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Archiv "Alkoholeffekte und Schwachformen der Alkoholembryopathie" (10.10.1991)

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AKTUELLE MEDIZIN

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Alkoholeffekte

und Schwachformen der Alkoholembryopathie

Hermann Löser

nter allen heute be- kannten mißbildungs- fördernden und hirn- schädigenden Schad- stoffen in der Schwan- gerschaft nimmt Alkohol den be- deutsamsten Rang ein. Alkohol als Genuß- und Suchtmittel, zugleich als zytotoxische und mitosehemmende Substanz wird von mehr als 80 Pro- zent aller Frauen im gebährfähigen Alter in mehr oder weniger großen Mengen eingenommen, überwiegend im Rahmen des gelegentlichen, ge- wöhnlichen und sozialen Trinkens, häufig auch in mißbräuchlicher und abhängiger Weise bei Alkoholkrank- heit.

Seit den ersten Beschreibungen der Alkoholembryopathie durch Le- moine et al. 1968 in Frankreich (8) wurde überwiegend das Vollbild der Schädigung in seinen augenfälligen, körperlichen Merkmalen, mentalen Defiziten und sozialen Auswirkun- gen erfaßt. Im großen Spektrum der Schädigungsgrade gibt es jedoch flie- ßende symptomatische Übergänge von den schwersten Formen bis hin zu diskreten Veränderungen (1, 16, 18) (Abbildungen 1 bis 5). Wenn pro Jahr in Deutschland 2200 Kinder mit ausgeprägter Alkoholembryopathie (Grad I bis III) geboren werden, so repräsentiert diese Zahl nur die kli- nisch erkennbaren (siehe Tabelle 1) und manifesten Schäden, gleichsam die Spitze eines Eisberges, nicht aber die weitaus größere Zahl der Schwachformen, Abortivformen und sogenannten Alkoholeffekte, die oft nicht als alkoholspezifisch erkannt werden. Die Bedeutung der frühen Diagnostik bei diesen Kindern soll im folgenden aufgezeigt werden.

Mütterlicher Alkoholkonsum in der Schwangerschaft führt weit- aus häufiger zu Alkoholeffekten und diskreten Enzephalopathien als zur Alkoholembryopathie mit den typischen klinischen Verän- derungen. Das embryonale und fetale Gehirn reagiert morpholo- gisch und funktionell wesentlich empfindlicher auf Alkohol als im Erwachsenenalter. Unter 202 Kin- dern mit Alkoholembryopathien wurden in 87 Fällen Schwachfor- men diagnostiziert; die Erken- nung sogenannter Alkoholeffekte ist in den ersten Lebensjahren schwierig. Kennzeichen der Alko- holeffekte sind besonders Hirn- leistungsstörungen in Form von Lernstörungen. Sprachentwick- lungsverzögerungen, Defizite im logischen Denken, Verhaltensstö- rungen, besonders Hyperaktivität, Störungen der Motorik und sozia- le Reifungsverzögerungen.

1. Schwachformen der Alkoholembryopathie In den klinischen Ausprägungen werden heute nach Gesichtspunkten der teratologischen und klinischen Betroffenheit drei Schweregrade (Grad I bis III nach Majewski) der Alkoholembryopathie unterschieden (15). Die typischen Symptome, mor- Klinik und Poliklinik für Kinderheil-

kunde — Kardiologie

(Direktor: Prof. Dr. med. Johannes Vogt) Westfälische Wilhelms-Universität Münster

phologischen Merkmale und Bewer- tungskriterien ergeben sich aus Ta- belle I. Da besonders das Gehirn in utero morphogenetisch und funktio- nell auf Alkohol empfindlich rea- giert, sind im Kindesalter die Hirn- leistungsdefizite, die Verhaltensstö- rungen und Zeichen der mentalen Retardierung in der Regel deutli- cher ausgeprägt als die Gesamtheit der körperlichen Fehlbildungen in Form von Wachstumsstörungen und erkennbaren Minor- und Major- anomalien (3, 5, 7, 19, 21).

