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Archiv "Nicotin" (01.10.1981)

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Das Zigarettenrauchen fügt der Volksgesundheit weitaus mehr Scha- den zu als alle illegalen abhängigmachenden Substanzen zusammen.

Nicotin ist zwar nur einer von vielen Schadstoffen im Tabakrauch, aber es ist für die hämodynamischen und die Stoffwechselwirkungen des Rauchens verantwortlich und wahrscheinlich auch dafür, daß es so schwer ist, das Rauchen aufzugeben. Wenn Nicotin das abhän- gigmachende Agens im Tabakrauch ist, warum wird es dann nicht in reiner Form mißbraucht wie zum Beispiel Morphin oder Cocain? Einer der Gründe hierfür liegt in der Pharmakokinetik des Nicotins: Bei einem Tageskonsum von 20 Zigaretten wird das Gehirn täglich 200- bis 300mal mit Nicotin überflutet wie nach ebenso vielen intravenösen Injektionen. Dadurch kommen sowohl die aktivierenden als auch die emotional dämpfenden Nicotinwirkungen besonders zur Geltung. Der vorliegende Artikel gibt einen Überblick über die besonderen Eigen- schaften des Alkaloids Nicotin, seine vielfältigen peripheren und zen- tralen Wirkungen und seine abhängigmachenden Eigenschaften.

Der für das abhängigmachende Po- tential des Zigarettenrauchens ent- scheidende Bestandteil des Tabak- rauchs ist mit großer Wahrschein- lichkeit das Nicotin (49). Deshalb soll hier nicht auf die Tabakrauchbe- standteile (76) eingegangen werden, die zum Krebs, zu kardiovaskulären Krankheiten, zu chronisch-obstruk- tiven Atemwegserkrankungen oder anderen tabakrauchbedingten ge- sundheitlichen Schäden') führen, sondern auf das Nicotin selbst, das als das eigentliche abhängigma- chende Agens indirekt für alle tabak- rauchbedingten Schäden verant- wortlich ist.

Nicotin im Tabak

Nicotin

Pharmakologie eines abhängigmachenden Stoffes

Klaus Opitz und Michael Horstmann

Aus dem Institut für Pharmakologie und Toxikologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster

Der Genuß von Tabak, besonders in der Form von Zigarettenrauchen, führt weiterhin auf der ganzen Welt zum vorzeitigen Tod von Menschen und war häufiger Ursache für Krebs- tod als jeder andere kausale Faktor (98) 1 ). In den 17 Jahren seit der Ver- öffentlichung des ersten Reports des Surgeon General der USA über Rauchen und Gesundheit, der da- mals eine weltweite Reaktion ausge- löst hat, ist es zwar gelungen, die Öffentlichkeit über die Gefahren des Rauchens aufzuklären, aber der Ta- bakkonsum ist nicht wesentlich zu- rückgegangen, und noch immer raucht eine alarmierende Zahl meist junger Menschen.

Sicher ist es wichtig, die Pathogene- se der tabakrauchbedingten Krank- heiten und ihre Verursachung durch

bestimmte Tabakrauchkomponen- ten genau kennenzulernen — inzwi- schen liegen mehr als 30 000 wis- senschaftliche Veröffentlichungen zu diesem Thema vor (59) —, aber noch wichtiger ist die Prävention.

Die Entwicklung von weniger schäd- lichen Zigaretten, das heißt von sol- chen mit einem verminderten Gehalt an dem einen oder anderen Schad- stoff (73), löst das Problem nicht. Die tabakrauchbedingten Krankheiten können nur dadurch verhütet wer- den, daß nicht mehr geraucht wird.

Wenn aber so viele Menschen in dem Bewußsein, daß Rauchen ihrer Gesundheit schadet und ihr Leben gefährdet, vergeblich versuchen, da- mit aufzuhören, und weiterrauchen, dann äußert sich hierin eine sehr starke Abhängigkeit.

