Kaniska, die Saka-Aera und die KharosthT-Inschriften
Von P. H. L. Eggebmont, Schiedam
§ 1 Das Problem.
Zur Datierung der Kusäna-Inschriften ist es wichtig, daß man im¬
stande ist festzustellen, ob das erste Jalu" der Regierung Kaniskas
identisch ist mit dem ersten Jahre Saka (78/79 A.D.) oder mit einem
andern Aera-Anfang zusammenfällt. Interessante Beweisgründe für die
Identität mit dem ersten Saka-Jahre haben Basham*, Bachhofer*
und Frau van Lohuizen-de Leeuw^ angeführt. In diesem Referat
möchte ich einige Argumente hinzufügen.
§ 2 Ursprung der Saka-Aera.
Als Basis der Beweisführung nehme ich die Schlußfolgerung meines
Aufsatzes über den Ursprung der Saka-Aera*. Weil es für ein richtiges
Verständnis meiner weiteren Erörterungen wichtig ist, die Grundlage
deutlich darzulegen, kann ich nicht umhin, noch einmal eine ganz kurze
Zusammenfassung davon in fünf Punkten zu geben.
1. 40 Jahre vor seinem Tode sagte der Buddha voraus, daß die Lehre
nach 500 Jahren verschwinden würde, mit anderen Worten, das
Ende der Lehre würde sich 460 Jahre nach dem Tode Buddhas
(460 p.B.m. i.e. post Buddham mortuum) ereignen.
2. In der Tat sagen die ceylonesischen Quellen, die beiden Inselchroniken
Dipavamsa und Mahävamsa, aus, daß im Jahre 460 p.B.m. im Samgha
Streitigkeiten stattfinden.
Um dem Untergang der Lehre vorzubeugen, wurde sie in Büchem
aufgeschrieben, während die Tradition vorher nur mündlich über¬
liefert wurde.
1 A. L. Basham, The succession oj the line oj Kaniska, Appendix, B.S.O.S.,
1957, XX, p. 85—88.
2 L. BACHHorBR, Ostasiatisohe Zeitschrift, 1927/1928, N.F. IV. Jahrgang
(der ganzen Reihe XIV. Jahrgang), Berlin und Leipzig, p. 21—43: Die Ära
Kanishkas; idem. Ostasiatische Zeitschrift, 1930, N.F. LX, p. 10—15:
Zur Ära Kanishkas.
3 J. B. VAN LoHUiZEN-DE Leeuw, The 'Scythian' Period, Leiden, 1949,
pp. 380—387.
* P. H. L. Eggermont, The origin of tlie Saka-era, Indo-Iranian Joumal, 1958, vol. II, p. 225—228; idem, Akten des 24. Internationalen Orientalisten-
Kongresses München 1957, p. 540—543.
560 P. H. L. Eggermont
3. Die Sarvästivädins im Norden Indiens kannten diese Tradition ebenso
gut wie die ceylonesischen Theravädins, denn sie überliefern, daß
während der Regierung Kaniskas Schwierigkeiten im Samgha ent¬
standen wären, so daß der König ein Konzil zusammenrief mit dem
Ziel, die Uneinigkeiten zu beenden. Demzufolge wurden die Pitakas
mit Kommentaren versehen.
4. Die Sarvästivädins haben wahrscheinlich eine Buddha-Aera gekannt,
die ein Jahrhundert später begann als die Buddha-Aera der Thera¬
vädins, das heißt, eine Aera, die im Jahre 383 vor Christi Geburt
anfing.
5. Wenn die Sarvästivädins und die Theravädins dieselbe Tradition
von einer schriftlichen Fixierung der Lehre kennen, um damit ihren
Untergang aufzuhalten, ist es wahrscheinlich, daß die Sarvästivädins,
genauso wie es die Theravädins glauben, das Jahr 460 p.B.m.
als das Jahr, in dem die Streitigkeiten stattgefxmden haben und
in dem das Konzil Kaniskas abgehalten wurde, betrachtet haben.
Weil das Jahr 383 vor Christi Geburt mit dem astronomischen Jahre
—382 übereinstimmt, wird das Datum des Konzils Kaniskas 460 minus
382i.e. 78 A.D. sein,und dieses Jahr ist genau der Anfang der Saka-Aera.
Schlußfolgerung.
