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Die Trunksuchkgeschr iu

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kekte 6er Selellsckcikl kür Kockmuliale Zoiialpolitik in kigci.

Ns. 33. ^

Die Trunksuchkgeschr iu

Vortrag,

gekalten ani 7. Januar ,91z in cler 6esells«kaft für komniunale Sozialpolitik in Kigs

ll. v. Cramer.

^

- ^

VI. Acitirgang.

W i g « .

Druck von W. F. Hücker.

1913.

(2)

Die ^runklucktzgetalir In Kuhlan6.

Von N. v. Cr am er.

Hochgeehrte Anwesende!

Mein Vortrag hat den Zweck, Ihre Aufmerksamkeit auf eine Frage zu lenken, die bereits seit Jahren viele der besten Männer Rußlands, viele wahre Patrioten, ernstlich beschäftigt.

Es ist eine Frage von großer Bedeutung, und wenn die meisten sich dieser Bedeutsamkeit nicht bewußt sind, so trägt die Schuld daran vor allem der Umstand, daß in der Hetze des täglichen Lebens, im heißen Ringen um das Daseiu, bei den großen Anforderungen, die in der Gegenwart Beruf und Amt an jeden stellen, man häufig nicht die Zeit hat, sich umzuschauen, sich Rechenschaft zu geben über die Wich­

tigkeit dieser oder jener Erscheinung unseres öffentlichen und staatlichen Lebens. Schuld daran ist häufig auch die Judolenz, mit der wir uns allen Angelegenheiten gegenüber verhalten, die nicht unmittelbar unser Wohlergehen oder das Wohlergehen der Klasse, der wir an­

gehören, in Mitleidenschaft ziehen. Endlich gibt es anch solche, denen die Bedeutung der Frage klar ist, welche die dem Lande drohende Gefahr sehen, die aber sie nicht sehen wollen, weil sie selbst nicht schuldlos sind oder weil sie nicht wissen, wie man der Gefahr entgegen­

treten soll.

Diese bedeutsame Frage, die eine Ausgabe in sich schließt, von deren glücklicher Lösuug bis zu einem gewissen Grade das Schicksal Ruß­

lands abhängt, ist die Frage: Was ist zu tun, um der Trunksucht, dieser deu Körper und die Seele des russischen Volkes zerstörenden Krankheit, Herr zu werden; was ist zu tun, um das hochbegabte, intelligente russische Volk vor physischem und moralischem Niedergange zu retten?

Meine weiteren Ausführungen werden Ihnen, hochverehrte Ver­

sammlung, den traurigen Beweis liefern, daß wir es tatsächlich mit einer Erscheinung zu tun haben, die tief in das wirtschaftliche Leben Rußlands eingreift, die unzählige Werte zerstört, den knl turellen Fortschritt Rußlands hemmt, die Zahl der geistigen

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E r k r a n k u n g e n u n d V e r b r e c h e n i n e r s c h r e c k e n d e m M a ß e m e h r t , die Arbeitskraft des russischen Volkes vermindert und immer neue G e n e r a t i o n e n v o n D e g e n e r i e r t e n s c h a f f t .

Der enge Rahmen eines Vortrages erlaubt mir nur in allge­

meinen Umrissen ein Bild von der Lage der Dinge zu zeichnen. Wenige Zahlen, kurze Hinweise aus dem mir zu Gebote stehenden reichen Material werden meine Ausführungen unterstützen. Trotz dieser Kürze, trotz dieser Beschränkung wird aber das Mitgeteilte genügen, um in Ihnen den Gedanken reifen zu lassen, daß die Gefahr, in der sich Rußland befindet, keine eingebildete, sondern eine tatsächliche ist.

Seit vielen Jahrzehnten arbeitet! und wirkt in Petersburg die Aller­

höchst bestätigte Gesellschaft zum Schutze der Volksgesundheit.

Die Organisation und der Charakter der Tätigkeit dieser Gesellschaft läßt sich vielleicht am ehesten mit der unserer Vereine sür kommunale Sozial­

politik uud für Volkswohlfahrt vergleichen. Natürlich ist der Maßstab ein anderer. Im Bestände der Gesellschaft für Volksgesundheit befindet sich ebenfalls eine besondere Kommission, die sich speziell mit der Alkoholsrage befaßt. Sie ist am 7. Januar 1898 gegründet und hat im Laufe ihres nun 15 jährigen Bestehens ein reiches Material zur Beurteilung der Alkoholfrage in Rußland zusammengetragen.

Dieses Material muß als ein wertvolles bezeichnet werden, da sich am Sammeln desselben hervorragende Professoren, Ärzte, Juristen, Statistiker und Personen, die im praktischen Leben stehen, beteiligt haben.

Diese Kommission hat von Anfang an auf wissenschaftlicher Grund­

lage gearbeitet. Nachdem sie zuerst die physiologische Wirkung des Alkohols auf den menschlichen Organismus studiert hatte, stellte sie sich die Aufgabe zu untersuchen, wodurch die Verbreitung der Trunk­

sucht in Rußland erklärt werden könne. Sie ging dabei von dem Prinzip aus, daß zwischen den Trunksuchtsursachen einzelner Personen und der „Massentrunksucht" eine scharfe Scheidung stattfinden muß.

Wenn man hinsichtlich der „individuellen" Trunksucht von sittlicher Minderwertigkeit, von übler Gewohnheit, Willensschwäche, schlechtem Beispiele n. s. w. sprechen kann, so müssen die Ursachen tiefer liegen, sobald wir es mit einer „Massentrunksucht" zu tun haben, d. h. mit einer ständigen, immer ausgesprochenere Formen annehmenden Er­

scheinung, die sich nicht in einzelnen Gruppen der Bevölkerung, nicht in einzelnen Teilen des Landes, sondern im ganzen Volke, im ganzen

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Reich bemerkbar macht, einer Trunksucht, die immer mehr den Charakter einer Alkoholisierung der Massen annimmt.

Professor Ssikorski in Kiew, der bekannte Spezialist für Geistes­

krankheiten, äußert sich in seiner im vorigen Jahre erschienenen Broschüre

„Die herannahende große Krisis" wie folgt: „Schon vor 15 Jahren hat die russische Psychiatrie das Herannahen kommenden Unheils vorausgesagt. Diese Warnrufe aber verhallten wie die Stimme des Predigers in der Wüste . . . Jetzt rückt die Erscheinung beharrlich näher und klopft an die Tür. Es bleibt nichts übrig, als die Tür zu öffnen und die Reden anzuhören, die dieses mal ernster sein werden als vor 15 Jahren." Nach diesen einleitenden Worten weist Pro­

fessor Ssikorski auf die Gefahr hin, die Rußland droht — es ist die Alkoholisieruug der Massen. Früher gab es in Rußland „Trunksucht", mit dem XIX. Jahrhundert begann der Alkoholismus mit seinen Begleiterscheinungen. Jetzt droht Rußland — nach der Meinung Ssikorskis — die Alkoholisierung der ganzen Bevölkerung des Reiches.

Um die Ursachen der „Massentrunksucht" zu erforschen, beschloß die von mir bereits erwähnte Kommission für die Alkoholfrage bei der Gesellschaft sür Volksgesundheit, allem zuvor die Lebensbedingungen der einzelnen Bevölkerungsklaffen, in welchen sich die Massentrunksucht und Alkoholisierung besonders bemerkbar macht, eingehend zu prüfen.

Zu diesem Zwecke wurden die Lebensweise und die Arbeitsverhältnisse des Bauers, des Fabrikarbeiters, des Militärs und der griechisch­

orthodoxen Geistlichkeit einer genauen Prüfung unterzogen. Es wurden die ökonomischen, hygienischen und rechtlichen Verhältnisse, uuter denen diese Gruppen leben, festgestellt, sowie der Versuch gemacht zu ermit­

teln, welchen Einfluß die betreffenden Lebensbedingungen aus den Alkoholgenuß ausüben. Die Kommission stellte sich ferner die Auf­

gabe klarzulegen, inwieweit beim Maffenalkoholismus die bestehenden Sitten und Gebräuche, ferner psychische Ursachen und schließlich der Charakter des Branntweinverkaufs mitspielen. Eine derartige auf wissenschaftlicher Grundlage aufgebaute, von Männern der Wissen­

schaft und des praktischen Lebens ausgeführte Enquete mußte ein wertvolles Material zur Beurteilung der Alkoholfrage in Rußland liefern.

