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Archiv "Herausforderung durch die Laienmedizin: Stachel im Fleisch" (03.09.1982)

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Spektrum der Woche Aufsätze •Notizen

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Heft 35 vom 3. September 1982

Herausforderung durch die Laienmedizin

Stachel im Fleisch

Nützt ein Bündnis von „Profisystem" und „Laiensystem"

der Medizin?

Das Signet der „Gesundheitstage" er- läutert anschaulich die Absicht, unbe- kümmert das herkömmliche System aufzubrechen. Lassen sich dennoch Teile der Alternativen langfristig in die medizinische Versorgung integrieren?

Wer Sinn für die „Szene" hat, stößt allenthalben, vor allem in Berlin und anderen Großstädten, auf jene schillernde medizinische Subkultur: eine Bewegung für Selbstbehandlung, sanfte Medi- zin, Medizin von Frauen für Frau- en, von Aussteigern für Ausstei- ger, angeboten über Gesundheits- läden, alternative Gruppierun- gen und lässig gemachte Zeit- schriften.

Eine Medizin ohne Ärzte, oder wenn mit Ärzten, dann solchen, die vom „Medizinbetrieb" nichts halten. Eine Laienmedizin unter- halb (oder außerhalb) des etablier- ten Systems der medizinischen Versorgung, leichthin als links be- zeichnet, obwohl sie in die ge- wohnten politischen Kästchen nicht einzuordnen ist.

Das Sortieren machte schon beim ersten „Gesundheitstag", 1980 in Berlin, Schwierigkeiten; der war zu einem Teil zwar politisch links besetzt, zum großen Teil aber eine bunte Wiese für alles Alterna- tive.

Der zweite „Gesundheitstag", ein Jahr später in Hamburg, offenbar- te noch weit mehr, daß es Initiato- ren und Teilnehmern kaum um ei- ne offensive politische Auseinan- dersetzung mit dem „System" zu tun war, sondern eher um einen Rückzug auf alternative, oft laien- medizinische Aktivitäten.

Was die „Startbahn West"

mit dem „Medizinbetrieb"

verbindet

Die Laienmedizin, wie sie sich auf Gesundheitstagen und in Gesund- heitsläden zeigt, gehört zu der um sich greifenden Protestbewegung, deren Blüten an vielen Stellen sprießen. Auf einer wissenschaftli- chen Tagung (dem zweiten „Köl- ner Kolloquium") wurde die nur vermeintlich provokative These vertreten, „daß den Protestbewe- gungen um den Frankfurter Flug- hafen, den Friedensmärschen und der laienmedizinischen Bewegung deshalb gesellschaftliche Proble- me zugrunde liegen". Prof. Dr.

Alexander Schuller (Berlin) be- gründete: „Die Gesellschafts- struktur der Bundesrepublik Deutschland wird heute durch die Laienbewegung radikal in Frage gestellt. Populistische Organisa- tionen und Partikularinteressen werden nicht mehr durch gewach- sene und legitimierte politische In- stitutionen aufgefangen und in Politik umgesetzt, sondern richten sich direkt und zum Teil mit blan- quistischen Aktionen an und ge- gen den Staat. Diese Bewegungen artikulieren sich vorerst eklek- tisch, wenn auch immer politisch, so zum Beispiel in Fragen der Energieversorgung (Anti-Atom- kraft-Bewegung), der Abrüstung (Marsch auf Bonn), der Woh- nungspolitik (Hausbesetzungen), der Verkehrspolitik (Startbahn

Ausgabe B DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 79. Jahrgang Heft 35 vom 3. September 1982 63

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Ordnungspolitischer Gesprächskreis

Das „Kölner Kolloquium" ist ein interdisziplinär zusammen- gesetzter Gesprächskreis. Es geht auf Initiativen von Prof. Dr.

Philipp Herder-Dorneich (For- schungsinstitut für Einkom- menspolitik an der Universität Köln) und Prof. Alexander Schuller (Institut für Sozialme- dizin an der FU Berlin) zurück und wird vom Bundesverband der Deutschen Zahnärzte e. V.

und der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung gespon- sert. Die Förderung durch die Zahnärzte ist um so bemer- kenswerter, als das „Kölner Kolloquium" keineswegs spezi- fisch zahnärztliche Probleme aufgreift. Der Gesprächskreis beschäftigt sich vielmehr

grundsätzlich mit dem Gesund- heitswesen als einem Objekt gesellschaftlicher Verände- rungsversuche. Die wissen- schaftliche Behandlung der Thematik ist, das legen schon die Initiatoren nahe, eindeutig ordnungspolitisch orientiert.