Nicotin ist eins von vielen in den Tabakpflanzen Nicotiana tabacum und Nicotiana rustica vorkommen- den Alkaloiden (34), hat aber mit et-

1) Die in Klammern stehenden Ziffern bezie- hen sich auf das Literaturverzeichnis des Sonderdrucks.

2) Wer sich über die durch Tabakgenuß ver- ursachten gesundheitlichen Schäden in- formieren möchte, sei auf folgende Quel- len verwiesen: WHO Technical Report 568

„Smoking and its Effects an Health", Ge- neva, 1975 — „Rauchen oder Gesundheit"

(Dritter Bericht der Königlichen Ärztekom- mission London), Hyperion-Verlag, Frei- burg i. Br., 1978 — „Smoking and Health, a Report of the Surgeon General", Washing- ton, D. C., The Superintendent of Docu- ments, 1979 — Dokumentation „Gefähr- dung durch Alkohol, Rauchen, Drogen, Arzneimittel", herausgegeben vom Bun- desminister für Jugend, Familie und Ge- sundheit und vom Minister für Arbeit, Ge- sundheit und Soziales des Landes Nord- rhein-Westfalen

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 40 vom 1. Oktober 1981 1869

(2)

(-)-Nicotin 3-(1-Methy1-2-pyrrolidiny1)-pyridin Eigenschaften

Molekulargewicht Schmelzpunkt Siedepunkt

(wasserdampfflüchtig) Dichte

Basenkonstanten

162,23 (55)

— 79° C (64) 247° C (55)

= 1,0097 (55) pK 1 = 10,96 pK 2 = 6,16 (55)

Verteilungskoeffizient 0,39 (60)

(Olivenöl / Ringerlösung pH 7,55) Maximale Arbeitsplatzkonzentration

0,07 ml/m 3 0,5 mg/m 3 H*) (25)

*) Hautresorption

Darstellung 1: Wichtige Kennzahlen, die zum Teil von Bedeutung für die physiologi- schen Wirkungen des Nicotins sind

wa 90 Prozent den größten Anteil an der Alkaloidfraktion. Von den (weni- ger wirksamen) Nebenalkaloiden sind das Nornicotin, das Anabasin und das Nicotyrin zu nennen (18).

N'-Nitroso-nornicotin ist einer der krebserzeugenden Bestandteile des Tabaks (38). Dieses Kanzerogen ist bereits im grünen, im ungerauchten und im Schnupftabak (33) enthalten.

Der Nicotingehalt von Rauchtabaks- orten beträgt im allgemeinen ein bis fünf Gewichtsprozent; für die Her- stellung von Insektiziden sind Ta- baksorten mit zehn Prozent Nicotin gezüchtet worden.

Kein anderes Alkaloid wird in so gro- ßen Mengen erzeugt wie Nicotin. Al- lein die in der Bundesrepublik Deutschland jährlich hergestellten Zigaretten — 1979 waren es 156 273 Millionen Stück (85) — enthalten et- wa 1000 Tonnen dieses Giftes. Die für den Menschen tödliche Dosis be- trägt 40 bis 60 Milligramm (15).

Nicotin ist eine in reinem Zustand farblose, flüssige Base, die in neu- tral gepufferter wäßriger Lösung größtenteils als einfach positiv gela- denes Kation vorliegt (89). Das Rein- alkaloid löst sich sowohl in Wasser als auch in lipophilen Lösungsmit-

teln vollständig und färbt sich an der Luft allmählich braun (92). Das na- türlich vorkommende Nicotin ist op- tisch aktiv (linksdrehend). Es wurde 1828 von den damaligen Heidelber- ger Studenten Posselt und Reimann zuerst in reiner Form isoliert (48).