Eigene Untersuchungen

Von 1973 bis 1990 wurden an der Universitäts-Kinderklinik 202 Kinder mit dem Vollbild der Alko- holembryopathie (Grad I bis III) dia- gnostiziert, deren Mütter im Sinne der Definition von Jellinek und der WHO alkoholkrank waren. Die Kin- der kamen im Alter von einem Tag bis 17 Jahren zur Untersuchung und wurden, soweit möglich, langzeitig bezüglich ihrer körperlichen, menta- len und sozialen Entwicklung ver- folgt (9, 11, 13).

Unter 202 Kindern mit Alkohol- embryopathie wurden 87 Kinder (41 Prozent) mit leichtem Schweregrad diagnostiziert. Es handelte sich um 47 Jungen (54,1 Prozent) und 40 Mädchen (45,9 Prozent). Die täglich genossenen Alkoholmengen, umge- rechnet in Gramm reinen Alkohols pro Tag, konnten von 43 Müttern (49 Prozent) durch ausführliche anam- nestische Exploration näher erfah- ren werden. Die durchschnittliche Alkoholmenge pro Tag in der Schwangerschaft betrug 175,5 g (SD

± 70,93) reinen Alkohols. Die Müt- ter begannen durchschnittlich seit A-3416 (50) Dt. Ärztebl. 88, Heft 41, 10. Oktober 1991

(2)

KRANIOFAZIALE VERÄNDERUNGEN BEI ALKOHOLEMBRYOPATHI

Mikrozephaiie

etwas vorgewölbte Stirn

verkürzter Nasenrücken

Epicanthus Ptosis enge Lidspalten antImongol. Lidachsen

(leichtes) Schielen

vorstehende Narinen__

konvexbogige Formation

fliehendes Kinn

Haaraufstrich im Nacken

tiefansetzende, nach hinten rotierte Ohren

hypoPlastisfflgie

Cupido-Bogen Philtrum schmales Lippenrot (besonders Oberlippe) fehlender

Abbildung 1: Typische kraniofaziale Veränderungen bei Alkoholembryopathie 7,27 Jahren ( ± 5,5 Jahre; n = 56)

vor der Geburt mit dem übermäßi- gen Alkoholmißbrauch oder der Ab- hängigkeit. Die Schwangerschaftsda- ten, Geburtsmaße der Kinder und deren körperliche und geistige Ent- wicklung ergeben sich aus den Tabel- len 2 bis 4.

Die Umfeld- und Förderungsbe- dingungen der 87 leicht betroffenen Kinder konnten in 95,1 Prozent als sehr gut bis befriedigend eingestuft werden, nur in wenigen Fällen als ungünstig oder mangelhaft, zum Teil unter Bedingungen der psychosozia- len Deprivation im Trunksuchtmi- lieu.

Körperliche und mentale Entwicklung

Die körperliche und statomoto- rische Entwicklung wurde nach ei- nem Bewertungssystem aus Perzenti- lenkurven klassifiziert (sehr gut bis ungenügend). Die Beurteilung der mentalen Entwicklung gründete sich auf eigene ambulante Untersuchun- gen nach dem dritten Lebensjahr, nach Beurteilungen der Sorgebe- rechtigten, der Schule in Form der Schulzeugnisse, nach auswärtigen

Abbildung 2: Extreme Gesichtsveränderun- gen bei Alkoholembryopathie. 9jähriges Mädchen, Gewicht 16 kg. Sehr dünne Lip- pen, schmales Lippenrot, fehlendes Phil- trum. Schielstellung der Augen, sehr schma- le Lidspalten; Schweregrad III

Intelligenz- und Entwicklungstest so- wie nach Auskünften von Lehrern, Sozialpädagogen und Institutionen.