Nicht wenig Licht brachte in die bisher herrschende Dämmerung, die von so manchen Augen der Helle vorgezogen wird, auch der im

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Dezember 1909 bis Januar 1910 in Petersburg abgehaltene I. All­

russische Kongreß zur Bekämpfung der Trunksucht. An diesem Kongreß nahmen Teil offizielle Vertreter der Regierung, der Universitäten, vieler Städte nnd Landschaften. Alle Gesellschafts­

schichten, alle politischen Gruppen, angefangen von den äußersten Rechten bis zu den Sozialdemokraten, sowie alle Nationalitäten waren vertreten. Aus Stadt und Dorf, ans Waldgebiet und Steppe, aus dem hohen Norden nnd selbst aus dem fernen Osten waren Ärzte, Lehrer, Dorfgeistliche, ja selbst Fabrikarbeiter herbeigeeilt, um hier der Residenz von dem zu erzählen, was im großen, weiten Rußland vor sich geht.

Am Schluß des Jahres 1910 sind drei Bände der Arbeiten des Kongresses im Druck erschienen Sie bilden ein überaus wertvolles Material für die Kenntnis der Alkoholfrage in Rußland.

Gestatten Sie mir nun, durch einige Zahlen und Daten zu illu­

strieren, was Rußland jährlich vertrinkt und wie es trinkt.

Vor allem will ich Ihnen die offiziellen Zahlen der Hauptver­

waltung für den Kronsbranntweinverkauf zitieren.

Im Laufe der letzten Jahre sind in Rußland in Monopolbrannt­

wein vertrunken worden im Jahre:

1906 . . 697 Mill. Rbl.') 1909 . . 718 Mill. Rbl.') 1907 . . 707 „ „ 1910 . . 767 „

1908 . . 709 „ „ 1911 . . 783 „

Die Endresultate des Jahres 1912 habe ich nicht bei der Hand, doch zeigten schon die ersten 6 Monate, daß trotz der Mißernte in verschiedenen Teilen des Reiches, der Branntweinkonsum dennoch ge­

stiegen ist. Im ersten Halbjahr 1911 waren im Monopolrayon 42,576,000 Wedro konsumiert worden; im ersten Halbjahr 1912 — 43,992,000 Wedro, also um 3,22 A mehr.

Für das Jahr 1913 war der Ertrag aus dem Branntweinkonsum mit 851V2 Millionen Rbl. angenommen, und zwar mit 800 Millionen Rbl. aus dem Monopolbranntweinverkauf (93,300,000 Wedro) uud mit 51,562,000 Rbl. aus dem Ertrage der Brauutweiuakzise. Da bei

!) I Leepoecmciiai'o litt 6vi>i/>k! LI, Iiiuinci'iittin'i,." Auf dieses Werk beziehen sich in folgendem die Seitenhinweise der ohne Titelangabe zitierten Schriften.

2) Mit Fortlassung der Millionenbruchteile.

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der Aufstellung des Staatsbudgets die zn erwartenden Einnahmen stets niedriger, als tatsächlich anzunehmen ist, normiert werden, so kann man mit Sicherheit rechnen, daß im Jahre 1912 Rußland über 900 Millionen Rbl. in Branntwein vertrunken hat. Da nun die ge­

samten ordentlichen Staatseinnahmen gemäß dem Budget für 1913 2,896 Millionen Rbl. betragen, so resultiert daraus, daß der Konsum von Branntwein seitens der Bevölkerung dem Staate fast Vs seiner sämt­

lichen Einnahmen liefert.

Nun darf man aber nicht vergessen, daß, außer dem Branntwein, die Bevölkerung Rußlands auch uoch Bier und Wein konsumiert. Die Einnahme des Staates aus dem Bierverkauf beträgt etwa 20 Mil­

lionen Rbl. D.N. Borodin, einer der eifrigsten Gegner des Mono­

pols, der seit Jahren die Alkoholfrage studiert, berechnet die Ausgaben der Bevölkerung Rußlands für Wein, Kognak und Likör mit 108 Millionen Rbl., für Bier mit 118 Millionen Rbl.') Demnach würde die jährliche Gesamtausgabe für alkoholische Getränke zurzeit mit 1100 Millionen Rbl. zu berechnen sein.

Dabei ist die Tendenz des Konsums von Schnaps und Bier eine steigende uud zwar auch in den Teilen des Reiches, wo der Monopol­

branntweinverkauf noch nicht eingeführt ist, sondern das Akzisesystem besteht. Nach offiziellen Daten hat sich in jenen Teilen des Reiches der Branntweinkonsum im Jahre 1910, im Vergleich zu 1909, um 11,8A und in den ersten 6 Monaten des Jahres 1911, im Vergleich zu 1910, um 23 I vergrößert. In der ersten Hälfte des Jahres 1912 ist der Branntweinkonsum, im Vergleich zu demselben Zeitraum für das Jahr 1911, um 11,5A gestiegen. Für das Jahr 1913 nimmt das Finanzministerium an, daß der Konsum um 11,5A wachsen wird.

Laut Bericht des Finanzministers hat sich der Konsum besonders im Baurayon der Amurbahn vergrößert.

Auch der Bierkonsum wächst. So zeigen die offiziellen Daten des Finanzministeriums, daß der Bierkonsum im Jahre 1909, im Ver­

gleich zu 1908, um 4,5A und im Jahre 1910, im Vergleich zu 1909, sogar um 9,8A gewachsen ist. Für das Jahr 1912 nimmt das Ministerium ein Wachsen des Konsums im Betrage von 2,8A an.

l) S. 382, 383.

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Die angeführten Zahlen haben Ihnen gezeigt, welche Rolle der Branntwein in unserem Staatshaushalt spielt. Hat sich unser Reichs­

budget in der Reichsduma doch den traurigen Namen „Das trunkene Budget" erworben.

Wollen wir jetzt den Versuch machen festzustellen, welchen Platz der Branntwein im Ausgabebudget des Bauers, des Arbeiters und des Handwerkers einnimmt.

In der offiziellen Tabelle „Statistik des fiskalischen Brannt- weinverkaufs für 1907"') ist ganz Rußland, entsprechend der Höhe des Branntweinkonsums, in 10 Rayons eingeteilt. Wir sehen aus dieser Tabelle, daß laut Berechnung der offiziellen Statistiker, nach Ausschluß der städtischen Besiedelungen, die Ausgabe sür Brannt­

wein pro Kopf beträgt: angefangen von 2 Rbl. 8 Kop. im König­

reich Polen und 2 Rbl. 24 Kop. in den Baltischen Provinzen, bis zu 4 Rbl. 56 Kop. im Zentrum Rußlands und 5 Rbl. 12 Kop. im Süden. Pro Familie (5 Köpfe) soll diese Ausgabe betragen: in Polen 11 Rbl. 44 Kop., in den Baltischen Provinzen 12 Rbl. 32 Kop., im Schwarzerderayon 23 Rbl. 76 Kop., im Zentralrayon 25 Rbl.

8 Kop., im Süden 28 Rbl. 16 Kop.

Der von mir bereits zitierte Borodin beziffert seinerseits die Aus­

gaben für Schnaps pro Kopf: in den Dörfern mit 10 Rbl. 26 Kop., in den Städten mit 18 Rbl., in den Residenzen Petersburg und Moskau mit 59 Rbl. 50 Kop., oder für die aus 5 Köpfen bestehende Familie mit 17 Rbl. im Dorfe, mit 56 Rbl. 66 Kop. in der Stadt, und mit 90 Rbl. in den Residenzen.

Die Ziffern der offiziellen Statistik geben uns an und für sich noch kein Bild von der Bedeutung der Ausgabe für Alkohol im Budget der Landbevölkerung. Sie zeigen nur, daß der Russe für Branntwein mehr ausgibt als der Pole, der Deutsche, der Lette, der Este, daß der Christ bedeutend mehr trinkt als der Mohammedaner und Jude, der Städter mehr als der Bauer. Sie erhalten ihre Be­

deutung erst, wenn wir erfahren, wie groß das Budget des russischen Bauers überhaupt ist; wie viel der russische Bauer für Lebensmittel ausgibt, die er kaufen muß, wie groß seine Ausgabe für Kleidung und andere Bedürfnisse ist; wie er sich nährt, wie er wohnt; ferner, wie groß die Ausgabe des russischen Bauers für Branntwein ist, im Ver-

i) S. 385.

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gleich zur Ausgabe des deutscheu, französischen, englischen Bauers für Alkohol. Erst dann können wir feststellen, ob der russische Bauer seiueu „Überfluß" oder seinen „Mangel" vertrinkt.