Die Erzeugung und Verarbeitung von Tabak für Genußzwecke und für die Herstellung von Schädlingsbe- kämpfungsmitteln — Nicotin ist eins der ältesten Insektizide — machen das Alkaloid (auch) zu einem wichti- gen gewerblichen Gift (30, 47).

Pharmakokinetik

Nach der Inhalation eines Zigaret- tenrauchzuges mit etwa 100 Mikro- gramm Nicotin steigt der Nicotinge- halt im arteriellen Blutplasma jedes- mal vorübergehend steil an, denn das inhalierte Nicotin wird ebenso- schnell resorbiert wie ein Narkose- gas; die Retentionsrate beträgt bis zu 90 Prozent der eingeatmeten Menge (5). Da die Resorption noch schneller vonstatten geht als die nachfolgende Umverteilung in die Gewebe, erzeugt das inhalierende Zigarettenrauchen zackenförmige Nicotinschübe im arteriellen Blut (8).

Die Gesamtmenge des aus einer Zi- garette aufgenommenen Nicotins ist nicht nur vom Nicotingehalt des Ta- baks, sondern auch von vielen ande- ren Faktoren abhängig (51) und be- trägt 0,05 bis 2,5, durchschnittlich 1,1 Milligramm 3).

Im venösen Blutplasma steigt die Nicotinkonzentration während des Rauchens einer Zigarette kontinu- ierlich bis auf etwa 30 (maximal 50) ng/ml an (69, 70). Auch eine Prise Schnupftabak läßt die Nicotinkon- zentration im Blut rasch ansteigen und kann zu Maxima von 40 ng/ml führen (57, 71). Der darauf folgende Konzentrationsabfall verläuft bipha- sisch, zunächst rasch, dann langsa- mer werdend. Während der ersten Phase (Phase der Umverteilung) be- trägt die Halbwertzeit zwei bis vier Minuten. Die endgültige Elimination erfolgt dann mit einer Halbwertzeit von 86 bis 110 Minuten (66). Die schnellen Schwankungen des Nico- tinspiegels im arteriellen Blut sind demnach Folgen der raschen Um- verteilung.

Wird der Tabakrauch nicht oder nur teilweise inhaliert, und das ist der Fall beim Zigarren- und Pfeifenrau- chen, dann steigt die Nicotinkonzen- tration im Blut langsamer an, kann aber durchaus die gleiche Höhe er- reichen wie beim inhalierenden Zi- garettenraucher (6).

Wegen des unterschiedlichen An- teils an freiem Alkaloid, charakteri- siert durch die Basenkonstanten (Tabelle), ist die Resorption über die Mundschleimhaut pH-abhängig:

Aus dem alkalischen Zigarrenrauch (pH 8,5) wird mehr Nicotin aufge- nommen als aus dem sauer (pH 5,3) reagierenden Zigarettenrauch (4, 6).

Nicotin wird natürlich auch vom Darmtrakt und sogar durch die un- verletzte Haut hindurch resorbiert (25). (Vergiftungen nach Gebrauch von Tabakinfus gegen Hautparasi-

3) Die für einzelne Zigarettensorten öffent- lich gemachten Angaben über „Milli- gramm Nikotin im Rauch" beziehen sich auf standardisierte Bedingungen (Rauch- maschine) und können beim individuellen Rauchen erheblich überschritten werden (41).

1870 Heft 40 vom 1. Oktober 1981 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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NJ

• N' 0 CH 3 Nicotin-1'-N-oxid N'-Nitroso-

nornicotin

N N

0

Tabakalkaloide Primärmetaboliten

`N'r H

Anabasin

• N

• le CH3 Cotinin

CH3 Nicotyrin

Nornicotin

I NJ

• N 7 l CH3 Nicotin

Hi Nornicotin

Darstellung 2: Konstitutionsformeln des Nicotins (Mitte), einiger weiterer im Tabak enthaltener Alkaloide (links), sowie der drei wesentlichen Metaboliten, die im mensch- lichen Körper durch Oxidation beziehungsweise durch N-Demethylierung aus Nicotin entstehen (rechts)

ten und bei Schmugglern, die Ta- bakblätter auf dem Leib verborgen trugen (29).)