Verhaltensstörungen

Bei 81 von 87 Kindern wurde ei- ne Verhaltensbeurteilung vorgenom- men. Das Verhalten erschien bei 53,0 Prozent nicht auffällig (1 bis 3), in 47,0 Prozent bestanden Verhal- tensstörungen, die, geordnet nach der Häufigkeit, folgende Formen aufwiesen:

1. Hyperaktivität in Form von überschießendem ungeordnetem Be- wegungsdrang und geringer Auswahl der motorischen Handlungsimpulse.

Schwere Lenkbarkeit und Folgsam- keit bei pädagogischen Bemühun- gen.

2. Impulsivität auf affektivem Gebiet, überschießende Angst- und Schutzreaktionen; geringe Frustrati- onsschwelle. Überstürzte, oft unmo- tivierte Bewegungsimpulse.

3. Fein- und grobmotorische Störungen in Form von neuromotori- schen kortikalen, subkortikalen und zerebelären Bewegungsstörungen, ungleichförmigen und zielunsicheren Bewegungsabläufen, Störungen der Ausdrucksmotorik und „Ungeschick- lichkeit" (1, 2, 3, 11, 14). Darüber hinaus wurden häufig Verhaltens- auffälligkeiten beobachtet und ge- schildert, die bei Alkoholembryopa- thie eigentümlich zu sein scheinen

(4, 9, 11, 14„ 17, 23, 24): Vermehrte Risikobereitschaft beim Spiel. Di- stanzlosigkeit und mangelnde Frem- denangst, übermäßige Kontaktfreu- de und Anschmiegsamkeit, vermin- dertes Feingefühl im Sozialkontakt, geringe Aggressionstendenz, Ableh- nung durch Gleichaltrige, überwie- gend infolge der Hyperaktivität.

Verbunden mit den Verhaltens- störungen zeigten sich gehäuft sozia- le Reifungsstörungen, insgesamt bei 22 Prozent (15/68) der betroffenen Kinder. Es steht nach bisherigen Verlaufsbeobachtungen zu erwarten, daß bei diesen Kindern Probleme im Erwachsenenalter auftreten, sowohl im beruflichen Umfeld als auch bei der Partnerwahl und im weiten Feld der sozialen Eingliederung (2, 13, 19).

2. Alkoholeffekte

Es kann heute als gesichert gel- ten, daß Alkohol in der Schwanger- schaft nicht nur bei Alkoholkrankheit der Mutter zu erkennbaren Schäden bei Embryo und Feten führt, sondern auch bei nur durchschnittlichem Al- koholkonsum, bei gelegentlichem ex- zessivem Trinken, bei sozialem Trin- ken und Problemtrinken.

Das Gehirn des Ungeborenen reagiert — in Analogie zum Erwach- senen — sowohl morphologisch als Dt. Ärztebl. 88, Heft 41, 10. Oktober 1991 (53) A-3417

(3)

46%

ca. 10%

29%

ca. 3%

2/4 Genitalfehlbildungen

4 Nierenfehlbildungen

4 Herzfehler

Alkoholkardiomyopathie

3 2 2 1 2 2

2

1 52% 12%

Tabelle 1: Klinische Symptomatik und Bewertung bei Alkoholembryo- pathie

Punkte nach S,mptomatik Häufigkeit

Majewski

Intrauteriner Minderwuchs, Untergewicht postnatale Wachstumsverzögerung vermindertes subkutanes Fettgewebe Kraniofaziale Dysmorphie

Mikrozephalie

Haaraufstrich im Nacken verkürzter Nasenrücken Nasolabialfalten

schmales Lippenrot, dünner Lippenwulst fehlendes/abgeflachtes/verlängertes Philtrum kleine Zähne/Zahnanomalien