Nach den mir zur Verfügung stehenden Daten, für deren unbe­

dingte Richtigkeit ich natürlich nicht einstehen kann, beträgt das Budget des russischen Bauers im Mittel 63 Rbl., oder mit anderen Worten:

er hat außer der Wohustätte, dem Holz aus dem Gemeindewalde, dem Korn und dem Gemüse von seinem Felde, die ihm und seiner Familie zur Nahrung dienen, 63 Rbl. baren Geldes zur Bestreitung aller übrigen Ausgaben. Von diesen 63 Rbl. verbraucht er 10,8^

für Branntwein. Der französische Bauer soll 13,5A, der englische 10,5A, der österreich-uugarische 6,9A, der schwedische 4,2A, der nor­

wegische 3,8A seines Einkommens für Alkohol verbrauchen'). Der russische Bauer würde demnach etwas weniger als der französische, mehr als der englische und bedeutend mehr als der österreich-nngarische, schwe­

dische uud norwegische Bauer für deu Alkoholgenuß ausgeben. Nun aber foll das Budget des englischen Bauers im Mittel nicht 63 Rbl., sondern 273 Rbl., also 4'/smal mehr betragen. Auf den Tisch des englischen Bauers kommeu Fleisch und Butter, Eier uud Gemüse, Tee, Kaffee und Zucker. Bei uus sind die Hauptbestandteile der Nahruug des Bauers: Brot, dazu in uugeuügeuder Meuge Kwas, Kartoffeln, Zwiebeln, Kohl, Gurken, Pilze, Fett und Öl. Zu dem dünnen Auf­

guß des Tees fehlt fast der Zucker. Auf den Kopf der Bevölkerung Rußlands kommen 15 Pfd. Zucker, während auf den Kopf der Be­

völkerung Frankreichs 42 Pfd., Deutschlands 45 Pfd. und Englands sogar 91 Pfd. kommeu^). Fleisch ist ein Luxusartikel auf dem Tisch des russischen Bauers. Eiweiß und Fette sind in seiner Nahrung durchaus ungenügend enthalten. Nach Kotelnikow^) ißt sich '/z der Bevölkerung Rußlands überhaupt nicht satt. Die sanitären Mißstände der bäuerlichen Wohnstätten sind oft geradezu entsetzlich.

Der bekannte Statistiker Schtscherbina^) beschreibt, wie folgt, den Zustand von zwei Dörfern in nächster Nähe von Woronesh, einem nicht armen Gouveruement: Das Budget des einzelnen Bauers beträgt im Mittel 60 Rbl. Für das Wirtschastsiuveutar gibt er ea. 25 Rbl., sür Lebensmittel 20 Rbl. aus. Milch und Eier fehlen ganz. Für Fleisch

i) S. 987. 2) S. 402. 3) S. 423. 989.

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wird etwas mehr als 1 Rbl. im Jahr ausgegeben. Die hygienischen Lebensbedingungen sind ganz unmögliche; 22A aller Bauernhäuser sind verfallen, 70I sind feucht; 30I durchfrieren im Winter; Vieh und Men­

schen wohnen zusammen; 96A der Bewohner haben keine Betten, sondern schlafen auf Matten. Und folche Dörfer gibt es inRnßland viele Taufende.

Obrist Fürst Barjatinski') berichtet, daß von 360 Rekruten, die er befragte, 144 Mann, also gegen 40I", früher noch niemals Rind­

fleisch gegessen hatten.

Nach einigen für das Jahr 1907 gesammelten statistischen Daten entfiel auf 42,7A aller Bauernhöfe Rußlands nur je ein Pferd uud auf 29,3I kcin Pferd. Im Kreise Bogorodsk, Gonv. Moskau, ist von Raspopow 2) festgestellt worden, daß es in diesem Kreise 7737 Bauernhöfe gibt, die keine Kuh, 5067 Höse, die keiu Pferd, und 7085 Höfe, die weder Kuh uoch Pferd besitzen. Die Bauern desselben Kreises Bogorodsk vertrinken aber in einem Jahre I V4 Mill. Rbl.

Diese Zahlen sprechen eine beredte Sprache und weisen darauf hin, daß der russische Bauer nicht seinen „Überfluß", sondern seinen

„Mangel" vertrinkt.

Aber nun erlauben Sie nur, Ihnen einige.Zahlen und Daten anzuführen, die noch viel deutlicher reden.

Im Jahre 1900 betrug die Einnahme des Staates aus dein Getränkeverkanf 411 Mill. Rbl. Sie war im Vergleich zu 1899 um 15 Mill. Rbl. gewachsen. Im Jahre 1901 hatten wir eine große Mißernte. Es mußten 22 Mill. Rbl. aus Reichsmitteln der notlei denden Bevölkerung zur Verpfleguug angewiesen werden. Die Ein­

nahmen des Fiskus aus dem Branntweinmonopol betrugen 455 Mill.

Rbl.; sie hatten sich nicht vermindert, wie man in Hinblick auf die Mißernte annehmen durfte, souderu hatten sich vermehrt, aber nicht nur um 15 Mill. Rbl., wie nn vorhergehenden Jahre, sondern sogar um 44 Mill. Im Jahre 1905 hatten wir Revolution und Mißernte.

Aus dem Staatssäckel wurden 45 Mill. Rbl. für die notleidende Be­

völkerung angewiesen. Die Branntweineinnahme stieg um 56 Mill.

Rbl. Im Jahre 1906 Mißernte, Notstandsanweisung 96 Mill. Rbl>;

die Branntweineinnahme wies ein Plus von 87 Mill. Rbl. auf. Im ') Vgl, den 1^c<mvA Kougsu,»", «'H 11, S. 408. 2) S. 986, 987.

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Jahre 1911 gab es teilweise Mißernte uud ein erhebliches Steigen der Eiuuahme vom Kronsbranntweinverkanf.

Wem diese Zahlen noch nicht genügen, um zu beweisen, daß unser Bauer seiueu „Mangel" vertriukt, den verweise ich aus den Bericht des Finanzministers zum Budget des Departemens sür indirekte Steuern, für das Jahr 1906.

In diesem Bericht teilt der Finanzminister mit, daß der Konsum des Branutweins im allgemeinen nm 3A gestiegen ist, in den von der Mißernte heimgesnchten 21 Gouvernements aber um 6,5A!

Kann da die Behauptung noch angestritten werden, daß der ruf- sische Bauer nicht seinen Überfluß, sondern, wie gesagt, „seinen Man­

gel" vertrinkt?

Das bekannte Sprichwort: „Hat der Bauer Geld, hat's die ganze Welt" gewinnt eine besondere Bedeutung für Rußland, diesen großen Bauernstaat, iu welchem 86 A der Bewohner der Landbevölkerung angehören. In einem solchen Staate muß alles, was die Verarmung des Landes fördert oder auch nur seine ökonomische Kräftigung auf­

hält, mit ganz besonderer Energie im Staatsinteresse bekämpft werden.

Wem das Wohl von Staat und Volk am Herzen liegt, der kann nicht ruhig bleiben, wenn er sieht, daß die Bauernschaft eines Kreises, in dem es 7000 Höfe gibt, die weder eiu Pferd noch eine Kuh besitzen, 1^4 Mill. Rbl. in Branntwein vertrunken hat; er kann nicht gleich­

gültig bleiben, wenn 96 Millionen aus dem Reichsschatz angewiesen werden mußten, damit der von der Mißernte heimgesuchte Bauer sein Feld bestellen, sich sein einziges Pferd, seine einzige Kuh erhalten kann, und wenn dann der Finanzminifter nachher erklären muß, daß in dem­

selben Notjahr dieselbe notleidende Bevölkerung mehr vertrunken hat, als die Bevölkerung der Teile des Reiches, wo es keinen Notstand gab und die keine 96 Millionen Hilfsmittel erhielten.

Der beste Kenner des bäuerlichen Lebens ist der Dorsgeistliche.

Er lebt mit den Bauern und unter ihnen. Sein Jnteressenkreis ist häufig nicht viel größer, als der des Bauers, der bescheidene Zuschnitt seines Lebens unterscheidet sich nur wenig von dem des begüterten Bauers. Was sagt nun dieser Kenner der bäuerlichen Lebensweise?