Nicotin tritt sehr rasch in das Zen- tralnervensystem ein und wird be- sonders von Hirnrinde, Medulla oblongata, Thalamus, Hypothala- mus und Retina aufgenommen (77).

Innerhalb weniger Minuten erreicht das Nicotin im Liquor die gleiche Konzentration wie im Blutplasma (keine nennenswerte Bindung an Plasmaproteine) (14, 60). Die Plazen- tarschranke bietet ebenfalls keinen Schutz gegen Nicotin (90, 93), das bekanntlich auch in die Milch rau- chender Mütter übertritt (27).

Die Elimination des Nicotins erfolgt hauptsächlich durch Metabolismus;

nur ein kleiner Teil der aufgenom- menen Mengen, normalerweise et- wa 10 Prozent — mehr bei saurer Harnreaktion (28) — wird unverän- dert ausgeschieden. Von den zahl- reichen Metaboliten des Nicotins hat das Cotinin die größte Bedeutung (34, 53). Nicotin tritt aus dem Blut in den Magensaft über (2) und wird im Darm teilweise wieder resorbiert.

Der biliär ausgeschiedene Metabolit Nicotin-1'-N-oxid wird durch Darm- bakterien reduziert, das dabei ent- stehende Nicotin wird ebenfalls wie- der aufgenommen: enterohepati- scher Kreislauf (42, 70).

Daß Nicotin bei wiederholter Zufuhr seinen eigenen Abbau beschleunigt, ist nicht festgestellt worden (68, 84).

Die „Enzyminduktion durch Nico- tin" ist in den meisten Fällen eine Enzyminduktion durch Tabakrauch gewesen, und es ist in der Tat wahr- scheinlich, daß im Rauch enthaltene polyzyklische Kohlenwasserstoffe (auch) den enzymatischen Abbau von Nicotin beschleunigen (10, 99).

Nicotinwirkungen

Die Wirkung von Nicotin auf die ve- getativen Ganglien ist seit den klas- sischen Experimenten von Langley (1889) bekannt (50). Nicotin depola- risiert wie Acetylcholin die postsyn- aptische Membran in den sympa- thischen und parasympathischen

Ganglien. Dies führt zu einer gan- glionären Erregung. Chromaffine Zellen im Nebennierenmark und an- derswo im Körper werden ebenfalls durch Nicotin stimuliert. Die Folge ist eine Freisetzung von Acetylcho- lin, Noradrenalin und Adrenalin (80).

Bei längerer Einwirkung von Nicotin auf die genannten Strukturen kommt es zu einer anhaltenden De- polarisation und damit zu einer Blockade der ganglionären Erre- gungsübertragung (die Blockade kann die Depolarisation über- dauern). Nicotin stimuliert die Hypo- physen-Nebennierenrinden-Achse und bewirkt eine Freisetzung von 11-Hydroxycorticosteroiden (17, 82, 83).

Die Nicotinwirkungen auf Herz und Kreislauf sind komplex und nicht nur von der Dosis, sondern auch von der jeweiligen sympathischen und parasympathischen Aktivität zur Zeit der Einwirkung abhängig. Herzfre- quenz und Kontraktionskraft kön- nen vermindert sein durch eine Erre- gung der Vagusganglien oder ge- steigert durch sympathische Stimu-

lation. Die Weite der Blutgefäße wird fast ausschließlich vom sympathi- schen Nervensystem kontrolliert und Nicotin verursacht fast immer einen Blutdruckanstieg durch gan- glionäre Stimulation der vasomoto- rischen Nerven (67, 88) sowie durch Freisetzung von Brenzkatechinami- nen im Nebennierenmark (95, 96).

