da die eine dieser Arbeiten unzulänglich ist2 und die andere bisher nicht veröffentlicht wurde 3, kann Hagen Schulze mit vollem Recht beanspruchen, die Leistung des sozialdemokratischen Staatsmanns Braun für die Gegenwart als erster erschlossen zu haben.

Der Autor genoß den Vorteil, einen zu Beginn der 70er Jahre in das Geheime Staatsarchiv Preu- ßischer Kulturbesitz gelangten umfangreichen Teil des Nachlasses von Otto Braun erstmals auswerten zu können. Darüber hinaus hat Schulze sämtliche verfügbaren Archivalien - mit Ausnahme des in der DDR lagernden und leider nicht zugänglichen Materials - verarbeitet und eine große Zahl von Zeugenbefragungen durchgeführt. In fünfjähriger Arbeitszeit ist schließlich ein voluminöser Band von fast 1100 Druckseiten entstanden. Alleine der wissenschaftliche Apparat umfaßt 255 Seiten. Ein Werk dieses Umfangs - es handelt sich um eine Kieler Habili- 200 tationsschrift - hat es naturgemäß schwer, über den engen Kreis der Fachhistoriker hinaus von

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einem breiteren Publikum rezipiert zu werden. Dies ist gerade im vorliegenden Fall zu bedau- ern, da Schulze tatsächlich, wie es der Propyläen-Verlag auf dem Klappentext ankündigt, mit der Biographie Otto Brauns zugleich eine Epoche deutscher Geschichte beschrieben und damit, auch unter methodischen Gesichtspunkten4, eine überzeugende und beispielgebende wissen- schaftliche Leistung vollbracht hat.

Die 858 Seiten umfassende, chronologisch angelegte Darstellung ist in folgende Kapitel geglie- dert: 1. Königsberg 1872-1911. 2. Parteivorstand 1911-1918.3. Schwarz-Rot-GoldeneRevolu- tion in Preußen 1918-1921. 4. Die Große Koalition 1921-1925. 5. Der »Rote Zar von Preußen«

1925-1930. 6. Auf verlorenem Posten 1930-1933 . 7. Im Exil 1933-1955. 8. Ein deutscher Staatsmann. Neben anderen wertvollen Hilfsmitteln enthält der Anhang ein umfangreiches Register mit Personenbeschreibungen. Ein Sachregister fehlt, ein Mangel, der durch ein sehr detailliert angelegtes Inhaltsverzeichnis weithin aufgefangen wird. Das Vorwort schrieb der be- reits erwähnte frühere Mitarbeiter und Freund Brauns, Herbert Weichmann.

Eigentlich ist es mehr als nur eine Epoche deutscher Geschichte, die uns in dieser Biographie dargeboten wird: Zunächst das kaiserliche Deutschland, in dem Otto Braun, der 1872 als Prole- tarierkind im ostpreußischen Königsberg geboren wurde, seine Jugend verbrachte, und in dem sich der gelernte Buchdrucker zum Reichstagsabgeordneten und zum Mitglied des Partei- vorstandes der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands emporarbeitete; dann die Weimarer Republik, welche für Braun mit dem Amt des preußischen Ministerpräsidenten den Höhepunkt seiner politischen Laufbahn brachte; schließlich die Zeit des Exils, die für Braun über die Peri- ode der faschistischen Herrschaft (1933-1945) hinaus bis zu seinem Tode 1955 dauerte.

Wenn Hagen Schulze im Untertitel seines Buches Otto Braun mit »Preußens demokratischer Sendung« identifiziert, so ist damit zweierlei gemeint: Zum einen das politische Hauptanliegen Brauns, den halbfeudalen Obrigkeitsstaat Preußen in ein demokratisches Staatswesen umzu- wandeln, zum anderen, daß dieses demokratische Preußen eine über die preußischen Grenzen hinausweisende Sendung habe, daß es nämlich als Kern und als Stabilisationsfaktor eines demokratischen Deutschland wirken sollte. Wenn man bedenkt, welches Gewicht Preußen in Deutschland hatte, so wird sogleich deutlich, welche Rolle für die erste deutsche Republik es hätte spielen können, wenn es gelungen wäre, diese »republikanische Ordnungszelle«

(S. 499ff.) zu erhalten. Von den 70 Millionen Einwohnern der Weimarer Republik waren in Preußen 40 Millionen zu Hause; territorial umfaßte Preußen etwa drei Fünftel des Reiches; der preußische Verwaltungsapparat war die bedeutendste administrative Einheit; somit handelte es sich in der Tat um eine gewaltige Machtballung.

Daß ausgerechnet Preußen eine demokratische Sendung haben könnte, war in der Revolutions- zeit 1918/19 kaum jemandem in den Sinn gekommen, am wenigsten den Sozialdemokraten. Ih- nen hatte Preußen jahrzehntelang als Musterbeispiel eines Obrigkeitsstaates und als Hort des Militarismus gegolten, als ein Staatsgebilde, das, je früher desto besser, von der politischen Landkarte gestrichen zu werden verdiente. Hinzu kam, daß die deutsche Sozialdemokratie seit jeher eine programmatische Vorliebe für den Einheitsstaat hatte und sich daher partikularisti- schen Tendenzen entgegenstellte. Wenn es 1918/19 gleichwohl nicht zur Abschaffung des preu- ßischen Staates zugunsten eines deutschen Einheitsstaates kam, so lag dies einmal an den Vorbe- halten der Länder südlich der Mainlinie, zum anderen an der aus diesen Vorbehalten geborenen Furcht Eberts, daß eine konsequent unitarische Politik in ihr Gegenteil umschlagen, nämlich zum Zerfall des Reiches führen könnte, was man im übrigen in Frankreich und anderswo gar nicht ungern gesehen hätte.

Angesichts der traditionell antipreußischen Grundstimmung in der deutschen Sozialdemokratie war es für die weitere Entwicklung von gar nicht zu unterschätzender Bedeutung, daß mit Otto Braun im März 1920 ein sozialdemokratischer Politiker das Amt des preußischen Ministerpräsi- denten übernahm und es, mit wenigen kurzen Unterbrechungen, bis 1933 behielt, der, nach dem Urteil seines Biographen Schulze, »eine tiefere Affinität zum preußischen Staat« hatte (S. 251) und dem selbst einige »preußische Züge« eigneten, wenn man darunter Eigenschaften verstehen will, die traditionellerweise bei der grundbesitzenden preußischen Herrschaftsschicht vermutet wurden: Souveränität, Selbstbewußtsein, Durchsetzungsfähigkeit und den ausgepräg- ten Willen zur Macht. Für Braun selbst bedeutete »Preußengeist« etwas durchaus Positives:

2 0 1 nüchterne Sachlichkeit, Arbeitsamkeit, Unbestechlichkeit, Rechtlichkeit, Pflichtbewußtsein

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