Vor etwa 4 Jahren hat ein bekannter Petersburger Geistlicher, Mirtow, durch Vermittelnng der Eparchialobrigkeit eine Umfrage bei der Dorfgeiftlichkeit Rußlands angestellt. Die eingegangenen

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Antworten, aus allen Teilen Rußlands/) mit wenigen Ausnahmen, geben überall dasselbe Bild. Es triukt eben alles! Ein Dorfgeist­

licher aus dem Gouvernement Orel schreibt: „Es trinken die Männer, es trinken, wenn auch weniger, die Fraueu uud sogar die Kiuder. EZ trinken die Armen und uicht weuiger auch die Reichen. Es trinken, die nicht zu lesen und zu schreiben verstehen und die es können, nnd sogar die Gebildeten." Und ein anderer Geistlicher aus Asieus fer- uer Steppe, aus Ssemipalatiusk, schreibt: „Es trinkt die hohe nnd die niedere Obrigkeit des Dorfes, es trinkt die Polizei, es trinken die Ärzte und die Lehrer". Ein dritter, aus dem Gouveruement Ssamara, schreibt: „Der Umsaug der Truuksucht ist uicht überall derselbe. Je­

doch am häufigsten wird bis zur Sinnlosigkeit, bis zur Vertierung, bis in den Tod getrunken^).

Gestatten Sie mir jetzt Jhueu einige Zahlen und Daten anzu­

führen, die Ihnen ein Bild davon geben, was der russische Hand­

werker, Fabrikarbeiter und Tagelöhner vertrinkt.

Eine in Petersburg im Jahre 1908 oder 1909 aus der Mitte der Arbeiter, von Arbeitern selbst veranstaltete Enquete ergab folgende Daten 2): Von 2052 Arbeitern und Handwerkern verschiedenster Bran­

chen, die die Umfrage beantwortet hatten, tranken überhaupt uicht 160, also 7 Der Geuuß vou Brauutweiu hatte bei den 1892 trinkenden Arbeitern und Haudwerkeru schou sehr früh begouueu, uud zwar bei 6A vor dem 10. Jahre, bei 12 S im Alter von 11—14 Jahren, bei 35^ im Alter von 15—17 Jahren, bei 38I im Alter von 18—21 Jahren, und nur bei 8A nach erreichtem Mannesalter. Im Mittel wurden 13^2 S des ganzen Budgets vertrunken; 3A der Befragten trinken, außer Brauntwein, auch Surrogate, wie z, B. deuaturierteu Spiritus, Lack uud Politur; 54A, also der größte Teil, triukt in Ge­

sellschaft und einzeln, 41S uur iu augeuehmer Kompagnie, 5A nur für sich allem; 38A trinken den Branntwein in mäßigen Quantitäten, 23 A in uumäßigeu Quantitäten, 33 S bald mäßig, bald unmäßig, wie es ebeu kommt, nnd 6A leiden au Säuser-Truuksucht

Die Frage, ob „Wegbleibeu vou der Arbeit" (upm'^i.) vorgekommen, wurde von 40S der Befragten bejahend beantwortet.

Gouv. Pensa, Orel, Kvstrmna, Kasan, Poltawa, Tschernikvw, Charkow, Taschkent, Syr-Darja, Ssemiretschensk, Ssamara, Archangelsk, Wologda, Trans­

baikal, Fergan, Wolhynien, Kaspicu, Pskvw, Wladimir. 2) S. llü!) ff. ^)S. 844sf.

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Von diesen 2052 haben 73A täglich ein warmes Mittagsmahl, 13A essen zu Mittag trockne und kalte Speisen, und 13A haben keinen regelmäßigen warmen Mittagstisch. 40A haben als Wohnung ein Zimmer, 38A ein halbes Zimmer, eine Bettstelle oder eine halbe Bettstelle, 22I, eine Wohnung mit Mietern.

Eine ebenfalls aus Arbeiterkreisen im Bakuschen Jndustrierayon veranstaltete Umfrage unter Arbeitern der Naphthaindnstrie, Eisen­

bahnarbeitern und städtischen Handwerkern, hat folgende Beantwortung erfahren. Die Metallarbeiter vertrinken im Mittel 12—-16A ihres Monatslohnes, die Bauarbeiter 14 — 18A, die Handwerker der Naphthaindnstrie 15—17A, die städtischen Handwerker und Eisen­

bahnarbeiter 10—25I des Monatslohnes; am wenigsten trinken die Setzer, Drucker uud Buchbinder, am meisten die Eisenbahnarbeiter.

Wenn wir die einzelnen Gewerbe und Professionen betrachten, so sehen wir, daß die größten Trinker die Bäcker und die Arbeiter in den Konditoreien sind. Die ersteren vertrinken fast 40A ihres Wochenlohnes, die letzteren über 32I desselben. Am wenigsten trinken die Maschinisten und Elektrotechniker (6A des Lohnes) und die Buchbinder (über 7A des Verdienstes). Interessant ist der Um­

stand, daß, je größer der Verdienst ist, desto kleiner die Ausgabe für Branntwein, und umgekehrt.

Vou den bei dieser Umfrage registrierten Personen trinken gegen 2A nur bei Familienfesten (Namenstag usw.), 13,5^ an Tagen der Auszahlung des Lohnes, gegen 15I an Sonn- und Feiertagen und 69A bei jeder Gelegenheit. Fast 32A haben infolge von Trunken­

heit Körperverletzungen davongetragen, bei 14, 5 T war Delirium trs- mens in der Familie zu Hause; bei 40S trank der Vater, bei 46A der Vater und die Mutter, bei 2A allein die Mutter, und nur bei 10,5^ waren die Eltern nüchterne Personen. Bei fast 39A der Befragten trinkt die Frau. Der größte Teil der registrierten Arbeiter und Handwerker hat in den Kinderjahren zu trinken begonnen, ein­

zelne sogar bereits im 8. bis 9. Lebensjahr').

Ein hohes Interesse beanspruchen die Materialien der Trinker­

heilambulatorien des St. Petersburger städtischen Volks-Nüchternheits- knratoriums. Die bezüglichen Arbeiten sind von einer Autorität auf wissenschaftlichem Gebiet, dem bekannten Petersburger Arzt A. L.

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Mendelsohn, ausgeführt worden. Sie werfen ein Helles Licht auf die Arbeiterverhältnisse der Residenz und die in ihr herrschende Trunksucht.

Unter den 2734 Personen, die in den Ambulatorien für Alkoholiker Aufnahme fanden, gehören fast 30^ dem Fabrikarbeiterstande und über 27A dem Handwerkerstande an. Der größte Teil der Behan­

delten bestand aus Gewohnheitstrinkern und nur 12 litten an perio­

discher Trunksucht. Auf den Kops der Trinker entfallen 18,?5—27,3?

Wedro pro Jahr, während das Mittel für ganz Rußland 1,«g Wedro pro Kops ist. Dazu ist zu bemerken, daß der Konsum eine steigende Tendenz aufweist, ganz unabhängig davon, ob der Arbeitslohn steigt oder fällt. Während im Jahre 1903 die registrierten Trinker gegen ein Drittel ihres Verdienstes (32,»I) vertrinken sotten, erreichte im Jahre 1907 der vertruukene Teil des Lohnes bereits 50A. Was das Alter betrifft, so hatten über 1A der Registrierten bereits im 6. Le­

bensjahre zu trinken angefangen. Von den Frauen hatten 12I schon vor dem 15. Lebensjahre zu trinken begonnen, und zwar 3A im Alter von 6—10 Jahren uud 9A im Alter von 10—15 Jahren.

Von der in der Residenz Rußlands herrschenden Trunkenheit geben folgende Zahlen des statistischen Bureaus des St. Petersburger Stadtamts ein Bild. Mehr als '/z aller plötzlich Verstorbenen sind im Zustande der Trunkenheit gestorben'). An der Trunksucht sterben in Petersburg aus 100,000 Einwohner 20,», in London 13,5, in Paris 6,3, in Berlin 2,?A ^). Nach Untersuchungen von Dr. Terechowko sind 30A aller Selbstmorde in Petersburg der Trunksucht zuzuschreiben; in Paris nur 14,sA.

Zum besseren Verständnis der ganzen Ungeheuerlichkeit der bei uns herrschenden Zustände mögen nun folgende Hinweise dienen. Ebenso wie in Paris, Wien und Berlin werden auch iu Petersburg die im Zu­

stande eines starken Rausches auf den Straßen befindlichen Personen von der Polizei aufgegriffen, in das betreffende Polizeiamt geführt, dort registriert und bis zur Ernüchterung zurückgehalten. Selbstverständlich geht die Polizei in der Festnahme solcher Personen im Westen Europas viel strammer vor als bei uns, wo man sich viel milder

1) LWeioMtikb r. L.-He?epk^pi'Ä 1900—1903 r.

2) LllliiieivÄ, «?'i> 1901 Kv

1908 r.; ciips,»«». LpÄieösaro Oi'A'b.ieniii 1909 r. Für Berlin Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin.

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— 15 -

zum Straßenunfug im allgemeinen und speziell Trunkenen gegenüber stellt, da im russischen Volke der Betrunkene meistenteils nicht Ekel, sondern ein gewisses Mitleiden, ja selbst wohlwollende Sympathie erweckt.