Hypoplasie der Mandibel, fliehendes Kinn hoher Gaumen

Gaumenspalte

cb; splasiiche. tief ansetzende Ohren

98%

85%

ca. 80%

84%

ca. 35%

49%

71%

61%

95%

16%

63%

25%

7%

32%

Augenfehlbildungen

Myopie/Hyperopie/Astigmatismus Strabismus

Optikusaplasie/-hypoplasie/Spaltbildungen Mikrophthalmie/Mikrocornea

Epikanthus Ptosis

Blepharophimose antimongoloide Lidachsen 2

2 2

25%

23%

ca. 15%

3%

54%

36%

24%

34%

Extremitäten-/Skelettfehlbildungen anomale Handfurchen

Brachy-/Klinodaktylie V Kamptodaktylie

Hypoplasie der Endphalangen/Nagelhypoplasie radioulnare Synostose

Hüftluxation Skoliose

Pectus excavatum/Pectus gallinaceum

64%

41%

14%

15%

14%

12%

5%

30%

Weitere Fehlbildungen Hernien

Fovea coccygea

Neurologische, inentale, psychopathologische Störungen

Geistige Entwicklungsverzögerung Sprachstörungen

Hörstörungen

Eß- und Schluckstörungen Schlafstörungen, Pavor nocturnus

muskuläre Hypotonie/Skelettmuskeldysplasie feinmotorische Dysfunktion

2/4/8

2

89%

80%

ca. 20%

ca. 30%

ca. 40%

54%

80%

Verhaltensstörungen

Hyperexzitabilität, Hyperaktivität Distanzlosigkeit, Vertrauensseligkeit erhöhte Risikobereitschaft

emotionale Instabilität

4 72%

ca. 50%

ca. 40%

ca. 30%

10-29 Punkte: Schädigungsgrad I (leicht) 30-39 Punkte: Schädigungsgrad II (mäßig)

> 40 Punkte: Schädigungsgrad III (schwer)

Auf der linken Seite sind die Bewertungspunkte nach Majewski angegeben; rechts die mittle- re Häufigkeit in Prozent der Fälle bei leichtem bis hohem Schweregrad. Die Häufigkeitszah- len beziehen sich auf Angaben von Majewski (1988) und eigenen Untersuchungen (1990) bei 193 Fällen. Einige Zahlen wurden der Literatur entnommen (Abel 1987) oder nach eigenen Beobachtungen geschätzt (mit ca. gekennzeichnet).

4

auch funktionell auf Alkohol, jedoch mit gesteigerter Empfindlichkeit (1, 4, 5, 14, 24, 25).

Diese Veränderungen werden in neuerer Zeit unter dem Begriff der Alkoholeffekte zusammengefaßt (1, 5, 17, 21). Man versteht darunter al- koholbedingte embryotoxische Zei- chen einer zerebralen Dysfunktion mit erfaßbaren und meßbaren Hirn- leistungsstörungen, besonders im psychomotorischen, neuropsychi- schen und verhaltensbezogenen Be- reich. Ahnlich wie bei der minimalen zerebralen Dysfunktion ergeben sich komplexe Störungen und Teillei- stungsstörungen des Gehirns mit weitgehend typischen Verhaltens- mustern. Diese können auch ohne erkennbare körperliche Verände- rungen oder nur sehr geringen Fehl- bildungen im Sinne von Minorano- malien beobachtet werden. Die Dia- gnose kann nur per exclusionem und bei gesicherter Alkoholanamnese ge- stellt werden.

Zur Definition der Alkoholeffekte

Der Begriff ist bis heute nicht klar umschrieben, und es gibt zwei- fellos gleitende Übergänge, einer- seits zu den Schwachformen der Alkoholembryopathie, andererseits zum Normalen. So sprechen Hanson et al. (7) von möglichen Alkohol- effekten („possible effects"), wenn zentral nervöse Veränderungen und Verhaltensstörungen bestehen, das Vollbild der Alkoholembryopathie nicht ausgeprägt ist und eine mütter- liche Alkoholvorgeschichte gesichert ist (7, 22, 24). Eine prognostische Aussage aufgrund der anamnestisch ermittelten täglichen Alkoholmenge ist nicht möglich, da eine streng line- are Dosiswirkungsbeziehung zwi- schen Alkoholmenge und Ausprä- gung der Schädigung nicht festge- stellt werden kann (5, 6, 15, 16). Pa- thophysiologisch ist bekannt, daß nicht die Alkoholmenge den klini- schen Schweregrad bestimmt, son- dern vielmehr die individuell unter- schiedlich ausgebildete Toleranz und zelluläre sowie metabolische Anpas- sungsfähigkeit bei Mutter und Kind (6, 10, 12, 15, 16, 18). Hinzu kommt die Plastizität des Gehirns, die be- kannte Fähigkeit, in unterschiedlich