Der nicotinbedingte Blutdruckan- stieg kann durch den peripher wir- kenden Ganglienblocker Hexame- thonium verhindert werden. Die aku- ten hämodynamischen und Stoff- wechseleffekte des Zigarettenrau- chens sind Nicotinwirkungen (82, 83).

Im Gegensatz zu den kardiovaskulä- ren Wirkungen des Nicotins sind sei- ne Effekte auf den Gastrointestinal- trakt hauptsächlich Folgen einer pa- rasympathischen Stimulation. Peri- staltik und Tonus des Dünndarms werden gewöhnlich gesteigert, und es kann zur Diarrhöe kommen. Nico- tin steigert die Magensäuresekretion (56, 61). Die Speichelsekretion und die Bronchialsekretion sind anfangs gesteigert, später gehemmt. Die Hy- DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 40 vom 1. Oktober 1981 1871

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persalivation bei Tabakgenuß ist wahrscheinlich keine systemische Nicotinwirkung, sondern kommt re- flektorisch zustande (91). Intrader- mal injiziert, bewirkt Nicotin Schweißsekretion, „Gänsehaut"

und Vasokonstriktion (23). Nicotin stimuliert verschiedene sensorische Rezeptoren (Mechano-, Thermo- und Chemorezeptoren) (91).

Nicotin depolarisiert auch die adren- ergen Nervenendigungen und ver- anlaßt sie zur Freisetzung von Nor- adrenalin (24, 45). Dementspre- chend wirkt Nicotin unter Umstän- den auch bei adrenalektomierten Tieren noch lipolytisch (12). Die Tat- sache, daß Raucher im allgemeinen einen höheren Grundumsatz und ein geringeres Körpergewicht haben, und daß sie ohne zusätzliche Ener- gieaufnahme deutlich an Gewicht zunehmen, wenn sie das Rauchen aufgeben (13, 21, 32, 44, 97), wird auf die dauernde Stimulation des synnpatho-adrenalen Systems durch Nicotin (46) und seine glykogenolyti- sche und lipolytische Wirkung (62, 82, 83) zurückgeführt (36). Im Tier- versuch wirkt Nicotin temperatur- senkend (40, 52), anorexigen (20, 40) und antinocizeptiv (40, 74).

Nicotin stimuliert das hypothala- misch-neurohypophysäre System und bewirkt die Freisetzung von an- tidiuretischem Hormon (ADH, Vaso- pressin) (22). Hierzu genügt bereits die Nicotinmenge, die beim Rau- chen einer einzigen Zigarette aufge- nommen wird (16). Diese Nicotinwir- kung kann diagnostisch genutzt werden (Nicotintest). Das durch Ni- cotin freigesetzte Vasopressin wirkt nicht nur antidiuretisch, sondern be- einflußt auch die höhere Nerventä- tigkeit, insbesondere Gedächtnis- funktionen (94). Welche Bedeutung der Vasopressinausschüttung für die zentralen und psychotropen Ni- cotineffekte zukommt, ist unbe- kannt.

Nicotin hemmt spinale Reflexe (81).

Darauf beruht wohl auch die Hem- mung des Patellarsehnenreflexes durch Zigarettenrauchen, die um so ausgeprägter sein soll, je stärker dieser Reflex von psychischen

Spannungen beeinflußt wird (Para- digma der „entspannenden" Wir- kung des Rauchens?) (14).

Große Nicotindosen wirken zentral- erregend und erzeugen Tremor und Krämpfe. Die vegetativen Zentren in Hirnstamm und Medulla oblongata werden erst erregt, dann gelähmt (81). Die atemstimulierende Wirkung ist ein besonders prominenter Nico- tineffekt, der teils reflektorisch über eine Stimulation der Chemorezepto- ren im Glomus caroticum (37), teils durch direkte Beeinflussung des Atemzentrums zustande kommt. To- xische Nicotindosen wirken über ei- ne Reizung der sogenannten che- mosensitiven Triggerzone in der Area postrema emetisch und erre- gen Vaguszentren, was zu Bradykar- die und Herzstillstand führen kann.