Im Jahre 1906 kam ein registrierter Trunkenbold auf folgende Einwohnerzahl:

i n P a r i s . . . . a u f 1 6 , 9 6 2 E i n w o h n e r

„ Wien . . . . „ 1,020 „

„ B e r l m . . . . „ 8 6 9 „

„ Petersburg. . . „ 25 „

Im Jahre 1906 wareu also fast 4A (3,96A) der Bevölkerung Petersburgs, oder jeder 25. Bewohner wegen Trunkenheit ins Polizei­

lokal gebracht worden.

Aus dem bereits Gesagten haben wir ersehen, daß der russische Fabrikarbeiter, Tagelöhner uud Handwerker in der Mehrzahl von 12A bis sast 40A seines Lohnes vertrinkt. Um uns ein Bild vom Umfang und der Bedeutung diefer Zahlengröße zu machen, müssen wir nun vor allem zu erfahren suchen, was der russische Arbeiter verdient, und zum Vergleich die Daten heranziehen, die uns Aufschluß darüber geben, was der ausländische Arbeiter verdient, und was er vertrinkt.

Gemäß den Daten ans dem Rechenschaftsbericht des Ministeriums für Handel und Industrie für das Jahr 1911 beträgt der Durchschnitts­

verdienst des russischen Arbeiters 251 Rbl. 15 Kop. In den Bal­

tischen Provinzen ist der Durchschnittsverdienst des Arbeiters höher, und zwar: in Livland 330 Rbl., in Kurland 295 Rbl. und in Estland 290 Rbl. Im Petersburger Fabrikrayon beträgt der Verdienst des Arbeiters im Mittel, nach den Mitteilungen der Kaiserlichen Russischen Technischen Gesellschaft'), 39 Rbl. 33 Kop. monatlich oder 472 Rbl.

jährlich

Im Vergleich zum Westen Europas ist das Mittel des Ver­

dienstes des Fabrikarbeiters in Rußland geringer als dort. Nach Kotelnikow 2) beträgt z. B. der Verdienst des Arbeiters in der fran­

zösischen Baumwollspinnerei, wo die Arbeit geringer bewertet wird, als in England und Deutschland, im Mittel 480 Rbl., in der Flachs­

spinnerei 420 Rbl. In der Bergbauindustrie beträgt im Mittel der ') S. 1863. 2) S. 461.

(15)

— 16 —

Verdienst in Belgien 400 Rbl., in Frankreich und Deutschland schwankt er zwischen 450 und 500 Rbl., in England beträgt er 700 Rbl., bei uns 250 Rbl. Welchen Prozentsatz seines Verdienstes vertrinkt nun der ausländische Fabrikarbeiter? Nach Kotelnikow') vertrinkt der englische Arbeiter 4,4A seines Verdienstes, der französische 4,7A, der deutsche 5A, der belgische 5,2A. Und der russische? Nach der von mir schon früher zitierten Arbeiterumfrage sind es 12—32, ja 40A des Wochenlohnes. Mögen diese Ziffern im allgemeinen zu hoch ge­

griffen sein, mag es Orte geben, wo der vom Arbeiter vertrunkene Teil des Verdienstes geringer ist, so unterliegt doch keinem Zweifel, daß der vom russischen Fabrikarbeiter vertrunkene Prozentsatz des Verdienstes viel größer ist als beim französischen, englischen, belgischen oder deutschen Arbeiter.

Wie nährt sich aber der westeuropäische und der russische Arbeiter?

Nach Kotelnikow') gibt der englische und belgische Arbeiter 47Z. des Verdienstes für die Ernährung aus, der französische 49I und der deutsche sogar 51A des Verdienstes. Davon werden verbraucht:

Englischer Deutscher Französischer A r b e i t e r Für Brot und Mehl . . . 15,8 16,1 17,9

Fleisch und Fisch. . . 28,8 31,8 30,3

„ Milch 6,1 7,4 4,4

„ Butter, Schmalz und Fett 11,4 14,2 10,8

„ Kartoffeln 4,2 4,6 3,6

„ Gemüse und Früchte. . 4,0 4,1 7,2

„ Tee, Kaffee und Kakao. 6,5 4,6 5,0

„ Zucker 4,3 2,2 2,7

„ andere Nahrungsmittel . 18,9 15,0 18,1

100 100 100

Und was ißt der russische Fabrikarbeiter und Tagelöhner? Auf dem flachen Lande Brot mit Kwas uud Zwiebeln, Grütze mit Schmalz oder Fett, und an Sonn- und Feiertagen Fleisch. I n den großen Fabrikstädten zum großen Teil trockene Nahrung, Brot, Wurst, Käse, Heringe, Gurken. Wie die schon mehrfach zitierte Arbeiterenquete besagt, haben selbst in Petersburg nur 73S der Fabrikarbeiter täglich

S. 442.

(16)

— 17 —

eine warme Mahlzeit, und das kann nicht wundernehmen, wenn man im Auge behält, welch großer Teil des Verdienstes in Branntwein u m g e s e t z t w i r d . S o s e h e n w i r d a ß , e b e n s o w i e d e r r u s s i s c h e B a u e r , a u c h d e r r u s s i s c h e A r b e i t e r n i c h t s e i n e n Ü b e r f l u ß , s o n d e r n s e i n e n M a u g e l v e r t r i n k t .

Daß der Mißraüch geistiger Getränke auf dieseu schlecht genährten und daher geschwächten und nicht widerstandsfähigen Körper ganz be­

sonders verheerend wirken muß, ist selbstverständlich. Dazu tritt uoch der Umstand hiuzu, daß die Wohnungsverhältnisse sowie die klima­

tischen Bedingnugen sür den russischen Arbeiter ungünstiger sind, als für seiuen Kollegen im Westen.

Was das Trinken unter der Jugeud betrifft, so habe ich schon vorhin bei Mitteilung der Resultate der von Petersburger Arbeitern veranstaltete« Euquete augeführt, daß 6 U der Kinder der Petersburger Arbeiterbevölkernug bereits vor dem 10. Lebensjahre Branntwein zu triukeu beginut. Diese betrübende Tatsache finden wir im gauzeu Reiche.

Auf dein im August 1912 uuter dem Präsidium des damaligen Erzbischoss von Moskau, zurzeit Petersburger Metropoliten Wladimir abgehaltenen Allrussischen Auti-Alkoholkougreß, an dem hauptsächlich G e i s t l i c h e t e i l n a h m e n , k a m e i n V o r t r a g d e s b e k a n n t e n D r . K o r o w i n zur Diskussion. Eine im Moskauer Gouvernement in 300 Land­

schulen unter 23,000 Schülern und Schülerinnen veranstaltete Enquete hat solgeude Resultate ergeben. Von den Knaben tranken 67A Schnaps und zuweilen auch Bier, von den Mädchen tranken Branntwein 54A.

Die Mehrzahl der Knaben und Mädchen hatte im Alter von 3—8 Jahren Branntwein zu trinken angefangen. Einige von den im 8. bis 10. Lebensjahre stehenden Schülern waren bereits betrunken gewesen, und zwar mehr als einmal. Es trinken die Kinder in der Mehrzahl der Fälle nicht nur mit Wissen der Eltern, sondern häufig werden sie sogar von den Eltern dazu genötigt.

Nach der Mitteilung einer vom lioLl'OpOMNiird („Nachrichten der Nowgorodschen Landschaft") veranstalteten Umfrage in einer Semstwo-Landschnle ergab sich, daß die Knaben bereits im Alter von 9—13 Jahren mit dem Branntweingenuß bekannt sind.

Dr. Grigorj e w teilt mit, daß in 4 von ihm besuchten Knaben­

schulen vou 182 Schülern im Alter von 8—13 Jahren 151 Schüler

(17)

- 18 —

Schnaps trinken. Viele von ihnen waren bereits betrunken gewesen, viele erhielten den Schnaps täglich von ihren Eltern. Einige erklärten, sie könnten bis zu 3 Gläser auf einmal anstriuken. In 4 Mädchen­

schulen tranken vou 159 Schülerinnen im Alter von 8—l6 Jahren 149 Schülerinnen.