A-3418 (54) Dt. Ärztebl. 88, Heft 41, 10. Oktober 1991

(4)

Tabelle 2: Schwangerschafts- und Geburtsdaten bei Schwachformen der Alkoholembryopathie (n = 87)

(SD ± 6,0 ) (SD ± 3,74)

Alter der Mütter 30,1 Jahre

Schwangerschaftsdauer 37,1 Wochen

(SD ± 0,69) (SD ± 3,9 ) Geburtsgewichte

Geburtslängen

Kopfumfänge 33,4 cm (SD ± 3,0 )

2,47 kg 47,0 cm

Abbildung 3 a, b, c: Kinder mit deutlichen Gesichtsveränderungen bei Alkoholembryopathie mit hohem Schweregrad. Man beachte die schmalen Lidspalten und den Epikanthus, Die Lippen sind schmal, das Oberlippenrot zum Teil eingezogen. Das Philtrum ist abgeflacht.

Nach vom stehende Narinen (besonders in 3 c), Schielstellung der Augen (in 3 b). Beim Säugling (3 c) Ernährung durch eine Nasensonde wegen Schluckstörungen

komplexer Weise pränatal entstan- dene Schäden auszugleichen; auch wird das Bild der Alkoholschädigung beim Kind häufig durch Umfeldfak- toren und soziale Deprivation über- lagert (9, 11, 13, 15, 20). Dennoch ist tierexperimentell (4, 5, 6, 24), in der Verhaltensteratologie (1, 2, 15, 17, 22) wie auch toxikologisch beim menschlichen Embryo gut begründ- bar, daß es Alkoholeffekte, zumin- dest als toxische Auswirkung auf das Gehirn, gibt.

Bei eigenen Untersuchungen wurde erst in den letzten fünf Jahren auf Alkoholeffekte geachtet. Die Diagnose der Alkoholeffekte wurde bei elf Kindern, die Verdachtsdia- gnose („mögliche Alkoholeffekte" — 1, 5) bei 21 Kindern gestellt. Der Verdacht ergab sich, wenn in der Anamnese über mißbräuchliches Trinken in der Schwangerschaft be- richtet wurde, wenn exzessiv gele- gentlich getrunken wurde (mehr als 70 g reinen Alkohols bei einer Trink- gelegenheit), wenn die mentalen De- fizite und die Verhaltensstörungen der Kinder als typisch angesehen wurden (9, 11) und wenn nach Aus- schluß anderer Faktoren wie Ge- burtsschäden, übermäßiges Rau- chen, Medikamentenmißbrauch und

Drogen in der Schwangerschaft, Pla- zentainsuffizienz und pränatale Er- krankungen eine Schädigung durch Alkohol anzunehmen war (3, 22).

Diagnostische Probleme bei Alkoholeffekten

Der Nachweis der Alkoholeffek- te ist aus vielen Gründen diagno- stisch und methodisch schwierig:

1. Kein einzelnes, neurologi- sches und psychiatrisches Symptom ist — ebensowenig wie ein einzelnes morphologisches Kennzeichen — al- koholspezifisch

2. Viele Testverfahren erfor- dern eine aktive Mitarbeit der Kin- der, diese ist jedoch erst nach etwa drei Lebensjahren möglich. Daher

können Alkoholeffekte meist nicht in den ersten Lebensjahren erfaßt werden.

