Soziale Einflüsse auf die sozial-
emotionale Entwicklung in den ersten Lebensjahren
29. Mai 2021 Joscha Kärtner
Mit Emotionen umgehen – Eine Aufgabe für Klein und Gross Internationales Bodensee-Symposium Frühe Kindheit
(Früh-)Kindliche Entwicklung
• Die Lebenswelt des Kindes
– Gesamtheit der sozialen und nicht-sozialen Kontexte, so wie sie durch Bezugspersonen angeboten und strukturiert werden
• Wird beeinflusst durch Werte, Normen und Sozialisationsziele ØBeeinflusst Verhalten, Erleben und Lerngelegenheiten
• Entwicklung als aktive Aneignung durch Teilhabe an der sozialen und kulturellen Umwelt (Rogoff, 2003)
Die Entwicklung prosozialen Verhaltens
• Im 2. Lebensjahr beginnen Kinder
– anderen zu helfen (instrumentelles Hilfeverhalten) – andere zu trösten (emotionales Hilfeverhalten)
– mit anderen zu kooperieren – mit anderen zu teilen
• Alle Verhaltensweisen werden im Laufe des 2.
Lebensjahres zunehmend häufiger und differenzierter
Prof. Dr. Joscha Kärtner | AE Entwicklungspsychologie
Aber ist das “wirklich” prosozial?
Aktuelle Debatte am Beispiel Helfen
Aber ist das “wirklich” prosozial?
• Absichtsvolles Verhalten, dass sich an dem Bedürfnis einer anderen Person orientiert (Eisenberg et al., 2015)
ØIn diesem Sinne: „ja“!
– Ab ca. 12 Monaten zeigen Kinder Hilfeverhalten
• Aber:
– Wollen die wirklich „helfen" (Motivation)?
– Verstehen die Kinder das als „helfen“ (Kognition)?
Prof. Dr. Joscha Kärtner | AE Entwicklungspsychologie Köster & Kärtner (2019)
Motivation: Wollen 1-jährige Kinder anderen helfen?
• „Echtes" prosoziales Motiv (Warneken & Tomasello, 2007)
– Das Kind will dem anderen helfen, damit es ihm besser geht – Annahme: Kinder verstehen Bedürftigkeit der anderen Person
• Soziales Motiv (Affiliationsmotiv) (Carpendale et al., 2015; Dahl, 2015)
– Kind will dazugehören, mitmachen und mit anderen interagieren
ØÜber das Verhalten alleine kann das nicht geklärt werden!
Prof. Dr. Joscha Kärtner | AE Entwicklungspsychologie
Kognition: Verstehen 9- bis 18-monatige Kinder die Bedürftigkeit Anderer?
© Tobii pro
Eyetracker zeichnet Blick des Kindes auf
Prof. Dr. Joscha Kärtner | AE Entwicklungspsychologie mit Köster (2016)
Kognition: Verstehen 9- bis 18-monatige Kinder die Bedürftigkeit Anderer?
• Phase 1 – Gewöhnung (Wer will hier eigentlich was?)
• Phase 2 (Akteur beugt sich vor und „friert ein“)
– Wohin schauen die Kinder zuerst (antizipatorischer Blick)?
– Zum Hilfsbedürftigem!
• Phase 3 (Akteur zeigt (un-)erwartete Handlung)
– Die Erwartungsverletzung: Längerer Blick, wenn das Unerwartete passiert
ØBeides hat sich bestätigt!
13 Monate
Phase 2
Phase 3 9 Monate
Prof. Dr. Joscha Kärtner | AE Entwicklungspsychologie mit Köster (2016, 2019)
Was zeigen diese Befunde?
• Das Verständnis der Bedürftigkeit anderer zeigt
– „Echtes" prosoziales Motiv ist möglich (muss aber nicht sein!)