Die Saka-Aera ist eine buddhistische imd indische Aera, die auf der
Grundlage einer älteren Sarvästivädin-Aera von 383 vor Christi Geburt
gegründet worden ist. In dieser alten Aera wurde das Jahr 460 p.B.m.
als Wendepunkt der Geschichte betrachtet. Nachdem das Rad des
Dharma sich 500 Jahre gedreht hatte, stand es auf dem Null-Punkte
und konnte sich nur durch die Triebkraft des Konzils wieder empor¬
schwingen.
§ 3 Kaniska und die Saka-Aera des Jahres 78 A.D.
Aus meiner Erörterung geht hervor, daß die Geschichte Kaniskas auch
in zahlentheoretiseher Hinsicht eng verknüpft ist mit der Tradition des
Sarvästivädin-Konzils in Kashmir im Jahre 78 A.D.
Immerhin braucht das noch nicht zu bedeuten, daß Kaniska genau im
Jahre 78 A.D. seine Regierung angefangen hätte. Die Kirchenversamm-
lung könnte überhaupt einige Jahre nach dem Anfang der Regierung
Kaniskas zusammenberufen worden sein. Es würde ziemlich ungereimt
sein anzunehmen, daß Kaniska das Jahr 460 p.B.m. abgewartet hätte,
um im geeigneten Moment wie ein deus ex machina zur Rettung der Lehre
zu erscheinen.
In Wirklichkeit aber ist dieses Argument nur scheinbar logisch. Gerade
der Umstand, daß die Tradition das Konzil im 460. Jahre statt im 500.
Kani?ka, die Öaka-Aera und die Kharosthi-Inschriften 561
Jahre nach dem Tode Buddhas zusammenberufen sein läßt, mag ein Be¬
weis für einen Regierungsantritt des Kaniska im Jahre 78 A.D. sein.
Nach der Jaina-Tradition z.B. soll in unserem heutigen Aeon nach
jeder Periode von 500 Jahren ein Upakalki und nach jeder Periode von
1 000 Jahren ein Kalki erscheinen, die die Jaina-Mönche furchtbaren
Verfolgungen aussetzen*. Auf buddhistischer Seite macht der Mihnda¬
panha analoge Angaben. Auf eine Frage des griechischen Königs Me¬
nander antwortet der weise Nägasena, daß nach Aussage des Buddha
die Lehre nur 500 Jahre dauern werde*.
Der Text teilt leider nicht mit, von welchem Zeitpunkte ab diese 500
Jahre gezählt werden sollen, sei es vom Tode Buddhas oder von einem
anderen wichtigen Ereignis seines Lebens ab. Selber bin ich der Mei¬
nung, daß der weise Nägasena das Mahäparinirväna des Buddha als den
Zeitpimkt betrachtet hat, von wo ab die 500 Jahre gerechnet werden
sollen. Dies würde jedenfalls am meisten den indischen Theorien in dieser
Hinsicht entsprechen.
Solche Ideen spielen z.B. eine Rolle im Visnu- und Bhägavata-
Puräna, wo es heißt:'
„Als der Teil des Herrn Visnu, der geboren ist in Väsudevas Famihe
und dessen Namen Krsna ist, zum Himmel hineinging, fing die Kali-
Periode an. Solange er mit seinen Lotos-Füssen die Erde berührte,
konnte die Kali-Periode die Erde nicht ergreifen".
Diese Hinweise genügen als Beweis dafür, daß die älteste bud¬
dhistische Tradition überliefert hat, daß der Niedergang der Lehre
500 Jahre nach dem Mahäparnirväna des Lehrers stattfinden würde.
Dies bedeutet, daß jene Tradition, die dieses Ereignis schon 460 Jahre
nach dem Tode Buddhas geschehen läßt, in Wirklichkeit eine sekundäre
und revidierte Überlieferung der Legende darstellt.
Die Motive dieser Revision können wie folgt beschrieben werden. Weil
die Sarvästivädin-Chronologen voraussetzten, daß der Buddha in einem
Jahre gestorben war, das dem Jahre 383 vor Christi Geburt entspricht,
hatten sie zu berücksichtigen, daß die Lehre im Jahre 500 minus 382 i.e.
118 A.D. zu Grunde gehen würde.
Im Jahre 78 A.D. jedoch bemächtigte Kaniska sich des Königtums
und mit ihm fing für den Sarvästivädin-Buddhismus eine Periode an,
6 H. VON Glasenapp, Der Jainismus, Berlüi, 1925, p. 301.
Siehe auch Yativr^abha's Triloka-prajnapti, IV, Vers 1516:
„evarn vassasahasse puha puha Kakki havei ekkekko /
parncasayavaccharesurn ekkekko taha ya Uvakakki" .