Was kann von einer derartigen Jugend in physischer uud sitt­

licher Hiusicht erwartet werden? Die Antwort daraus gibt der von mir bereits zitierte bekannte Kiewer Nervenarzt und Universitäts­

professor Ssikorski. I n seiner Broschüre „Die nahende große Krisis"

sagt er: „Die Folgeerscheinungen der alkoholischen Degeneration sind gewöhnlich dreierlei Art. Es wächst die Zahl der geistigen Erkran­

kungen, es wächst die Zahl der Verbrechen, es vermindert sich die Arbeitsfähigkeit der Bevölkerung." Alle diese Erscheinungen, behauptet Professor Ssikorski, zeigen sich in Nnßlaud. Er stützt sich iu seiuen Ausführungen auf offizielles Material, auf die statistische» Berichte des Justizmiuisteriums, auf die Berichte der Jrreuaustalteu des Reiches, und auf die Arbeiten der bekannten Gelehrten Janfhnl und Tschuprow.

Professor Ssikorski stellt fest, daß in den Teilen des Reiches, wo der Branntweinkonsum größer ist, auch eine größere Anzahl von Verbrechen vorkommt. Die Kindersterblichkeit und der Kindesmord wachsen, wobei ihre Zunahme nicht im Verhältnis zum Wachstum der Bevölkerung, sondern zum Steigen des Branntweinkonsums steht.

Dabei tritt im Wachstum der Verbrechen deutlich die Eigentümlich­

keit hervor, daß die Zahl der von Franen verübten Verbrechen in höherem Maße zunimmt als die der Männer, d. h. also, daß die verderbliche Wirkung des Alkohols auf den weiblichen Organismus größer ist als auf den männlichen. Es ergibt sich demnach, daß alles das­

jenige, dessen besteHüterin das Weib sein soll, die Sittlichkeit, die Familie, das Kind, unter dem Einfluß des Alkohols zu Grunde zu gehen droht.

Was die Zunahme der Geisteskrankheiten in Rußland betrifft, so ist das eiue so bekaunte Tatsache, daß ich keiue Veranlassung habe, hier weiter darauf einzugehen.

Jnbezng aus das Sinken der Arbeits- und Leistungsfähigkeit weist Professor Ssikorsli darauf hin, daß der sogen. Arbeitsinstinkt schwindet und daß auch hierbei die Hauptrolle der Branntwein spielt.

Vor einigen Wochen ist sämtlichen Gliedern des Reichsrats eine Denkschrift in Sachen des Kampfes mit der Trunksucht zugegangen.

(18)

— 19 -

Der Verfasser dieser Schrift ist das Reichsratsmitglied Wirkt. Geheim­

rat W. P. Tfch erew anfki, ehemaliger Gehilfe des Reichskontrolleurs.

In dieser Deutschrift wird darauf hingewiesen, daß das Prinzip, ans dem Branntweinkonsum eine ergiebige Staatseinnahmequelle zu schaffe«, in Rußland schon vor vielen Jahrhunderten Boden gefaßt hat. Schon unter Johann III. nahm es die Moskauer Regierung auf sich, Krüge (nop^i-i) zu errichten und mit diesen Krügen auch die Geistlichkeit uud treue Dieuer zu belohueu. Die Trunksucht nahm so überhand, daß die Regierung sich veranlaßt sah, den Moskowitern das Triukeu vou Branntwein nur am Sonntag zu gestatten.

Unter Johann dem Schrecklichen (übrigens eine falsche Übersetzung des Wortes „grofuy" ius Deutsche) wurden die Krüge durch Brannt- weiuschenken (Möllen) ersetzt. Besitzer dieser Schenken waren Bo­

jaren und die Geistlichkeit. Zar Feodor Joanowitsch und Zar Boris ordneten an, die zarischen Branntweinschenken in Moskau und Now­

gorod zu schließen.

Dann kam die Brauntweinpacht (der „O'MMlz") und die Ein­

nahmen des Fiskus stiegen immer schneller, bis sie in den Jahren 1862—1869 schon gegen 40A aller Staatseinnahmen betrugen; die Zahl der Branntweinpächter bezifferte sich auf 200. Es folgte die Branntweinakzise und im Jahre 1895 das Branntweinmonopol. Welch ergiebige, immer steigende Einnahmequelle der Branntweinkonsum bildet, habe ich bereits zu Beginn meines Vortrages nachgewiesen.

Von Interesse ist in der von mir zitierten Denkschrift ferner folgende Aufstellung. Tscherewanski teilt die 160 Millionen Bewohner R u ß l a n d s i n t r i n k e n d e u n d u i c h t t r i n k e n d e . Z u d e n n i c h t t r i n ­ kenden zählt er folgende Bewohner Rußlands:

I. 90A der weiblichen Bevölkerung sämtlicher

christlichen Konfessionen — 42 Mill. Köpfe II. Die ganze weibliche Bevölkerung moham­

medanischen Glaubens — 8 „ „

III. 90A der männlichen mohammedanischen Be­

völkerung — 7 „ „

IV. Die ganze weibliche jüdische Bevölkerung . — 3 „ „ V. 30Z der männlichen jüdischen Bevölkerung — 2 „ „ VI. 75A der Altgläubigeu und Sektierer . . — 6 „ „

Summa 68 Mill. Köpfe

(19)

- 20 —

Der trinkende Teil der Bevölkerung Rußlands beträgt also 92 Millionen Köpfe. Nimmt man den Konsum des Branntweins (Mo­

nopolgebiet 87 Mill. Wedro, Akzisegebiet 10 Mill., Sibirien 10 Mill.) mit rund 100 Mill. Wedro an, so kommt auf den Kopf mehr als ein Wedro Branntwein nnd nicht 0,21 Wedro, wie die englische Handelsstatistik berechnet.

Dieses Quantum Branntwein ist schon an und sür sich kein nied­

riges. Die unheilvolle Wirkung wird aber dadurch noch erhöht, daß der Branntwein von einer schlecht genährten, physisch nicht wider­

standsfähigen und zum Teil syphilitisch kranken Bevölkerung konsu­

miert wird.

Daß der Branntweinkonsum mit dem Wachstum der Bevölkerung steigen muß, ist eine normale Erscheinung. Bei uns steht das Wachs­

tum des Konsums aber in keinem Verhältnis zum Wachstum der Be­

völkerung, und dieser Mißbrauch des Brauutweinkonsnms führt bei uns einen großen Teil der Bevölkerung zu wirtschaftlichem Niedergang, zu sittlichem Versall, und droht mit immer größerer Zunahme degene­

rativer Erscheinungen.

Wie Tscherewauski durchaus richtig bemerkt, erfordert die Fest­

stellung des Faktums, daß wir es mit einem wirtschaftlichen Nieder­

gang unserer Landbevölkerung zu tun haben, keine besondere Mühe, und es kann uns darüber nicht der Umstand hinwegtäuschen, daß die Höhe der Einlagen in den Sparkassen l'/s Milliarden Rbl. beträgt.

Man halte dem nur gegenüber die überaus traurigen Zustände in den der Trunksucht verfallenen Dörfern. Und solcher Dörfer gibt es leider ungeheuer viele.

Der Zerfall der Familie ist eine längst konstatierte Tatsache, und auch hier spielt der Branntwein eine große Rolle. Elternmorde und blutschänderische unnatürliche Verhältnisse zwischen Vater und Tochter, Bruder und Schwester, entspringen sast immer dem Rausche.

Wie das Verbrechertum auf dem flachen Lande wächst, kann jeder Landbewohner bezeugen. Es gibt Gegenden, wo der Bauer das Be­

treten der Straße im eigenen Dorfe fürchtet. Ein finsterer Geist hat das russische Dorf ergriffen, und zu nicht geringem Teil trägt auch hieran der Trunk die Schuld.

Ich komme zum Schluß. Ich hoffe, daß es mir gelungen ist, den Beweis zu liefern, daß wir nicht vor einer nur eingebildeten,

(20)

— 21 -

sondern vor einer wirklichen Gefahr stehen. Einem großen Volk, reich veranlagt, hochbegabt, mit großer natürlicher Intelligenz ausgestattet, droht die schwerste Gefahr, wenn es sich selbst nicht Halt gebietet, Pflicht der Regierung, Pflicht der Gesellschaft, unser aller Pflicht ist es, dem Volke zu helfen, seiner krankhaften Neigung, seiner Schwäche Herr zu werden, es vor Versuchung zu schützen. Vor allem sollen wir, die Gesellschaft, die Intelligenz, ihm ein Beispiel geben. Vor allem sollen wir bereit sein, der „Ernüchterung" unseres Bauern­

standes, unserer Fabrikarbeiterschaft materielle Opfer zu bringen, aus gewisse materielle Vorteile zu verzichten. Wir sollen

„ehrlich" und „aufrichtig" vorgehen. Der Weg, den wir zu be­

schreiten haben, ist uns bereits vorgezeichnet. Wir brauchen ihn nicht zu suchen. Ihn haben bereits andere Staaten, andere Länder beschritten und große Ersolge damit erreicht. Uns bleibt nur übrig, dasselbe zu tun.

stielen uncl OiskMoil.