Auch die Nicotinwirkungen auf die neuromuskuläre Erregungsübertra- gung und die Skelettmuskulatur (nach kurzer Kontraktion anhalten- de Lähmung) sind erst nach toxi- schen Dosen ausgeprägt. Der Tod erfolgt durch Lähmung der Atem- muskeln und des Atemzentrums (pe- riphere und zentrale Atemlähmung).

Nicotin beeinflußt fast alle Abschnit- te des Auges, besonders aber die Netzhaut. Chronischer Genuß von Tabaksorten mit hohem Nicotinge- halt vermindert die Sehschärfe er- heblich und kann zu Einschränkun- gen des Gesichtsfeldes und, in selte- nen Fällen, zur sogenannten Tabak- Amblyopie führen. Im Tierversuch bewirkt Nicotin Miosis,Verengerung der Netzhautgefäße und typische Veränderungen im Elektroretino- gramm (58). Die gleichen ERG-Ver- änderungen (Abnahme der b-Wel- lenamplitude) treten beim Men- schen bereits 30 Sekunden nach Be- ginn des Rauchens einer Zigarette auf (39). Die augendrucksteigernde Wirkung des Nicotins ist nur für Glaukomkranke relevant, der nor- male Augeninnendruck wird durch Tabakrauchen wenig beeinflußt (79).

Die angenehmen Wirkungen des Ta- bakgenusses werden durch zentrale Nicotinrezeptoren vermittelt. Der zentral wirksame Ganglienblocker

Mecamylamin schwächt diese hedo- nischen Effekte ab und verursacht eine kompensatorische Zunahme des Zigarettenkonsums (86).

Die zentralen Nicotinrezeptoren sind stereospezifisch (65). Im Tierversuch ist das natürlich im Tabak vorkom- mende (—)-Nicotin wesentlich wirk- samer als (+)-Nicotin. Das gilt so- wohl für zentrale (54) als auch für periphere Wirkungen und für die To- xizität der Enantiomeren: LD 50

(Maus) 0,38 versus 2,75 mg/kg intra- venös (1).

Toleranz

Eine Erfahrungstatsache ist, daß sich der Mensch an manche Wirkun- gen des Tabakrauchens gewöhnt, besonders an die vegetativen Be- gleiterscheinungen der ersten Rauchversuche. Unter Gewöhnung (Toleranz) versteht man einen gra- duellen Wirkungsverlust bei wieder- holter oder ständiger Zufuhr einer Substanz oder die Notwendigkeit, die Dosis zu steigern, damit die Wir- kung erhalten bleibt. Viele, aber nicht alle abhängigmachenden Sub- stanzen führen zur Gewöhnung.

Der Wirkungsverlust kann die Folge einer beschleunigten Inaktivierung des zur Gewöhnung führenden Wirkstoffs sein oder eine Anpas- sungsleistung des Organismus mit verminderter Empfindlichkeit der Er- folgsorganzellen.

Der gewohnheitsmäßige Tabakge- nuß läßt nicht nur die unangeneh- men Begleiteffekte des Erstge- brauchs verschwinden, Gewohn- heitsraucher sind auch weniger empfindlich gegenüber den toxi- schen Wirkungen einer intravenö- sen Nicotin-Infusion: Nausea, Schwindel, Erbrechen, Schweißaus- bruch, Piloerektion, Tachykardie und Palpitationen (14, 43, 67). Auch gegenüber spezifischen Nicotinwir- kungen reagieren Nichtraucher empfindlicher als Raucher. Das gilt zum Beispiel für die Vasopressinfrei- setzung durch Nicotin und für die charakteristischen Veränderungen im Elektroretinogramm (39).