" Milindapanha, ed. V. Tbencknee, pp. 130—134.
' F. E. Paegitek, The Puräna Text of the Dynasties of the Kali Age,
Oxford, 1913, p. 75 (Zitat ins Deutsche übersetzt).
562 P. H. L. Eggebmont
in der die Aussichten für die Verbreitimg der Lehre überaus günstig
schienen. Anstatt eines Niederganges trat eine erneute Blüte der Lehre
ein, und die Vorhersage eines Niederganges erwies sich offenbar als
falsch. Außerdem zeichneten Kaniskas Saka-Satrapen sich als eifrige
Upäsakas aus; auch später, als sie sich von der Kusäna-Oberherrschaft
losgesagt hatten und ein selbständiges Königreich im westlichen Indien
besaßen, setzten sie die Tradition, in der Aera Kani.skas zu datieren, fort,
so daß diese Aera den Namen Saka-Aera erhielt.
Demnach wurde es für die Sarvästivädins notwendig, ihre alte Chrono¬
logie zu revidieren. Die alte Tradition des Niederganges der Lehre in
einem dem Jahre 118 A.D. entsprechenden Jahre, wurde durch eine
andere ersetzt, die diesen Zeitpunkt 40 Jahre früher ansetzte, nämlich
im ersten Jahre der Regierimg Kaniskas, dem Jahre 78 A.D.
Weil die Sarvästivädins dieses Jahr als einen Wendepunkt der Ge¬
schichte betrachten, verlegten sie auch das bekannte Konzil, auf dem die
Kommentare der Pitakas verfaßt sein sollten, in dies erste Jahr
der Kaniska- oder Saka-Aera. Um ihre Chronologie aufrecht erhalten zu
können, waren die Chronologen gezwungen, den Zeitpunkt der Vorhersage
des Niederganges des Dharma vom Todesjahre Buddhas auf sein
40. Lebensjahr zu verschieben, das heißt, 40 Jahre vor seinem Tode,
weil der Buddha im Alter von 80 Jahren gestorben ist.
Schlußfolgerung.
Die Saka-Aera ist mit der Aera Kaniskas identisch und entspricht
außerdem der Aera der Sarvästivädin-Buddhisten, die ihre alte Aera
von 383 vor Christi Geburt eintauschten für eine Aera von 78 A.D.
§4 Die Jaina-Aera von 383 vor Christi Geburt.
Aus dieser Schlußfolgerung geht hervor, daß die Sarvästivädin-Aera des Jahres 383 vor Christi Geburt keine rein theoretische Aera gewesen ist,
die ohne praktische Verwendung gebheben wäre. Man hat es für unbedingt
nötig gehalten, die alte Aera von 383 vor Christi Geburt mit der Aera
Kaniskas auszugleichen, die auch jetzt noch als Saka-Aera praktisch
verwendet wird.
Ein interessanter Beweis dafür ist die Tatsache, daß sogar die Jainas
eine alte Tradition besitzen, die den Tod Mahäviras in dasselbe Jahr
383 vor Christi Geburt setzt. Diese Tradition ist in der Triloka-prajnapti
(Tiloya-pannatti) aufgezeichnet worden. Dieser Text ist im Jaina Präkrit
verfaßt worden von Yativrsabha (Jadivasaha) zwischen den Jahren
458 A.D. und 816 A.D. und befaßt sich hauptsächlich mit der Jaina
Kosmographie* .
' Jadivasaha's Tiloya-Pannatti, ed. A. N. Upadhye and H. L. Jaxn,
Jivaraja Jain Granthamälä no. 1, Sholapm, 1956.
Kaniska, die ^aka-Aera und die Kliaro?thi-Inschriften 563
Kapitel IV, Vers 1496, dieses Textes lautet folgendermaßen* :
„Als 461 Jahre nach der Siddhi des Jina vorbei waren, kam der
Saka-König (zur Herrschaft)".
Aufschlußreicher sind noch die Verse 1503 imd 1504:
„461 Jahre nach dem Nirväna des Vira erschien der Saka-König
und die Regierung des Geschlechts dauerte 242 Jahre.
255 Jahre regierten die Guptas und Caturmukha regierte 42 Jahre.
Man berechnet also 1000 Jahre".
Von den genannten Zahlen sind die zwei ersten vertrauenswürdig,
nämlich 461 und 242.