Die beiden bisher stattgehab- ten Kolloquien waren fachlich sehr gut besetzt. Die Themen:

„Von der Vorsorge zum Versor- gungsstaat — Prävention und die Grenzen der Planbarkeit"

(am 29. und 30. Januar 1981) sowie „Spontaneität oder Ord- nung — Laienmedizin als Sy- stemveränderung?" (am 26.

und 27. November 1981).

Der Berichtsband über das er- ste Kolloquium ist soeben er- schienen, der über das zweite kommt in Kürze heraus.

Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Laienmedizin

West) und — historisch bahnbre- chend — der Bildungspolitik (Stu- dentenbewegung)."

Es wäre allerdings falsch, Laien- medizin mit einer aus der Protest- bewegung entstandenen Alterna- tivmedizin einfach gleichzusetzen.

Die „Protestmedizin" ist nur eine besonders augenfällige Variante.

Laienmedizin umfaßt indes mehr:

Selbstmedikation im herkömmli- chen Sinn, Selbsthilfegruppen neuer Art (etwa die Frauen-Krebs- Gruppen) und alter Art (zum Bei- spiel Anonyme Alkoholiker) und, oft vergessen, aber dennoch exi- stent, die familiäre Hilfe — alles in allem ein großer Kreis, der auch Politiker mit Sinn für gesellschaft- liche Bewegungen zu interessie- ren beginnt. Der Berliner Gesund- heitssenator Ulf Fink beschäftigt die Gesundheitsministerkonfe- renz, deren Vorsitzender er zur Zeit ist, in diesen Wochen damit.

Fink schätzt, daß zwischen 70 000 und 100 000 Bürger in diesem Be- reich tätig sind. Er denkt dabei vornehmlich an die Selbst-

hilfegruppen, die ja nur ein Teil,

wenn auch ein wesentlicher, der Laienbewegung sind. Der Medi- zin-Soziologe Prof. Dr. Christian von Ferber (Düsseldorf) schätzt, daß 3 bis 4 Prozent der Bevölke- rung zur Laienbewegung im wei- ten Sinne zu rechnen sind.

Das Potential dürfte sogar noch größer sein. Darauf läßt das erheb- liche Interesse an der Selbstmedi- kation schließen. In einer Marke- ting-Untersuchung (der „Brigitte"- Frauen-Typologie 5 aus dem Jahre 1981) werden rund 19 Prozent der Frauen dem „Selbstmedikations- typ" zugerechnet. Dieser Typ ver- meide den Arztbesuch, definiert die „Brigitte-Typologie"; er fühle sich durch Zeitschriften, eigene Erfahrungen oder den Apotheker hinreichend informiert, um selbst das richtige rezeptfreie Medika- ment zu bestimmen.

Warum der „Medizinbetrieb"

zur Laienmedizin provoziert Die Laienbewegung ist zum Teil von der praktizierten Medizin, dem

sogenannten Medizinbetrieb, mit verursacht worden. Der Kölner So- zialwissenschaftler Prof. Dr. Phil- ipp Herder-Dorneich sieht in der zunehmenden Bürokratisierung des Medizinbetriebes eine wesent- liche Ursache. Alternativen müß- ten da notwendigerweise entste- hen. Oder von Ferber: Laienmedi- zin komme eine „Ventilfunktion"

zu. Ähnlich der Konstanzer Medi- zinsoziologe Prof. Dr. Horst Baier sowie Alexander Schuller: mit der Laienmedizin werde, wie über- haupt in der „großangelegten Laienbewegung" (Baier), der Aus- bruch aus einem festgefügten Rahmen versucht. Der Ausbruch aus dem Rahmen der Medizin und allgemein der herrschenden Ord- nung hat politisches Gewicht, selbst die „Alternativen", die sich bewußt „unpolitisch" geben, han- deln somit tatsächlich politisch.