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 1872 Heft 40 vom 1. Oktober 1981

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Die Nicotin-Toleranz der Gewohn- heitsraucher ist mit einem beschleu- nigten Abbau des Nicotins durch En- zyminduktion erklärt worden (10).

Wahrscheinlicher ist, daß es sich hier um eine Anpassung des Orga- nismus an eine immer wieder einwir- kende Noxe handelt, also um zellulä- re Toleranz. Seit langem ist nämlich bekannt, daß die Wirkungen des rei- nen Nicotins der Gewöhnung unter- liegen (9, 11, 20, 26, 87). Da Nicotin seinen eigenen Abbau nicht be- schleunigt (68, 84) — die Enzymin- duktion durch Tabakrauch ist auf andere Rauchbestandteile zurück- zuführen (10, 99) —, kann es sich hier nur um eine echte zelluläre Toleranz (true tolerance) handeln. Zu diesem Schluß führten auch Versuche an Mäusen (52). Bei erstmaliger Verab- reichung bewirkte Nicotin eine deut- liche Senkung der Körpertempera- tur, ohne den zerebralen Noradrena- lin- und Dopamingehalt zu beein- flussen. Nach Vorbehandlung mit wiederholten Nicotin-Injektionen war dieser Effekt nicht mehr auslös- bar, obwohl die Nicotinkonzentra- tion im Gehirn kaum anders war.

Ähnliche Ergebnisse hatten eigene Versuche an Ratten mit kontinuierli- cher Nicotinzufuhr: die temperatur- senkende und die antinocizeptive Nicotinwirkung schwanden unter der ständigen Einwirkung von Nico- tin innerhalb von 10 Tagen durch Gewöhnung bei unveränderten Ni- cotinkonzentrationen im Blut (40).

Nicotin und Rauchen

Nicht von allen wird akzeptiert, daß Tabakrauchen nichts anderes sein soll als ein Verfahren zur Selbstap- plikation von Nicotin, und es ist auch nicht leicht, die Wirkungen des Tabakgenusses auf das Befinden mit den klassischen pharmakologi- schen Effekten des Nicotins zu er- klären. Andere Deutungsversuche betonen die Befriedigung emotiona- ler Bedürfnisse durch die mit dem Rauchen verbundene orale Stimula- tion und die Bedeutung des Rauch- Rituals für das menschliche Verhal- ten. Andererseits werden Zigaretten mit sehr niedrigem Nicotingehalt oder nicotinfreie Zigaretten von den

meisten Rauchern abgelehnt und die Abstinenzerscheinungen, die bei Gewohnheitsrauchern nach Tabak- entzug auftreten, können bis zu ei- nem gewissen Grad mit Nicotin un- terdrückt werden (41, 72).

Abhängige Raucher neigen dazu, ei- ne bestimmte Nicotinkonzentration im Blut (je nach Person zwischen 10 und 50 ng/ml) ständig aufrechtzuer- halten, indem sie ihre Rauchge- wohnheiten dem Nicotingehalt der angebotenen Zigaretten anpassen (self-titration) (41). Intravenöse Nico- tin-Infusionen, mit denen ähnliche Nicotin-Blutspiegel erzeugt werden wie durch Rauchen, werden von Ge- wohnheitsrauchern als angenehm und entspannend empfunden (41, 43, 67). Andererseits ist es bisher nicht gelungen, Raucher dauerhaft auf eine andere Applikationsform, zum Beispiel die orale oder die intra- venöse Zufuhr von reinem Nicotin, umzustellen (63). Die Nicotinzufuhr über die Lunge ist offenbar von ent- scheidender Bedeutung für das ab- hängigmachende Potential des Zi- garettenrauchens (3, 70). Das inha- lierte Nicotin erreicht das Gehirn in sehr kurzer Zeit (7 bis 8 Sekunden).

Nach jedem Zug aus einer Zigarette wird das Zentralnervensystem mit Nicotin überflutet fast wie nach ei- ner intravenösen Bolus-lnjektion.