3. Die Schwangerschaftsvorge- schichte ist fast immer vielgestaltig, und auch die Trinkmuster nach Jelli- nek sind uneinheitlich und komplex:

Regelmäßiges Gewohnheitstrinken, Erleichterungstrinken (vom Alpha- typ nach Jellinek) finden sich ebenso wie die bei Frauen besonders häufi- gen Trinkmuster des exzessiven Al- koholgenusses in kurzer Zeit, episo- denhaftes und periodisches Trinken mit der Fähigkeit nachfolgender Nüchternheit für Tage oder Wochen (Epsilon-Typ nach Jellinek). Das unterschiedliche Konsumverhalten, zum Beispiel Trinken nur an Wo-

Dt. Ärztebl. 88, Heft 41, 10. Oktober 1991 (57) A-3421

(5)

Tabelle 3: Wo wuchsen die Kinder auf? (n = 87) in einer Pflege- familie

57,1%©

in einer Adaptiv- familie

9,5%

in einem Heim 8,3%

in der Herkunfts- familie

18,0%

in wechselndem Umfeld

100,0%

7,1%

chenenden, im Urlaub und durch Fremdmotivation, sind oft nicht den bekannten Typen nach Jellinek zu- zuordnen.

4. Die Angaben zum Alkohol- konsum werden oft verheimlicht, verharmlost oder können nicht di-

rekt erhoben werden.

5. In den Auswirkungen beim Kind sind zahlreiche perinatologi- sche Faktoren, das Umfeld, postna- tale Erkrankungen und genetische Gesichtspunkte zu berücksichtigen (13, 15, 18, 22).

Alkoholeffekte in der

Longitudinal-Studie von Seattle Die größte bisherige Untersu- chung zu Alkoholeffekten wurde in einer prospektiven Langzeitstudie seit 1974 in Seattle bei 486 Kindern im Alter von 7 1/2 Jahren (6 1/2 bis 8 1/2 Jahren), (17, 20, 21, 22, 23, 24) durchgeführt. Es handelt sich um eine Screeninguntersuchung bei modera- tem Trinken der Mütter in der Schwangerschaft. Die breit angelegte Untersuchung durch ein Team von Psychologen, Jugendpsychiatern, Sta- tistikern, Verhaltensforschern und Kinderärzten ist die erste Untersu- chung, die alle wesentlichen Varia- blen und Einflußfaktoren in der Vor- geschichte berücksichtigt, unter ande- rem die Herkunft der Mütter, soziale Schichtung, andere mögliche terato- gene Substanzen in der Schwanger- schaft, Erziehung, Ernährung, Umge- bung, insgesamt 150 Co-Variate und Co-Faktoren. Das variable Trinkver- halten wurde in mehrere Gruppen aufgeschlüsselt: Durchschnittliche Trinkmenge pro Tag (im Durch- schnitt wurden 12 bis 15 g pro Tag ge- trunken), exzessives Trinken in kurzer Zeit (sogenanntes „Binge*)-Trin- ken", das heißt mehr als fünf „Drinks"

pro Gelegenheit, vor und nach Erken- nung der Schwangerschaft), durch- schnittliche Anzahl der Drinks pro Gelegenheit, maximale Zahl der Drinks pro Gelegenheit, Zahl der Trinkgelegenheiten pro Monat, Index aus Quantität, Frequenz und Variabi- lität des Trinkens (Index nach Cala- han) 23 Prozent der Mütter blieben in der Schwangerschaft enthaltsam.

*) Binge (engl.) = Trinkgelage, massives Trin- ken bei einer Gelegenheit

Abbildung 4: Typische Gesichtsveränderun- gen im Profil. Vergleiche Abb. 1: tiefstehen- de, nach hinten rotierte Ohren, etwas mal- formiert; konvexbogige Ober- und Unterkie- ferformation mit fliehendem Kinn; retrahier- tes Oberlippenrot