• Andere Studien zeigen, dass das Zugehörigkeitsmotiv das Hilfeverhalten beeinflusst
ØAktueller Stand: Es beginnt mit einem undifferenzierten Motivmix
ØIm weiteren Entwicklungsverlauf differenzieren sich daraus verschiedene Motivqualitäten
Prof. Dr. Joscha Kärtner | AE Entwicklungspsychologie (Over & Carpenter, 2009)
Soziokulturelle Einflüsse auf die Entwicklung
frühen Hilfeverhaltens
Soziokulturelle Bedingtheit frühen Hilfeverhaltens
• Hilfeverhalten wird von Beginn an begleitet, z.B. durch Aufforderung, Vormachen und Lob
– Wie hängen diese Verhaltensweisen mit dem frühen Helfen zusammen?
• Muss man oder kann man Helfen?
– Soziokulturelle Unterschiede im Ausmaß, in dem Hilfeverhalten selbstverständlich und verbindlich ist
Prof. Dr. Joscha Kärtner | AE Entwicklungspsychologie Kärtner (2018)
• 38 Elter-Kind Dyaden kommen im 3-Monats-Abstand 5 Mal an die Uni und nehmen an einem „Helfen-Parcours“ teil
Soziale Einflüsse (in beide Richtungen)
Prof. Dr. Joscha Kärtner | AE Entwicklungspsychologie
0,10 0,20,3 0,40,5 0,60,7
12 15 18 21 24
Alter in Monaten
Anteil der Zeit auffordern
vormachen loben
Kind hilft
• Auffordern und Loben hängt
zeitgleich positiv mit dem Helfen zusammen
• Wer mit 12M weniger hilft, kriegt mehr vorgemacht
• Entwicklungsförderlich
– Vormachen mit 12 Monaten – Loben mit 15 Monaten
Kärtner u.a. (2020)
Helfen im Kulturvergleich
Muss man oder kann man helfen?
• Anderen zu Helfen ist in vielen Kulturen ein wichtiges (Erziehungs-)Ziel
• Aber: Muss man oder kann man helfen?
– Helfen als Selbstverständlichkeit oder als (wünschenswerte!) persönliche Entscheidung?
ØIn autonomen Kulturen ist es eher letzteres
• Wie fordern Bezugspersonen ihre Kinder zu etwas auf?
– Muss man oder kann man helfen?
Helfen im Kulturvergleich
Muss man oder kann man helfen?
• Je stärker der kulturtypische Stil gezeigt wurde, desto eher halfen die Kinder in einer anderen Situation (ohne Aufforderung)!
ØErste Hinweise, dass schon früh kulturspezifische Motive wirksam werden
Mit Bestimmtheit auffordern Einsichtsorientiertes Auffordern Münster
Ländliches Brasilien
Prof. Dr. Joscha Kärtner | AE Entwicklungspsychologie mit Köster (2016)
Fazit: Soziokulturelle Einflüsse auf das prosoziale Verhalten
• Kinder zeigen im 2. Lebensjahr prosoziales Verhalten
• Zunächst Verhalten auf Grundlage eines wenig differenzierten Motivmix (Anschluss, Zugehörigkeit, Fürsorge)
• Im weiteren Entwicklungsverlauf differenzieren sich daraus verschiedene Motivqualitäten
• Es gibt soziale und kulturelle Einflüsse auf diese Entwicklung
ØBezugspersonen gehen unterschiedlich mit dem Verhalten ihrer Kinder um
ØDas hat Einfluss darauf, warum und wie oft Kinder helfen!
Die Entwicklung sozial-emotionaler Kompetenz
Sozial-emotionale Kompetenz
• „Persönliche Ziele in sozialen Interaktionen erreichen, während gleichzeitig positive Beziehungen zu anderen aufrechterhalten, sowie soziale Normen und Regeln eingehalten werden“ (Rose-
Krasnor, 1997)
• Zentrale Rolle der reflexiven Emotionsregulation
– Hemmung oder Modifikation einer emotional ausgelösten Handlungsbereitschaft (Campos u.a., 2004; Holodynski u.a., 2013)
Prof. Dr. Joscha Kärtner |
Zentrale Rolle der Bezugspersonen
• Die meisten Aktivitäten und Erfahrungen von Kindern werden durch Bezugspersonen begleitet
• Die Bezugspersonen strukturieren das Verhalten und Erleben der Kinder
– Vieles wird zunächst im Miteinander erlebt und dann zunehmend verinnerlicht
ØDie Ko-Regulation durch Bezugspersonen ist zentral für die Entwicklung des kindlichen Verhaltens und Erlebens
ØIn der Familie UND in der KiTa
Prof. Dr. Joscha Kärtner | AE Entwicklungspsychologie
Material für Fortbildungen von pädagogischen Fachkräften im Rahmen eines unserer DFG-Projekte
Der Emotionsprozess
WUT
Nachtisch geben?!