Über politische Konsequenzen, die aus der Laienbewegung für die Medizin gezogen werden müssen, dachten die Sozialwissenschaftler des „Kölner Kolloquiums" tief nach, ohne freilich zu einem end- gültigen Ergebnis zu kommen. Die Medizin sei im Augenblick aus zwei Richtungen bedroht, erklärte Herder-Dorneich: von oben, von der auf egalitäre medizinische Dienstleistungen erpichten Staats- bürokratie; von unten, von der ba- sisdemokratischen, hier laienme- dizinischen Bewegung. Beide, ob- wohl einander gegengesetzt, könnten zu Partnern werden, de- ren gemeinsames Opfer die Medi- zin in der gegenwärtigen Form werden könne. Herder-Dorneich plädierte dafür, einem solchen Bündnis entgegenzuwirken und die Laienbewegung zu integrie- ren. Eine Förderung der Laienme- dizin liege geradezu im Interesse der Medizin, denn:

In der Zwickmühle zwischen stei- genden Kosten und der gesamt- staatlichen Unfähigkeit, diese Ko- sten zu finanzieren, werde der Ärz- teschaft schnell die Rolle des Sün- denbocks zugeschoben. Laienme- dizin könne Entlastungsfunktio- nen übernehmen und Aufgaben,

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Laienmedizin

die sinnvollerweise nicht in die Medizin gehörten (aber vom Ge- setzgeber dennoch der Kranken- versicherung untergeschoben wurden), übernehmen und somit den Druck auf die Medizin redu- zieren.

Herder-Dorneich: „Eine Umvertei- lung und Umdefinition von Aufga- ben, wie sie die Laienmedizin ten- denziell ermöglicht, könnte eine wesentliche Entlastung des Ko- stendrucks im Gesundheitswesen bedeuten."

Der Verlust an Patientennähe ließe sich idealerweise an den mit Medi- zin beschäftigten Laiengruppen wiederherstellen. Laiengruppen richteten, wenn auch oft unspezi- fisch, geradezu ein Angebot an die Medizin. Dieses gelte es zielbe- wußt aufzugreifen. Namentlich das Problem der neuen chroni- schen Krankheiten, die in zuneh- mender Weise das Morbiditäts- spektrum in unserer Gesellschaft bestimmten, ließe sich am ehesten gemeinsam mit Laiengruppen er- folgreich angehen. Damit werde, so Herder-Dorneich, auch manche Kritik an der Medizin gegen- standslos.

Von den Schwierigkeiten,

„Laienmedizin" zu klassifizieren Die Laienmedizin und vor allem die Selbsthilfegruppen sind zwar nicht mehr zu übersehen, sie ha- ben sich gar als Subkultur schon verfestigt, mit eigenen Zugehörig- keitsritualen, einer eigenen Spra- che, Wissenschaftler und neuer- dings Politiker haben sie entdeckt

— doch, zum Leidwesen jedes ech- ten Wissenschaftlers, sie ist bisher weder zufriedenstellend definiert, noch konnte die verwirrende Viel- falt klassifiziert werden. Die beim Kölner Kolloquium vertretenen Wissenschaftler versuchten sich dem Problem immerhin zu nähern.

Zum Beispiel so:

Baiers Unterscheidungsversuch der Selbsthilfegruppen umfaßt vier Gruppen:

> Autonome Gruppen; das sind solche, die dem geltenden System nicht aggressiv gegenüberstehen, sondern neben ihm existieren (et- wa die Anonymen Alkoholiker).

> Alternative Gruppen; das sind solche, die mehr oder weniger be- wußt eine „andere Medizin" als die Schulmedizin betreiben (zum Beispiel die unter Gastarbeitern verbreiteten „Medizinen" — „Tür- kenmedizin" —, aber auch tradi- tionelle nicht-schulmedizinische Heilweisen).

> Präventivmedizinische Grup- pen (zum Beispiel Rauchgegner, Übergewichtige, Gruppen, die sich mit der Rehabilitation chro- nisch Kranker beschäftigen).

> lsolative Gruppen (darunter versteht Baier solche, in denen sich Patienten mit stigmatisierten Krankheiten, etwa Drogenabhän- gige, zusammenfinden).

Von Ferber unterscheidet schlicht in Selbsthilfegruppen von Betrof- fenen und Gruppen, die für andere tätig sind.