Die Jainas haben den Tod Mahäviras wahrscheinlich nach dem Vor¬
gange der Sarvästivädin-Buddhisten auch im Jahre 383 vor Christi Greburt
angesetzt, doch im Gegensatz zu ihnen die Saka-Aera im Jahre 79
A.D. anstatt im Jahre 78 A.D. angefangen, also 461 Jahre anstatt 460
J"ahre später. Die Zahl 242 für die Regienmg der Sakas ist uns weiter be¬
kannt aus der Angabe Alberunis, der mitteilt, daß zu seiner Zeit drei Pe¬
rioden für die Sakas geläufig waren, nämlich 240, 241 imd 242 Jahre".
§ 5 Die Aera von 383 vor Christi Geburt und die Kharo,?thi
Inschriften.
Weil die Aera von 383 vor Christi Geburt praktisch verwendet worden
ist, ist es zu erwarten, daß sie auch in den Inschriften, die älter sind als
das erste Saka-Jahr 78/79 A.D., angetroffen wird.
In der Tat gibt es eine Gruppe von Inschriften, die in dieser Hinsicht in
Betracht kommen. Es ist allgemein bekannt, daß sich unter den Kharo¬
sthi Inschriften eine kleine Gruppe befindet, die mit Jahreszahlen
über 300 datiert ist, nämlich 303 (Reliquarium I von Chärsadda), 318
(Sockel von Loriyän Tangai), 359 (inskribierter Stein von Jamälgarhi),
384 (Sockel von Hashtnagar) und 399 (Statue von Skärali Dheri)!^.
Diese datierten Gegenstände sind in einem relativ kleinen geo¬
graphischen Raum zwischen dem Kabul-Fluß und dem Indus, auf-
^ ebenda: ,^irajine siddhigade camadaigisatthwäsaparimäne /
kälammi adikkamte uppanno ettha Sakarao — 461 —"
1° ebenda: „nivvänagade Vire causadaigisatthiväsavicchede /
jado ya Saganarirndo rajjam vamsassa dusayabädälä jj
II 461—242 //
donni sadä panavannä Guttänarn Caumuhassa bädälarn /
vassam hodi sahassam kei evam parüvamti //
// 255—42 //".
Corpus Inscriptionum Indicarum, vol. III: Inscriptions of the Early
Gupta Kings and their Successors, ed. J. F. Fleet, Calcutta, 1888, p. 25 und
p. 26 (Introduction.)
12 Dio Inschrift von 303 m Epigraphia Indica, vol. XXIV, 1937, Delhi,
p. 8—10; die übrigen Inschriften in Corpus Inscriptionum Indicarum,
vol. II, part I, ed. Sten Konow, Calcutta, 1929, p. 106, p. 110, p. 117, p. 124.
564 P. H. L. Eggebmont, Kani?ka, die Öaka-Aera
gefunden worden und zwar in einem Gebiet, das den Sakas als Basis für
den Angriff auf Indien gedient hat. Professor Vogel hat damals vorge¬
schlagen, diese Inschriften nach der Seleukiden-Aera von 312 vor
Christi Geburt zu datieren, so daß die Reliefs und Statuen, die zu den
genannten inskribierten Sockeln gehörten, im Laufe des ersten Jahr¬
hunderts A.D. hergestellt sein mußten.Um ein Jahrzehnt früher waren
die Datierungen des Professors Foucher, der vorschlug, eine Maurya-
Aera einzuführen, die mit dem ersten Jahre des Candragupta Maurya
anfing, weil er die Statuen vmd Reliefs als Specimina früher Gandhära-
Kunst betrachtete"*.
Die Bedenken gegen ihre Theorien waren einerseits, daß es eine
Seleukiden-Aera auf indischem Gebiete überhaupt nieht geben könnte,
weil es eine ausländische gewesen wäre, und andererseits, daß die soge¬
nannte Maurya-Aera ohne irgend eine Begründimg nur zu Diensten
spezieller kunsthistorische Theorien erfunden worden wäre.
Diese beiden Argumente können sich nicht beziehen auf die Aera von
383 vor Christi Geburt, die ich zur Lösung dieses Problems vorschlage.
Diese Aera ist erstens eine rein indische Aera, die sowohl von den
Sarvästivädin-Buddhisten, als auch in ihrer Nachfolge von den Digam-
bara-Jainas verwandt worden ist. Sie ist zweitens von mir mit den
zitierten einschlägigen Texten arithmetisch begründet worden.