Kein Nachtisch!
Anlass Er verweigert Bewertung
mir den Nachtisch!
Körper- reaktion EmpfindungKÖRPER-
REAKTION:
Muskeltonus-
erhöhung Ausdruck
als Appell Handlungs-
impuls
Eigene Handlung
Handlung anderer
Sich den Nachtisch selbst holen,
Schlagen
Gefühl
Der Emotionsprozess
Material für Fortbildungen von pädagogischen Fachkräften im Rahmen eines unserer DFG-Projekte
Regulationsbedarfe
Emotion
Anlass Bewertung
Ausdruck als Appell Körper-
reaktion Empfindung
Eigene Handlung Handlungs-
impuls
Handlung Anderer
Gefühl
Material für Fortbildungen von pädagogischen Fachkräften im Rahmen eines unserer DFG-Projekte
Reflexive Emotionsregulation: willentliche Beeinflussung eigener Emotionen
• Ziel der reflexiven Emotionsregulation
– Emotion abschwächen bzw. ganz neutralisieren – Emotion andauern lassen bzw. verstärken
– Emotion in angemessenere Emotion transformieren – Angemessene Emotion erzeugen
ØSo dass die Befriedigung der eigenen Motive insgesamt gesichert werden kann
• Erforderliche Kompetenzen: was entwickelt sich?
Prof. Dr. Joscha Kärtner | AE Entwicklungspsychologie
Erforderliche Kompetenzen:
Was entwickelt sich?
Material für Fortbildungen von pädagogischen Fachkräften im Rahmen eines unserer DFG-Projekte
Emotion
Anlass Bewertung
Ausdruck als Appell Körper-
reaktion Empfindung
Bewältigungs- handlung Handlungs-
impuls
Gefühl
Ablenkung Neu-
bewertung Beruhigung Verhaltens-
änderung Regulations-
strategien Emotionale Bewusstheit
Was entwickelt sich?
Emotionsregulationswissen
• Michaela ist ärgerlich, weil ihr Bild zerstört wurde: Hilft es…
• (In-)Effektive aktionale Strategien
– Wenn sie mit einer Freundin spielen geht?
– Wenn Sie das bekritzelte Bild nimmt und immer wieder anschaut?
• (In-)Effektive mentale Strategien
– wenn sie sich vorstellt: gleich fahre ich mit meinem neuen Fahrrad?
– Wenn sie denkt: jetzt habe ich so lange daran gemalt und jetzt ist es kaputt?
0 0,2 0,4 0,6 0,8 1
aktional mental
Mittlere Punktzahl pro Vignette
Alter ≤ 5 J.bis 5 > 5 J.über 5
mit Luisa Lüken und Judith Silkenbeumer
Was entwickelt sich?
Emotionsregulation (Inhibition)
• Kind wird aus dem Spiel gerissen und soll aufräumen, nicht spielen
200 4060 10080
≤ 5 J. > 5 J.
Dauer (in %)
Alter
Kind räumt auf
• Sowohl Emotionsregulationswissen als auch die Fähigkeit zum Inhibition
verbessert sich mit dem Alter
• Beides hängt nicht direkt miteinander zusammen (noch Kontrolle des Alters)
bis 5 über 5
mit Luisa Lüken und Judith Silkenbeumer
Soziale Einflüsse auf die Entwicklung der reflexiven Emotionsregulation
Emotionale Bewusstheit und der Erwerb effektiver Regulationsstrategien
Die Rolle des sozialen Umfelds:
Emotion Coaching
• Emotionale Bewusstheit
– Sich seiner Emotionen bewusst werden – Vogelperspektive: ich bin wütend!