Bei den Kindern wurden aus- führlich alle bei Alkoholschäden häufigen und in Frage kommenden Teilleistungsstörungen des Gehirns durch ein breites Netz von Tests und Testbatterien erfaßt: Intelligenz- tests, Testung der Lesefähigkeit, Arithmetik, Erinnerung, Aufmerk- samkeit und Bestimmungen der ko- gnivitiven Fähigkeiten und motori- schen Fähigkeiten. Besonderer Wert wurde auf die Beobachtung des Ver- haltens der Kinder in der Schule ge-

legt: Kooperation, Ängstlichkeit, Ab- lenkbarkeit, Aufmerksamkeit, Aus- dauer, Frustrationsneigung, Per- sistenz in der Aufgabenbewältigung sowie im Sozialverhalten. Alle stan- dardisierten Tests sind sehr zeitauf- wendig, allein die Testung des IQ be- nötigte 23/4 Stunden.

Aus den umfangreichen Ergeb- nissen sind neben bekannten Er- kenntnissen einige Korrelationen und Zusammenhänge bemerkens- wert: Die Effekte des Alkohols auf das Verhalten und die psychologi- schen Eigentümlichkeiten sind de- nen ähnlich, die beim Vollbild der Akoholembryopathie in charakteri- stischer Weise zu finden sind, aber weniger deutlich ausgeprägt. Diese beinhalten besonders die Hyperakti- vität, Aufmerksamkeits- und Erinne- rungsstörungen, vermehrte Ablenk- barkeit und Konzentrationsschwä- chen, affektive Impulsivität, Proble- me beim logischen Denken, beson- ders in Mathematik und Lernstörun- gen. Diese Teilleistungsstörungen des Gehirns entsprechen weitgehend den bei Tierversuchen gefundenen Veränderungen (5, 6, 15, 24). In Analogie zu toxikologischen und te- ratogenen Wirkungen anderer Sub- stanzen, wie zum Beispiel Methyl- quecksilber und Blei, erweisen sich die Verhaltenssyndrome und psycho- neurologischen Auffälligkeiten als sensitive Indikatoren (23).

Differentialdiagnostisch ließen sich bisher diese Veränderungen nicht als spezifisch abgrenzen von anderen Ursachen der sogenannten minimalen zerebralen Dysfunktion, zum Beispiel nach Geburtstraumen, Hypoxie, Krampfanfällen, Meningi- tis und zerebralen Folgewirkungen bei Behandlung mit zytotoxischen Substanzen im Rahmen der Leuk- ämiebehandlung.

Ein wesentliches Ergebnis er- brachte die Berücksichtigung des ex- zessiven Trinkens in kurzer Zeit, das

„Binge"-Trinken in der Schwanger- schaft. Exzessives Trinken, welches vor Bewußtwerdung der Schwanger- schaft bei werdenden Müttern in Form des Alpha- und Epsilon-Trink- verhaltens auftritt und häufig berich- tet wird, hat offenbar deutlichere schädigende Auswirkungen auf das sich entwickelnde zentrale Nervensy- A-3422 (58) Dt. Ärztebl. 88, Heft 41, 10. Oktober 1991

(6)

Tabelle 4: Körperliche und geistige Entwicklung bei Schwachformen der Alkoholembryopathie (n = 84)

körperlich* geistig

sehr gut 8,3% 5,2%

gut 6,0% 23,3%

befriedigend 14,3% 16,9%

ausreichend 45,2% 33,8%

mangelhaft 23,8% 15,6%

ungenügend 2,4% 5,2%

100,0% 100,0%

*) Beurteilung nach anthropometrischen Entwicklungsdaten aus Ge- wicht, Länge, Kopfumfang und Knochenkernentwicklung

stem als ein nichtexzessives, mehr gleichförmiges Trinkverhalten. Alko- holgenuß in der frühen Phase der Schwangerschaft, zur Zeit der Or- ganogenese, hat erwartungsgemäß deutlichere und anhaltende Verän- derungen beim Kind zur Folge als in späteren Phasen.