T h e s e n .

1) Die Trunksucht in Rußland droht dem russischen Volke mit Verfall seiner wirtschaftlichen, sittlichen und physischen Kräfte. Der Kampf mit der Trunksucht muß daher allem zuvor vom Staate selbst als Staatsaufgabe anerkannt werden.

2) Auf einen Erfolg im Kampfe mit dieser das staatliche Leben Rußlands bedrohenden Erscheinung kann nur dann gerechnet werden, wenn die Regierung, die Kommunen und die Gesellschaft gleich­

zeitig ernstlich und aufrichtig in den Kampf treten.

3) In diesem Kampfe muß vom Gesetzgeber und der Regierung den Kommunalverwaltungen, den landschaftlichen Institutionen (Semstwa), den Landgemeinden, sowie der gesellschaftlichen und pri­

vaten Initiative ein weiter Spielraum gelassen werden.

4) Im Kampfe mit dem Trunk sind in Rußland dieselben Wege zu beschreiten und dieselben Mittel anzuwenden, die von anderen Nationen und in andern Kulturländern, z. B. Norwegen, Schweden, Dänemark, Finnland, mit Erfolg beschritten und angewandt worden sind.

5) Im einzelnen dürste es sich empfehlen, folgende Maßregeln zu ergreifen:

(21)

— 22 —

a.) das vom Staate alljährlich auf den Markt geworfene Quan­

tum Branntwein müßte gesetzlich normiert und allmählich ver­

ringert werden;

d) der Alkoholgehalt im Monopolschnaps müßte allmählich herab­

gesetzt werden;

e) den städtischen Kommunen und deu Landgemeinden müßte das Recht gewährt werden, den Btanntweinverkaus zeitlich und örtlich zu beschränken oder ganz aufzuheben;

ch ein Gesetz müßte erlassen werden, durch welches dem Gericht das Recht gewährt würde, uotorischeu Trunkenbolden gewisse Rechte über die Familie und Dispositiousrechte über das Vermögen zu nehmen;

S) ein zweites Gesetz müßte den städtischen, ständischen und Land­

gemeindell das Recht gewähren, notorische Trunkenbolde (Säufer) in zu errichtende Zwangsarbeitshäuser unterzubringen;

5) die Strafen für Verletzung der Verordnungen über den Ge­

tränkeverkauf müßten verschärft und neue Strafbestimmungen für das Erscheinen in truukenem Znstande auf Straßen und an öffentlichen Orten erlassen werden;

g) in sämtlichen Schulen des Reiches müßte ein besonderes Lehr­

fach geschaffen werden, das alles zu umfassen hätte, was mit dem Alkohol zusammenhängt; der Umfang dieses Unterrichtes würde natürlich stets in Abhängigkeit zu bringen sein vom Alter und dem Verständnis des Schülers und der Bildung des Lehrers;

k) jede in der Jugend auftretende Antialkoholbewegnng müßte von der Schulobrigkeit und den Eltern gefördert werden;

i) die bereits bestehenden oder noch zu gründenden Nüchtern- heits- und Mäßigkeitsvereine müßten vor allem durch billige uud populär gehaltene Schriften und Vorträge zu wirken suchen;

k) im Hause hätte die Frau den Kamps mit den Trinksitten zu beginnen;

I) von ungeheurer Bedeutung für den Kampf mit der Trunksucht ist in erster Reihe die Stellung der ärztlichen Welt zur Alko­

holsrage, in zweiter — die Stellungnahme der Geistlichkeit.

(22)

— 23 —

D i s k u s s i o n .

Die Diskussion trug einen ungewöhnlich lebhaften Charakter, und erbrachte somit den besten Beweis für das allgemeine, starke Interesse, das dem Vortrag entgegengebracht wurde. Bei der Durch­

sprechung der einzelnen Thesen ergab sich folgendes Bild.

T h e s e 1 . D e r V o r t r a g e n d e b e m e r k t h i e r z u , d a ß d i e B e t r a c h t u n g d e s K a m p f e s g e g e n d i e T r u n k s u c h t a l s e i n e S t a a t s a u f ­ gabe sich iu Ländern wie Norwegen, Schweden, Dänemark und Finnland bereits durchgerungen hat, und nun auch in Rußland be­

ginnt, sich Bahn zu brechen. Dank den Bemühungen von Reichsrat und Reichsduma erfolgte die Anerkennung des Prinzips in einer Denkschrift des Finanzministeriums und führten erneute Bestrebungen auf diesem Gebiete zu einem Gesetzprojekt auf Grund eigener Initia­

tive der Regierung. Nach diesem Projekt sotten die bei Einführung des Monopols eingesetzten Mäßigkeitskuratorien nicht mehr dem Finanz­

ministerium, sondern dem Ministerium des Innern unterstellt sein, desgleichen soll auch der Kamps gegen die Trunksucht den Landschaften und Kommunen übergeben werden, denen zu diesem Zweck größere Mittel zur Verfügung gestellt werden. Bei uns wäre dem Staat, als dem Besitzer des Monopols, der Kampf gegen den Alkoholismus besonders leicht gemacht; ein schroffer Interessengegensatz entstehe nur dort, wo sehr viel Privatkapital an der Branntweinproduktion be­

teiligt sei.

T h e s e 2 . D i e W i r k u n g s s p h ä r e v o n S t a a t , K o m m u n e und Gesellschaft wäre nach folgenden Gesichtspunkten zu begrenzen : a. Der Staat solle vornehmlich auf dem Wege der Gesetzgebung kämpfen, sodann durch Bewilligung von Mitteln und durch Einfluß aus das Unterrichtswesen, b. Die Kommune könne der Regierung die nötigen statistischen Daten schaffen, könne die Zahl der Getränke­

anstalten sowie die Handelszeit beschränken, o. Die Gesellschaft wirke am besten durch Vereiustätigkeit, Propaganda und ausklärende Vor­

träge. Auch die besten Gesetze würden nichts ausrichten, wo die Gesellschaft nicht ernstlich mitarbeitet; in jedem Falle werde aber nur dann ein Resultat zu erzielen sein, wenn die drei genannten Faktoren gemeinsam und aufrichtig gegen diese Gefahr zu Felde ziehen.

Mau müsse sich auch darüber klar fem, daß der Kampf uur mit

(23)

— 24 —

gewissen Opfern Aussicht auf Erfolg habe. Geschildert werden die abschreckenden Szenen, die sich vor vielen Trinklokalen in Riga be­

ständig abspielen, und der Wunsch ausgesprochen, die Stadt möge all diesem schweren Unwesen, soweit es irgend in ihrer Macht steht, zu steuern suchen.

Dagegen wird betont, daß der Kommune gegenwärtig die Hände sehr gebunden sind. Die drei Hauptkategorien von Getränkehand­

lungen — 1) Restaurants, 2) Bierbuden mit Ausreichung warmer Speisen und 3) Bierbuden mit kaltem Essen — würden sämtlich von den Regierungsorganen konzessioniert; nur bei der drittgenannten Kategorie gebe die Stadt ein Gutachten ab, an welches aber die Re­

gierungskonzession nicht gebunden sei. Durch Ortsstatute könne nur die innere Einrichtung dieser Lokale geregelt werden.

T h e s e 3 . D i e h i e r a u s g e s p r o c h e n e F o r d e r u n g e i n e r E r w e i ­ t e r u n g d e s S p i e l r a u m e s f ü r d i e I n i t i a t i v e d e r K o m m u ­ nalverwaltungen, Semstwa und Landgemeinden im Kampf gegen den Alkoholismus, wird im allgemeinen als richtig anerkannt. Nur könne das in anderen Staaten übliche „Gemeindebestimmungsrecht", nach welchem es den Gemeinden freisteht, durch Majoritätsbeschlüsse den Alkoholhandel innerhalb ihres Territoriums zu untersagen, bei uns erst dann in Anwendung kommen, wenn eine Umstimmung im Publikum eingetreten ist.

T h e s e 4 . Ü b e r d e n b e i d e r B e k ä m p f u n g d e r T r u n k s u c h t i n Rußland einzuschlagenden Weg gehen die Meinungen auseinander.

Einerseits wird auf völlige Prohibition, als auf den einzig möglichen Weg zum Ziele hingewiesen. In Norwegen sei der Branntweinhandel in 29 (von 63) Städten vollständig verboten. Ehristiania (mit 230,000 Einwohnern) besitzt nur 14 offeue Stellen sür den Brannt­

weinhandel, außerdem noch 29 Hotels und Restaurants. Bergen (mit 80,000 Einwohnern) hat keine einzige offene Stelle, nur 6 Hotels und Restaurants. Norwegen, das in den 40 er Jahren des XIX.