Demnach würden wir zuletzt eine Reihe genau datierter indischer
Kunstwerke der Gandhära-Kunst besitzen, die die Kunsthistoriker in
den Stand setzen, vertrauenswürdige Schlußfolgerungen betreffs der
griechischen Einflüsse auf die indische Kunst zu ziehen.
Zum Schluß lasse ich die Daten der genannten Inschriften folgen,
umgerechnet in Jahre vor und nach Christi Geburt.
80 vor Chr. Reliquarium I von Chärsadda 303 Sarvästivädin-Aera
65 „ „ Loriyän Tangai Sockel 318
24 „ „ inskribierter Stein von 359
Jamälgarhi
2 A.D. Hashtnagar Sockel 384
17Ä.D. Skärah Dheri Statue 399
Eine merkwürdige Koinzidenz ist, daß unter dem Sockel der Buddha-
Statue von Hashtnagar, die ich in das Jahro 2 A.D. datiert habe, eine
Kadphises-Münze in situ aufgefunden worden ist. Demnach besitzen wir
ebenfalls ein annus a quo für die Regierung des Kujüla Kadphises.
1' J. P. Vogel, Inscribed Gandhära Sculptures, Archaeological Smvey of
India, Annual Report 1903—1904, p. 259.
" Übersicht der Theorie Fouchers in L. de la Vallee-Poussin, L'Inde
aux temps des Mauryas, Paris, 1930, p. 256—258, und p' 357—360 (fire
Mamya, öre Söleucide).
Nachrevolutionäre Literaturen
sibirischer Türkvölker*
Von H. Wilfbid Beands, Frankfurt a.M.
Die in der Sowjetunion erscheinende türksprachige Literatm der
letzten Jahrzehnte ist außerhalb der UdSSR nur wenig beachtet worden.
Die erheblichen Schwierigkeiten, an primäres wie sekimdäres Material
heranzukommen, machen diese Vernachlässigung erklärlich. Wemi dies
schon für literarische Zeugnisse aus den Unionsrepubliken — wie Ösbe-
kistan, Kasachstan oder Aserbaidschan — gilt, so erst recht für solche
aus den , .Autonomen Republiken" (ASSR) und „Autonomen Gebieten"
(AO) innerhalb der Russischen Föderation (RSFSR), deren einheimische
Bevölkerung zum Teil nur nach Zehntausenden zählt und die meist Rand¬
gebiete des türkischen Siedlungsraumes sind. So ist die in diesem Jahr¬
hundert entstandene Kunstliteratur der Jakuten, der Tuviner, der
Chakassen, der Altaier wie die — hier nicht zu behandelnde — der
Kumüken, Nogaier, Karaöaier und Balkaren weitgehend terra incognita
geblieben. Dabei handelt es sich hier (mit Ausnahme vielleicht der
Jakuten) um Völkerschaften, von deren Sprache und ethnischer Eigenart
möglicherweise in nicht allzufemer Zukimft nur noch wenige Spuren ge¬
blieben sein werden. Der durchschnittlich seit einem Jahrhundert wirk¬
same natürliche Assimilationsprozeß wird durch die unerbitthchen
Gegebenheiten der Industrialisierung so stark beschleunigt, daß ihm der
Selbstbehauptungswille kleiner Minderheiten auf die Dauer nicht ge¬
wachsen sein kann.
Ein Beispiel für eine bereits abgeschlossene Entwicklung in dieser
Hinsicht haben wir in dem südsibirischen Türkstamm der Soren, dem
man zwar in sowjetischer Zeit noch eine Schriftsprache geschaffen hat,
in der noch in den dreißiger Jahren auch literarische Zeugnisse gedruckt
wurden^, der aber nach der Aufgabe des „Autonomen Gebiets der Berg-
Soren" (1939) auch aus der Sprachenstatistik der in Moskau jährlich
veröffentlichten Übersichten zum Druckwesen der UdSSR verschwunden
ist. Das ethnische Schicksal solcher kleiner Minoritäten hat bekannthch
1 Vortrag beim XV. Deutschen Orientalistentag 1961 in Göttingen.
2 Im Jahre 1939 wmden nooh 30 Bücher tmd Broschiuen in sorischer
Sprache mit einer Gesamtauflage von 41000 Expl. gedruckt, (s. PeSaf
SSSP 1939, Moskau 1940). Peitsak (Philologiae Turcicae Fundamenta, I,
Wiesbaden 1959, S. 361) nennt einen sorischen Dichter, F. S. Cespijakov.