Schlußfolgerungen

Die eigenen Untersuchungen, die Ergebnisse tierexperimenteller Studien und insbesondere die sehr ausführlichen Feldstudien in Seattle erlauben heutzutage erweiterte Er- kenntnisse über schädigende Aus- wirkung des Alkohols auf Embryo und Feten in der Schwangerschaft:

Alkohol ist nicht nur in ho- hen Mengen, wie sie bei abhängigen Trinkerinnen eingenommen werden, schädlich, sondern auch in Dosen, wie sie beim Gewohnheitstrinken, beim sogenannten sozialen Trinken und beim durchschnittlichen Ver- brauch verbreitet sind (das heißt schon bei einer Menge unter 50 g rei- nen Alkohols täglich). Besonders das sogenannte exzessive Trinken in kur- zer Zeit, auch wenn es nur gelegent- lich erfolgt, erscheint in den zerebra- len Auswirkungen gefahrvoller, als bisher angenommen wurde.

49

Die Dunkelziffer der Schä- den bei sogenanntem Niedrigdosis- Alkoholkonsum ist hoch, da die

Abbildung 5: Typisches Handlinienmuster bei Alkoholembryopathie, tief eingekerbte Dreifingerfurche mit Abknickung zwischen 2. und 3. Strahl; eingekerbte Daumenballen- furche

Schäden nicht bereits bei der Geburt und in den ersten Lebensjahren ma- nifest werden, sondern erst im Vor- schul- und Schulalter, wenn Lern- und Verhaltensstörungen durch dif- ferentielle Methoden erfaßt werden können oder die Kinder im Verhal- ten auffällig werden.

Die zentralnervösen Schä- den sind klinisch durchaus nicht „mi- nimale" Zeichen zerebraler Dys- funktion (MCD), sondern können sich als hyperaktive Verhaltensstö- rungen, kognitive Defizite, motori-

sche Bewegungsstörungen und sozia- le Reifungsstörungen derart manife- stieren, daß die Voraussetzungen des Erlebens, Verhaltens und Ler- nens sehr nachteilig beeinflußt wer- den. Auch wenn in der Praxis eine Differenzierung von anderen Ursa- chen der zerebralen Dysfunktion kaum möglich ist, sollte mehr als bis- her ätiologisch an Alkohol in der Schwangerschaft als Ursache einer MCD gedacht werden.

13

Ebenso wie bei Erwachsenen ist beim Embryo und Feten das Ge- hirn das am empfindlichsten reagie- rende Organ der Alkoholschädigung, sowohl funktionell als auch morpho- genetisch. Die durch Alkohol be- wirkten strukturellen Veränderun- gen des Gehirns bezüglich der Zell- differenzierung, Migration, Synap- senbildung, Größenentwicklung des Gehirns und der Integrationsleistun- gen und andere morphogenetische Fehlanlagen sind weitgehend irre- versibel, auch wenn die Hirnreifung mit der Geburt nicht abgeschlossen ist. Im Unterschied zum Erwachse- nenalter handelt es sich nicht um Se- kundärschäden nach strukturell nor- maler Entwicklung des Gehirns, son- dern um eine primäre Entwicklungs- störung, um eine alkoholbedingte em- bryotoxische Enzephalopathie.

Alkoholeffekte, als schwäch- ste Form einer Alkoholschädigung, lassen sich als einen Komplex em- bryotoxisch entstandener zerebraler Teilleistungsstörungen definieren, die ohne typische körperliche Merk- male der Alkoholembryopathie (un- ter zehn Punkte im Bewertungs- Score nach Majewski) nach Alkohol- genuß in der Schwangeschaft auftre- ten können.

43

Zur Prophylaxe früh oder spät auftretender Hirnleistungsstö- rungen muß weiterhin der Rat gege- ben werden, Alkohol in der Schwan- gerschaft auch in kleinen Mengen nach Möglichkeit zu meiden.

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Sonder- druck, anzufordern über den Verfasser.

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Hermann Löser Universitäts-Kinderklinik Albert-Schweitzer-Straße 33 W-4400 Münster

A-3424 (60) Dt. Ärztebl. 88, Heft 41, 10. Oktober 1991

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