Jahrhunderts für eins der unsichersten Touristenländer galt, gehört heute dank diesen Umwälzungen auf dem Gebiete der Alkoholbekämpfung zu den sichersten Ländern sür den Reisenden.

Wo ein rigoroses Verbot des Branntweinhandels besteht, da öffne sich sofort dem Geheimhandel ein weites Feld. Gegen diesen sei es sehr schwer anzukämpfen. Das Publikum sei hier der Gefahr einer

(24)

— 25 —

Verfälschung des Alkohols, sowie einer starken Preissteigerung von seiten der Geheimhändler ausgesetzt. Würde der Alkoholverkauf in Volksgärten (z. B. im Griesenpark) völlig verboten werden, so würden ambulante Händler auftreten, wie das schon jetzt im Kaiserwald, wo die Eröffnung von Restaurationen nicht gestattet wird, eine häufig zu beobachtende Erscheinung sei. Dem wird aber mit allem Nachdruck das bestehende Verbot jeglichen derartigen Spirituosenhandels ent­

gegengehalten und auch darauf hingewiesen, daß der Geheimhandel immer das Gespenst sei, mit welchem man schreckt. Werde er doch auch in konzessionierten Lokalen (in welchen nur der Schnapsverkauf verboten ist) getrieben. Wo überhaupt weniger Schankstellen existieren, werde das Volk weniger in diese hineingedrängt, und auch der Ge­

heimhandel beschränke sich nur auf wenige Personen. Es gebe über­

haupt kein Gesetz, das nicht umgangen würde. Man müsse sich eben bemühen zu veranlassen, daß das Gesetz eingehalten wird.

Allerdings würde der russische Bauer auf seiner jetzigen Kultur­

stufe kaum für eine gewissenhafte Einhaltung eines solchen Gesetzes zu gewinnen sein. Die Reform sei vornehmlich durch eine Hebung der Volksbildung anzubahnen. Hiergegen wird eingewandt, daß auch in Ländern mit hoher Kultur, wie z. B. in Deutschland, die Trunksucht in starkem Maße vorhanden sei. Hier habe erst in den letzten Jahren, neuerdings sehr befördert durch das energische Vor­

gehen Kaiser Wilhelm II., in den obersten Schichten der Bevölkerung, besonders in der Armee und Flotte, eine starke Bewegung gegen den Alkoholismus eingesetzt. Die niedrige Bildungsstufe des russischen Volkes sei an und für sich noch kein Hindernis, habe doch diese Re­

form in Finnland bereits im Jahre 1811 begonnen, als die dortige Bevölkerung auf einem wenig höheren Bildungsniveau stand, als die jetzige russische. Frankreich, mit hoher Kultur, weist den höchsten Alkoholkonsum pro Kops der Bevölkerung auf; das nur schwach kul­

tivierte Island sei völlig abstinent. Die Universitäten, als die höchsten Pflegestätten der Bildung, seien zugleich die eifrigsten Pflegestätten der verderblichen Trinksitte.

T h e s e 5 . A u c h b e i d e r B e s p r e c h u n g d e r h i e r i m b e s o n d e r e n empfohlenen Maßregeln gegen die Trunksuchtsgefahr zeigen sich im Verlaufe der Diskussion Meinungsverschiedenheiten.

(25)

— 26 —

Was die Herabsetzung des Alkoholgehalts im Monopol­

schnaps (Punkt d) anbetrifft, so wird bemerkt, daß eine solche kaum von praktischem Nutzen wäre. Der Konsum würde sich dann eben nach dem Prozentsatz an Alkohol regeln, und die Leute trotzdem ihr gewohntes Quantum von Alkohol zu sich nehmen. Besonders der russische Bauer trinke hauptsächlich „ei, i'Opn", um alles zu vergessen.

Daher verspreche man sich nicht zuviel von dieser Maßnahme. Nur dann, wenn das vom Staat alljährlich auf den Markt geworfene Quantum Branntwein allmählich verringert würde (Punkt a), könne auch Punkt d mit Erfolg in Kraft treten.

I n Betreff der zeitlichen nnd örtlichen Beschränkung des Branntweinhandels wird wieder aus die dadurch erhöhte Gefahr des Gehtzimhandels hingewiesen. Andrerseits sei es für die westeuropäischen Staaten eine statistisch erhärtete Tatsache, daß die Schließung der Getränkeanstalten am Sonnabend, vor der Lohn­

zahlung, sowie auch an Sonn- und Feiertagen, sehr wohltätig wirke.

Die Statistik der Unfälle und Verbrechen habe längst den unmittel­

baren Zusammenhang zwischen diesen und dem Offenhandel mit geistigen Getränken festgestellt. Lokale Beschränkungen des Spirituosen­

handels, wie etwa Verbotrayons, würden desto mehr solcher Handlungen an den Grenzen dieser Rayons entstehen lassen, wenn nicht wieder ihre Gesamtzahl innerhalb einer Gemeinde fest normiert wäre.

Die Punkte ä und e betreffend Gesetzerlasse gegen noto­

rische Trunkenbolde erhalten allgemeine Zustimmung. Das Recht, sich von seiner Frau ernähren zu lassen, müsse dem Trinker genommen werden. Entmündigte Trunkenbolde müßten der Fürsorge von Ver­

einen überlassen werden, gemeingefährliche aber gehörten in Asyle.

Bei der großen Masse von Trinkern (in Deutschland entstünden jährlich etwa 30,000 Trinker) wäre es natürlich ein Unding, Anstalten für alle eröffnen zu wollen. Man solle nur die schlimmsten auswählen, und sie, zum abschreckenden Beispiel für die anderen, in Anstalten unterbringen; dadurch würde zugleich den Familien der Trinker ein wirksamer Schutz gegen das durch diese verursachte Unheil erwachsen.

Die geäußerte Ansicht, als ob es im Interesse der Gesellschaft läge, die Trinker als degenerierte Individuen einfach umkommen zu lassen, wird von Kennern der Trinkerpsychologie und Trinkerfürsorge als ebenso irrig wie brutal mit aller Energie zurückgewiesen. Die

(26)

— 27 —

Trunksucht entstehe in der Mehrzahl der Fälle nicht auf Grund ererbter degenerativer Anlage (die übrigens ihrerseits wiederum viel­

fach auf väterlichen Alkoholismus zurückgehe), sondern unter dem ver­

führerischen Einfluß der Trinksitte.

Auch gegen den Punkt k — Strafen für Verletzungen der Verordnungen über den Getränkeverkauf — erheben sich keinerlei Einwände. Außerdem sollten die Strafen für die Schank­

wirte, welche Minderjährigen oder Betrunkenen Getränke verabreichen, bedeutend verschärft werden. Vor allem aber müßten die Aufsichts­

organe angehalten werden, ihre Pflicht zu tun. Wer zum Hüter bestimmt ist, müsse bestraft werden, wenn er nicht bestraft.

Punkt k, der Kamps gegen' die Trinksitten, findet all­

seitige Billigung. Das Anstoßen auf das Wohl anderer mit einem Gift, dem Alkohol, sei eine schlimme Unsitte. Auch solle man den nicht mehr als Held ansehen, der viel vertragen könne.

Infolge der vorgerückten Stunde findet die Diskussion hier ihren Abschluß, ohne näheres Eingehen aus die übrigen Punkte der These 5.

Zusammenfassend erklärte der Vortragende noch einmal, daß auf a l l e n W e g e n g l e i c h z e i t i g v o r g e g a n g e n w e r d e n m ü s s e , a u f r i c h t i g s e i t e n s S t a a t u n d K o m m u n e , e r n s t l i c h v o n s e i t e n d e r G e s e l l ­ schaft. Bisher sei man nicht aufrichtig vorgegangen. Ein unver­

mitteltes radikales Alkoholverbot könnte für gewisse Produktionszweige kritische Folgen haben, doch sei ein solches, wenn es ohne Überstürzung gehandhabt wird, als Ziel stets im Auge zu behalten. Auch könne die Regierung nicht mit einem Schlage auf diese Einnahmequelle ver­

zichten, sondern müsse versuchen, sie allmählich zu verringern und neue Quellen auf gesunderer Basis zu schaffen. In Zukunft wird man auf große Erträge z. B. von dem Eisenbahnverkehr rechnen können. Gesetze gegen die Trunksucht müßten erlassen werden und die Gesellschaft müßte darauf sehen, daß Übertretungen geahndet werden.

D> uck von W, F, Häckcr in Riga. 1913.

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