Herder-Dorneich hält es immerhin für möglich vorauszusagen, wel- che Gruppen letztlich erfolgreich sein werden: Eine erfolgreiche Selbsthilfegruppe sei gekenn- zeichnet durch ein eindeutiges In- teresse und abgegrenztes Aufga- bengebiet (single issue), sei eine kleine Gruppe oder eine Klientel- Gruppe (also eine, die maßgeblich von einem Führer bestimmt sei), beuge sich letzten Endes — um sich zu stabilisieren — auch organi- satorischen Maßnahmen. Die Schwierigkeit, dem Phänomen beizukommen, zeigt aber auch Baiers Bemerkung, heute sei jeder Gliederungsversuch noch vorläu- fig, in der Laienmedizin sei alles im Fluß. Er ist auch skeptisch ge- genüber der Idee Herder-Dorn- eichs, die Gruppen zu integrieren.

Nicht aus Prinzip, sondern weil man noch keine Ratschläge geben könne, wie diese Gruppen von der eingeführten Medizin aufgenom- men werden könnten.

Von Ferber hält Versuche, die Laienbewegung zu vereinnahmen, für nicht aussichtsreich. Er er- kennt allerdings die Gefahr, daß sie politisch und ökonomisch von außen vereinnahmt werden, ohne es zu wollen. Die Laienbewegung werde dann über kurz oder lang keine Laienbewegung mehr sein.

Am ehesten läuft noch die Kooperation vor Ort

Von Ferber schlägt — um den fri- schen Schwung der Laienmedizin zu erhalten und sie doch für das medizinische System zu nutzen — eine relativ bescheidene Lösung vor: die Kooperation vor Ort, die Zusammenarbeit der Bereiche:

(Kassen-)Praxis, Krankenhaus und Laiensystem (Ansätze dazu sieht er in der Münchener Perinatal-Stu- die oder bei gewissen Krebs-Nach- sorgegruppen), eine vorsichtige Beratung in organisatorischen Fragen, eine Informationsbörse, mit deren Hilfe Gruppen und po- tentielle Mitglieder zusammenge- bracht werden können. Alles sol- le möglichst locker und zwang- los, informell und basisnah ge- schehen.

Ein Teil der Laienmedizin wird sich indes selbst gegen derart vor- sichtige Versuche wehren, er wird erst recht in einer „überlegt ange- legten Kooperation zwischen Me- dizin und Laiengruppen" (Herder- Dorneich) Verrat wittern. Das ist ein harter Kern, der nicht zu knak- ken ist. Doch ist die Laienbewe- gung vielfältig genug, auch solche Gruppen zu kennen, die an sich gerne bereit wären, mit der her- kömmlichen Medizin zusammen- zuarbeiten (von der aber bisher nicht anerkannt werden!), oder solche, die sogar einer professio- nellen Betreuung bedürfen.

Von jenen Vertretern des Medizin- betriebes, die Herder-Dorneichs Anregung aufgreifen wollen, die Laienbewegung zielbewußt zu nutzen, wird also Unterschei- dungsvermögen und Fingerspit- zengefühl erwartet.

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Laienmedizin

Ein Blick in die Geschichte zeigt im übrigen, daß die Laienmedizin keineswegs eine neue Erschei- nung ist. Der Medizinhistoriker Prof. Dr. Heinrich Schipperges (Heidelberg) erinnert daran, daß die Ausweitung des professionel- len Systems auf nahezu die ge- samte Bevölkerung in der Ge- schichte ein Ausnahmefall ist. Die untere und mittlere Ebene der Ge- sellschaft sei bis vor gar nicht lan- ger Zeit von Laienmedizin be- stimmt gewesen.