ØErst dann kann man die Emotion in den Griff bekommen
• Emotion Coaching: Emotionale Diskurse und wertschätzender und akzeptierender Umgang mit Emotionen: alle Emotionen sind
erlaubt! (Gottman u.a., 1997)
– Emotionen spiegeln – Emotionen benennen – Emotionen explorieren
Prof. Dr. Joscha Kärtner |
Maria von Salisch:
Emotion Talk
Die Rolle des sozialen Umfelds:
Von der Ko- zur Selbst-Regulation
• Aufbau eines Repertoires an Emotionsregulationsstrategien
– Es werden zunehmend mehr Anteile der Selbstregulation vom Kind eingefordert (Grolnick u.a., 1998)
– Übergang von stellvertretenden Formen der Koregulation zu
instruktiven und reflexiven Formen der Ko-Regulation (Spinrad, 2004)
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Ein Phasenmodell der Emotionsregulation
mit Judith Silkenbeumer, Eva-Maria Schiller & Manfred Holodynski (2019)
Ablenkung Neu-
bewertung Beruhigung Verhaltens-
änderung LEVEL 3: Erinnerung
“Ich erinnere das Kind”
LEVEL 2: Konkreter Vorschlag
“Ich weise das Kind an”
LEVEL 1: Stellvertretende Emotionsregulation
“Ich übernehme für das Kind”
Auslösendes
Ereignis Bewertung
Ausdruck &
Appell Körperreaktion
Empfindung
Bewältigungs- handlung Handlungs-
impuls
Koregulation Selbstregulation
WUT
Nachtisch geben?!
Kein
Nachtisch! Sich den
Nachtisch selbst holen,
Schlagen Er verweigert
mir den
Nachtisch! KÖRPER-
REAKTION:
Muskeltonus- erhöhurng
Was tut der Vater tatsächlich?
Material für Fortbildungen von pädagogischen Fachkräften im Rahmen eines unserer DFG-Projekte
Emotion und Emotions-Ko-regulation
Flugzeug spielen
macht Spaß!
ABLENKUNG
WUT
Kein Nachtisch!
Er verweigert mir den
Nachtisch! KÖRPER-
REAKTION
KÖRPER- REAKTION
Koregulation:
Was tut der Vater tatsächlich?
Umgang mit Emotionen in der KiTa
• Fokus auf Episoden, die für die Kinder (4-6 Jahre) emotional belastend sind (z.B. Wut, Trauer)
• Emotion Talk (Emotionen spiegeln & benennen)
– Mehr bei jüngeren Kindern
– Insgesamt recht selten (13% aller Episoden)
• Ko-Regulation (46% aller Episoden)
– Häufiger bei jüngeren Kindern und intensiveren Emotionen – FK setzen bei kompetenteren Kindern mehr voraus
– Ko-Regulation hilft: führt in der Episode zu mehr selbst-reguliertem Verhalten
Prof. Dr. Joscha Kärtner | AE Entwicklungspsychologie mit Judith Silkenbeumer (2018)
Fazit: Soziokulturelle Einflüsse auf die sozial-emotionale Entwicklung
• Bezugspersonen (Eltern und Fachkräfte) spielen eine wichtige Rolle bei der Entwicklung sozial-emotionaler Kompetenz
– Entwicklung prosozialen Verhaltens
– Entwicklung willentlicher Emotionsregulation
• Bezugspersonen passen ihr Verhalten dem Entwicklungsstand des Kindes an
• Entwicklungsförderlicher Umgang mit Emotionen
– Training und Beratung für pädagogische Fachkräfte – App für Eltern (“Kleine Kinder, große Gefühle (kKgG)“
ØSymposium „Förderung emotionaler Kompetenz“ im Anschluss!
Prof. Dr. Joscha Kärtner | AE Entwicklungspsychologie
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
www.beo.wwu.de www.celeb.wwu.de