Daß Nicotin der für die abhängigma- chenden Eigenschaften des Tabaks hau ptverantwortliche Inhaltsstoff ist, geht auch aus Experimenten her- vor, bei denen Affen (78, 100) oder Ratten (19) sich dieses Alkaloid selbst zuführen, offenbar um seine Wirkung zu genießen. Allerdings wird Nicotin nicht so oft selbstappli- ziert wie zum Beispiel Cocain oder Amphetamin; es ist ein schwächerer

„Reinforcer" (Stoff mit belohnenden Eigenschaften).

Welche der zentralen Nicotinwirkun- gen so angenehm empfunden wird, daß sie zur Abhängigkeit führen kann, ist ungewiß. Diskutiert werden die im EEG erkennbare Aktivierung, die muskelentspannende Wirkung, die Förderung von Gedächtnis und Aufmerksamkeit und die Dämpfung von Hungergefühl und Reizbarkeit

(41). Bei manchen Menschen wirkt Rauchen ausgesprochen beruhi- gend; dieser paradoxe emotional dämpfende Effekt (31) könnte bei ih- nen sehr wohl der Grund für die psychische Abhängigkeit sein. Mit modernen elektroenzephalog raph schen Methoden konnte gezeigt werden, daß Zigarettenrauchen so- wohl stimulierend als auch beruhi- gend wirken kann, und daß es sich dabei um einen dosisabhängigen Ni- cotineffekt handelt (7).

Man hat versucht, das gesteigerte Rauchbedürfnis nach dem Essen und unter Streß (75) mit einer be- schleunigten Elimination des Nico- tins zu erklären, aber die streßbe- dingte Säuerung des Harns als an- gebliche Urache tritt nicht so rasch ein und hält viel länger an als das gesteigerte Verlangen zu rauchen.

Andererseits besteht kein Zweifel, daß Nicotin die psycho-physische Reaktion auf Streß verändert. Das geht auch aus Tierversuchen hervor.

Ratten, die unter dem Einfluß von Nicotin gelernt haben, einem leich- ten elektrischen Schlag auszuwei- chen, werden in dieser Hinsicht von Nicotin abhängig (35), und der durch Streß (zum Beispiel Anlegen einer lästigen Schwanzklemme) bei Affen erzeugte Bluthochdruck kann durch Nicotin gesenkt beziehungs- weise verhindert werden (40a).

Literatur

(I) Bättig, K.: Rauchgewohnheit und Psycho- pharmakologie des Nicotins, Naturwiss.

Rdsch. 9 (1980) 356-361 — (II) Gorrod, J. W.;

Jenner, P.: The metabolism of tobacco alkalo- ids, in: Essays in Toxicology. Hayes jr., W. J.

(Ed.), vol. 6. Academic Press, New York/San Francisco/London (1975) 35-78 — (III) Kharke- vich, D. A. (Ed.): „Pharmacology of Ganglionic Transmission". Handbook of Experimental Pharmacology. vol. 35. Springer-Verlag, Ber- lin/Heidelberg/New York (1980) — (IV) Larson, P. S.; Haag, H. B.; Silvette, H.: „Tobacco, Ex- perimental and Clinical Studies". Williams &

Wilkins, Baltimore, Md. (1961)— (V) Russell, M.

A. H.; Feyerabend, C.: Cigarette smoking: a dependence an high-nicotine boli, Drug Meta- bol. Rev. (1978) 29-57 — Das gesamte Literatur- verzeichnis ist in den Sonderdrucken ent- halten

Anschriften der Verfasser:

Professor Dr. med. Klaus Opitz Apotheker Michael Horstmann Institut für Pharmakologie und Toxikologie der Universität Domagkstraße 12, 4400 Münster DEUTSCHES .ÄRZTEBLATT Heft 40 vom 1. Oktober 1981 1873

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