Erinnern wir schließlich daran, daß die Vorläufer unserer heuti- gen Krankenkassen ursprünglich Selbsthilfegruppen der Arbeiter- schaft gewesen sind. Bei ihnen läßt sich paradigmatisch studie- ren, wie sich ein Laiensystem schließlich zum Profisystem wan- delte: Ein geradezu zwangsläufi- ger Prozeß von der Basisbewe- gung zum etablierten, ja bürokrati- schen Apparat? Demnach hätte das, was in der Laienmedizin von heute Bestand hat, die besten Chancen, demnächst tragender Bestandteil des „Systems" zu wer- den. Norbert Jachertz

DR. FLEISS' BLÜTENLESE

Resozialisierung

1831 hegte Ludwig Tieck große Hoffnungen:

„Möglich — und der Gedanke ist erfreulich —, daß die Menschheit so hoch steigt, daß man in Zukunft einen Verbrecher oder gottlosen Zweifler nur in das Gatter- thor eines Gartens schiebt, um ihn nach zwei, drei Stun- den jenseits als gläubigen Überzeugten und Tugend- haften wieder rauszu- lassen."

(Nun, bis zum Mond ist die Menschheit hochgestiegen, dann sollte sich auch das Tugendhafte endlich ein- stellen.)

Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

„Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen" — so heißt es im Märchen vom Aschen- puttel. Wer aber glaubt an Mär- chensprüche? Der Clevere dreht ihn um; dann wird ein Schuh dar- aus, ein stabiler sogar und ange- paßt-wasserfest: Die schlechten ins Töpfchen und die guten ins Kröpfchen. Na also!

Manche argwöhnen, „soviel am- bulant wie möglich, so wenig sta- tionär wie nötig" sei eine moderne Variation des Aschenputtel-Spru- ches. Eigentlich ist ja dieser neue unter den Sprüchen nichts ande- res als eine der sinnvollen Grund- lagen der bald 100 Jahre alten Pflichtkrankenversicherung. Hätte man ihn nur nicht über Jahrzehnte vergessen, dann wäre auch der Bedarf an immer mehr und immer größeren Krankenhäusern gar nicht erst entstanden. Es gäbe kei- nen Bettenberg, dieses vor kur- zem noch bestaunte Symbol so- zialen und medizinischen Fort- schritts, jetzt aber ein Ärgernis für alle, die an seiner Errichtung ebenso gedankenlos wie munter mitgeschaufelt haben. Gestraft mit historischem Erinnerungsvermö- gen findet man unter den Schuldi- gen auch manche erlauchte Ge- stalt der hippokratischen Zunft.

Besser lassen wir das aber. Wer mag schon gerne an frühere Feh- ler erinnert werden ..

Hier und heute muß gehandelt werden, die Linsen müssen ins rechte Gefäß! Dies scheint auch erfolgreich zu gelingen, wie erste Berichte über den Bayernvertrag erhoffen lassen. Das Gebot der

Stunde begreifen die frei praktizie- renden Ärzte mehr und mehr. Die Quote der Krankenhauseinwei- sungen sinkt. Damit werden Ein- sparungen möglich in dem Be- reich der Krankenversicherung, der in allzu schlichter Vereinfa- chung und Verallgemeinerung als der teuerste angeprangert wird.

Dennoch will so rechte Freude nicht aufkommen, weil Ärgerli- ches erkennbar wird. Die Kranken- häuser (gemeint sind ihre Ärzte!) konterkarieren die ersehnte Wen- de zum Besseren, zu größerer Sparsamkeit durch schlaue Tricks.

Sie betreiben Schändliches: die Selbst-Einweisung! Damit unter- laufen sie die redlichsten Absich- ten, füllen die sonst leer bleiben- den Betten und schaffen sich so Arbeit und Existenzberechtigung.

Diese schnöden Kollegen schei- nen sich nun auch im Linsenausle- sen zu üben, drehen den Spruch wohl einfach um?

Alles dies hat mich als Kranken- hausarzt tief erschüttert und mei- ne Berufsehre attackiert. Ich woll- te es wissen, wie es im eigenen Arbeitsbereich steht, welche Sün- den hier im Verborgenen blühen, wo und inwieweit ich selber schul- dig geworden bin.

Da kam es ans Licht: In der Tat, im eigenen Krankenhaus waren rund 30 Prozent der stationär Behan- delten ohne eine ordentliche Ein- weisung durch einen Kassenarzt in ein vorher leeres Bett gekom- men; in der unfallchirurgischen Klinik einige Prozente mehr, in den inneren Kliniken weniger.>

THEMEN DER ZEIT

Linsen-Auslesen

Erfahrungen in einem Krankenhaus

Ulrich Kanzow

68 Heft 35 vom 3. September 1982 79. Jahrgang DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ausgabe B

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