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Erziehung zur Anpassung? Sozialisationsprozesse im Wandel ; Politik - Forschung - Praxis

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Erziehung zur Anpassung?

Sozialisationsprozesse im Wandel:

Politik - Forschung - Praxis

Erziehung zur Anpassung in der Deutschen Demokratischen Republik? Das Fragezeichen kann man getrost weglassen. Erziehung zur Anpassung in der Bundesrepublik Deutschland? Auch hier braucht es kein Fragezeichen. Erzie- hung ist Anpassung. »Erziehen heißt«, so Jean Piaget, »das Kind an das soziale Milieu des Erwachsenen anzupassen, mit anderen Worten, die psychobiologi- sche Beschaffenheit des Individuums in Abhängigkeit von der Gesamtheit der kollektiven Realitäten, denen die Gemeinschaft Wert beimißt, zu verän- dern.«1 »Es ist - und gewiß mit Recht - gesagt worden«, so Sigmund Freud, »je- de Erziehung sei eine parteiisch gerichtete, strebe an, daß sich das Kind der be- stehenden Gesellschaftsordnung einordne, ohne Rücksicht darauf, wie wert- voll oder wie haltbar diese an sich sei.«2 Die meisten Leser, auch die Pädagogen, werden solchen Beschreibungen zustimmen: so ist Erziehung. Und nicht nur in der DDR. Um auch noch einen Pädagogen zu Wort kommen zu lassen:

»Eine Norm und feste Maxime der Erziehung gibt es nicht und hat es nie gege- ben. Was man so nennt, war stets nur die Norm einer Kultur, einer Gesell- schaft, einer Kirche, eines Zeitalters, der, wie alle gebundene Regung und Handlung des Geistes, auch die Erziehung hörig war und die sie in ihre Sprache übertrug.«3 Erziehung zur Anpassung ist also eine allgemeine Tatsache. Wenn nun aber die für Piaget, Freud und Buber zeitgenössische Reformpädagogik mit den Worten eines ihrer wichtigen Verfechter und Historiographen sagt, daß die

Grundeinstellung der neuen Pädagogik . . . entscheidend dadurch charakterisiert (ist), daß sie . . . sich nicht als Vollzugsbeamten irgendwelcher objektiver Mächte dem Zögling gegenüber fühlt, des Staates, der Kirche, des Rechts, der Wirtschaft, auch nicht einer Partei oder Weltanschauung, und daß sie ihre Aufgabe nicht in dem Hinziehen des Zöglings zu solchen bestimmten vorgegebenen objektiven Zie- len erblickt, sondern ... daß sie ihr Ziel zunächst in dem Subjekt und seiner körper- lich-geistigen Entfaltung sieht,4

so wird deutlich, daß es ein Spannungsverhältnis gibt zwischen der allgemei- nen Tatsache einer Erziehung zur Anpassung und dem Recht des Kindes auf

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seine eigene Entwicklung, zu dessen Anwalt eine aufgeklärte Pädagogik wer- den kann. Dieses Spannungsverhältnis ist deshalb wünschenswert, weil nur durch Entgegensetzung die Ansprüche der Kinder bzw. der Kindheit gegen- über einer bestehenden gesellschaftlichen Ordnung und ihren Anpassungsfor- derungen geltend gemacht werden können.

Es unterscheiden sich Gesellschaften darin, wie stark in ihnen dieses Span- nungsverhältnis - Anpassungsforderung hier, Kinderansprüche dort - ausge- bildet ist; noch mehr indes unterscheiden sich Gesellschaften darin, ob oder ob nicht und in welchem Ausmaß dieses Spannungsverhältnis anerkannt und ein privates und öffentliches Bewußtsein seiner Existenz zugelassen und verbreitet ist. Wenn eine Gesellschaft von denen, die das Sagen haben, als so wohlgera- ten dargestellt wird, daß eine Erziehung zur Anpassung als die beste Gewähr für die Entwicklung der Kinder gelten muß, dann ist es aller Wahrscheinlich- keit nach um die Aufgeklärtheit dieser Gesellschaft über sich selbst und um die Erziehung in dieser Gesellschaft nicht gut bestellt. Für eine solche Gesellschaft würde nicht mehr zutreffen, daß sie, wie Piaget sagt, »von den neuen Genera- tionen Besseres als eine Nachahmung (erwartet): eine Bereicherung ihres Da- seins.«5 »Jede Erziehung strebt an«, so habe ich Sigmund Freud zitiert, »daß sich das Kind der bestehenden Gesellschaftsordnung einordne, ohne Rücksicht darauf, wie wertvoll oder haltbar diese an sich ist.« Jede Gesellschaft, so läßt sich fortsetzen, hält sich für wertvoll genug, um die Erziehung so einzurichten, daß sie Kinder in die bestehende Ordnung einordnet. Und doch gibt es darin Unterschiede zwischen Gesellschaften.

Gilt vielleicht, daß Gesellschaften, für je wertvoller sie sich halten, desto stärker die Erziehung ausbauen und sie dafür einsetzen, die bestehende Ord- nung in der Generationenfolge zu bewahren? Oder gilt umgekehrt, daß Ge- sellschaften, für je wertvoller sie sich halten, desto stärker sich auf die soziali- sierende Wirkung ihrer Ordnung verlassen, ohne der bewußt veranstalteten Erziehung die entscheidende Rolle für die Entwicklung eines Einverständnis- ses der jungen Generation mit dieser Ordnung beizumessen?

