• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Europäische Gesundheitspolitik: Vogel-Strauß-Taktik" (07.04.2000)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Europäische Gesundheitspolitik: Vogel-Strauß-Taktik" (07.04.2000)"

Copied!
1
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

ei den Diskussionen um die Gesundheitsreform in Deutschland habe ich oft den Eindruck, Kohll/Decker habe nie stattgefunden.“ Dieses Fazit zieht Ernst Merz, Präsident des Sozial- gerichts Koblenz, zwei Jahre nach den Entscheidungen des Europäi- schen Gerichtshofs (EuGH) zugun- sten zweier Luxemburger Bürger, die heftigste Reaktionen in den Mitglied- staaten ausgelöst hatten. Decker hatte in Belgien eine Brille gekauft, deren Erstattung ihm seine Krankenkasse verweigerte, weil der Kauf vorher hätte genehmigt werden müssen. Mit derselben Begründung war der An- trag von Kohll auf Kostenerstattung für eine Zahnbehandlung in Deutsch- land abgelehnt worden. Das Gericht hatte sich auf EG-Vertragsbestim- mungen über den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr berufen.

Die Entscheidung der Europa- richter kam einem Tabubruch gleich, denn in die Gestaltung ihrer sozialen Sicherungssysteme wollen sich die EU-Mitgliedstaaten nicht hineinre- den lassen. Diese fallen, und da sind sich ausnahmsweise alle einig, in die alleinige nationale Zuständig- keit. Auf diesen Standpunkt pochte der damalige Bundesgesundheitsmi- nister Horst Seehofer ebenso wie jetzt seine Nachfolgerin Andrea Fi- scher. Beide zogen sich zudem dar- auf zurück, dass die Urteile nicht auf deutsche Verhältnisse übertragbar seien. Im Gegensatz zu Luxemburg, das generell die Kostenerstattung praktiziert, gelte in Deutschland das Sachleistungsprinzip.

Inwieweit diese Haltung noch realitätsnah ist und nicht etwa durch

neue beim EuGH anhängige Ver- fahren weiter in Frage gestellt wird, diskutierten Experten bei einer Ta- gung an der Europäischen Rechts- akademie in Trier.

Man sei sich zwar darüber einig, dass Gesundheitspolitik nicht vom EuGH gemacht werden dürfe, stell- te Dr. Herwig Verschueren von der EU-Kommission fest, politische In- itiativen der Mitgliedstaaten seien jedoch bislang ausgeblieben: „Es ist kein politischer Wille zu erkennen, auf EU-Ebene soziale Standards zu definieren. Das Wettbewerbsrecht hat sich daneben jedoch kontinu- ierlich weiterentwickelt“, beschreibt er das Dilemma. Offenbar sind die Empfindlichkeiten in diesem „politi- schen Minenfeld“ so groß, dass man lieber den Kopf in den Sand steckt.

Weitere Urteile stehen an

Derweil geht die rechtliche Dis- kussion vor dem EuGH weiter. In einem Fall, der zur Entscheidung ansteht, geht es um die Höhe der Erstattung für Krankenhausleistun- gen, die im Ausland in Anspruch ge- nommen wurden. In einem anderen Fall hat ein Bürger aus den Niederlan- den auf Erstattung seiner Behand- lungskosten geklagt. Dort gilt, wie in Deutschland, das Sachleistungsprin- zip. In einem weiteren Fall wird der EuGH über die Erstattung medizi- nischer Leistungen entscheiden, die nicht Bestandteil des Leistungskatalo- ges im Herkunftsland sind. Die Urtei- le werden sich mithin auf Fragen der Krankenhausfinanzierung, auf die Übertragbarkeit des Kohll/Decker-

Urteils sowie die Geltung eines ge- setzlichen Leistungskatalogs auswir- ken. „Das ist wie die Geschichte von Hase und Igel“, sagt Sozialrichter Merz. Der EuGH scheine der Politik immer einen Schritt voraus zu sein.

Dass das Prinzip der nationalen Eigenständigkeit aufrechtzuerhalten ist, bezweifelt Dr. Bernd Schulte vom Max-Planck-Institut für ausländi- sches und internationales Sozial- recht: „Auch in Deutschland muss nationales Recht den EU-Regelun- gen über die Grundfreiheiten ent- sprechen.“ Es sei denn, die Gesund- heit der Bürger oder die finanzielle Stabilität des Systems sei bedroht.

Schulte plädiert dafür, die Chancen zu sehen, die die fortschreitende Eu- ropäisierung bietet. Deutschland sei für ausländische Patienten attraktiv.

Es sei ein Hochleistungsland und ha- be keine Wartelisten. „Warum stellt man sich nicht den Problemen und betreibt eine europäische Gesund- heitspolitik?“ Man könne die Euro- päisierung nutzen, um ein System zu modernisieren, das sich ohnehin ver- ändern werde – eine Ansicht, die vie- le Mitgliedstaaten offenbar nicht tei- len. Carlos García de Cortazar y Ne- breda vom spanischen Ministerium für Arbeit und Soziale Sicherheit:

„Es gibt nur zwei Reaktionen auf Kohll/Decker. Die eine ist negativ, die andere sehr negativ.“ Also abwarten?

Europa wird für die nationalen Gesundheitssysteme nicht folgenlos bleiben. Das haben jüngst auch die Urteile deutscher Gerichte zu den Arzneimittelrichtlinien und -festbe- trägen belegt, die mit Verweis auf europäisches Kartellrecht auf Eis gelegt wurden. Heike Korzilius A-885

P O L I T I K LEITARTIKEL

Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 14, 7. April 2000

Europäische Gesundheitspolitik

Vogel-Strauß-Taktik

Vor zwei Jahren entschied der Europäische Gerichtshof in den Fällen Kohll und Decker, dass deren Krankenversicherung

die Kosten für Behandlungen im Ausland erstatten muss.

Jetzt sind weitere Verfahren anhängig, und die Politik wartet ab.

B

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Der Weiterleitungs- bogen dient als Antwortschreiben an den MDK und enthält die Daten des Versicherten, die Daten des Leis- tungserbringers für eine eindeutige Identi fikation sowie

Bayerischen Ärztetag der Bayerischen Landesärztekammer (BLÄK) stand 2007 unter dem etwas sperrigen The- ma Europa, lautete doch der Titel der Veranstaltung mit

Er führt aber weiter aus, dass es gegen den Grundsatz der Rechts- sicherheit verstosse, wenn ein EU-Mitgliedstaat, der die Nachweispflichten für die Befreiung einer

Der EuGH hält unter Berufung auf sein in der Rechtssache Manninen ergangenes Urteil fest, dass dort bei der Berechnung einer Steuer- gutschrift für einen in Finnland unbeschränkt

MWST-Richt- linie, soweit sie die Erstattung an einen gebietsfremden Erwerber oder Dienstleis- tungsempfänger davon abhängig machen, dass die Gegenstände oder Dienstleistungen

Die Verpflichtung des Dienstleistungsempfängers zur Einbehaltung einer Quellensteuer, wenn Dienstleistungen von in anderen EU-Mitglied- staaten ansässigen Dienstleistern

Werden Ihre personenbezogenen Daten verarbeitet, so haben Sie das Recht Auskunft über die zu Ihrer Person gespeicherten Daten zu erhalten (Art. Sollten unrichtige

Die Linke ist noch immer so schwach, dass sie ihre Bedingungen nicht diktieren kann; und in einer Regierung würde sie, wie in Berlin, mit der Realität konfrontiert