Für die DDR jedenfalls scheint der zuerst genannte Zusammenhang wirk- sam zu sein. Die DDR nimmt, im Vergleich mit anderen Gesellschaften, eine Spitzenposition auf drei Feldern des Erziehungswettkampfes der Systeme ein;

sie ist Meister

1 im Ausbau der veranstalteten, staatlich organisierten Erziehung;

2 in der Ausrichtung der gesamten Erziehung an der bestehenden Gesell- schaftsordnung;

3 in der Deklaration der bestehenden Gesellschaftsordnung als besonders wertvoll.

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zu 1: Die DDR ist eine Erziehungs- und Bildungsgesellschaft par excellence.

Sie wird von keiner anderen Gesellschaft übertroffen im Ausmaß der Pädago- gisierung der Kindheit und Jugend: Kinderkrippen (die 7 von 10 Kindern im Alter bis zu 3 Jahren meist ganztägig erfassen), Kindergärten (die 9 von 10 Kin- dern im Alter bis zu 6Jahren meist ganztägig erfassen), 9jährige Einheitsschule (die alle Kinder undjugendlichen bis zum Alter von 15 Jahren erfaßt), 3jährige Erweiterte Oberschule (die die Lernbesten und Zuverlässigsten aufnimmt) und Hochschulen (die, in enger Zusammenarbeit mit Industrieunternehmen, eine wissenschaftlich-technische Elite heranbildet), daneben die von Partei und Staat kontrollierten Kinder- und Jugendorganisationen (die eine Mehr- heit der Schüler und alle, die etwas werden wollen im öffentlichen Leben, er- fassen) - dies sind die wichtigsten Stufen und Einrichtungen eines umfassen- den einheitlichen sozialistischen Bildungs- und Erziehungssystems, das geeig- net ist, den Neid der Bildungspolitiker in Ost und West zu erwecken, den be- rechtigten Neid auch derjenigen Bildungspolitiker, die für eine Gleichheit der Bildung (nicht nur der Bildungschancen) von beiden Geschlechtern und von verschiedenen Sozialschichten der Bevölkerung kämpfen.

zu 2: Unübertroffen ist die DDR auch in der Ausrichtung aller Bildung und Erziehung an der bestehenden Gesellschaftsordnung. Kein Programm - für Kinderkrippen, Kindergarten, Schule oder Hochschule -, in welchem nicht klargestellt würde, welche Ordnungsvorstellungen die erziehenden Erwachse- nen den künftigen Staatsbürgern zu vermitteln haben; nicht nur in der Form der überall üblichen, vollmundigen und zugleich unverbindlichen Präambeln, sondern in Gestalt sehr konkreter Anweisungen, wann und wie der nationalen Helden und Symbole, der Siege und Errungenschaften, der Staats- und Partei- führer zu gedenken ist.

Im Bildungs- und Erziehungsplan für den Kindergarten (1968) zum Beispiel haben die Aussagen zu den sog. »Hauptaufgaben« noch Präambelcharakter:

»Bei den Kindern sollen sich die Gefühle der Verbundenheit zu den ihnen be- kannten Werktätigen, zu ihrem Heimatort, zu unserem Staatsratsvorsitzen- den und zu den Angehörigen der bewaffneten Streitkräfte herausbilden.«6 Im Planabschnitt »Bekanntmachen mit dem gesellschaftlichen Leben«, Unterab- schnitt »Gestaltung des Lebens im Kindergarten«, Unterabschnitt »Feste und Feiern«, wird's konkreter: Den Gründungstag der DDR begehen die Kinder, indem sie Bilder sammeln und betrachten, »auf denen unser Staatsratsvorsit- zender ... bei Feierlichkeiten zu diesem Tag zu sehen ist.«7

Im Unterabschnitt »Beschäftigung« wird die Erzieherin anläßlich des 1. Mai angewiesen: »Die Kinder hören von den Beziehungen unseres Staatsratsvorsit-

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zenden zu den Erwachsenen und Kindern. Ihre Kenntnisse über die bewaffne- ten Organe unseres Staates werden erweitert. Auf der Grundlage der Erlebnis- se, Erfahrungen und Kenntnisse sind erste Gefühle der Verbundenheit zu den Menschen, die unseren Staat leiten und schützen, zu entwickeln.«8

zu 3: Schwer zu übertreffen ist die DDR schließlich in dem Anspruch eines besonderen Wertes der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung, den ihre Re- präsentanten geltend machen. »Die Deutsche Demokratische Republik«, so heißt es etwa im Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem (1965), »ist in das neue, das sozialistische Zeitalter eingetreten... Die Deutsche Demokratische Republik ist zu einem leistungsfähigen, modernen Industrie- staat und zu einem Bollwerk des Friedens geworden ... Die Menschen der Deutschen Demokratischen Republik sind frei von Ausbeutung und Unter- drückung, sie leben in sozialer Sicherheit.«9 Die Aufwertung der eigenen Ord- nung durch Abgrenzung gegen andere, weniger wertvolle Ordnungen - sie findet auch Eingang in Gesetzestexte: »Das sozialistische Bildungswesen der Deutschen Demokratischen Republik ist dem Bildungswesen in West- deutschland um eine historische Epoche voraus ... Die Deutsche Demokrati- sche Republik sieht auch auf diesem Gebiete des Bildungswesens ihre nationa- le Aufgabe darin, den Weg zu zeigen, der allein im Interesse des deutschen Volkes und seiner glücklichen Zukunft liegt.«'0

Es ist die Kombination dieser drei Meisterschaften - im Ausbau eines ein- heitlichen Bildungs- und Erziehungssystems, in der Ausrichtung der Erzie- hung an der bestehenden Ordnung und in der Wertschätzung dieser Ord- nung -, welche die ungewöhnlich extensiven und intensiven Anpassungslei- stungen begründet, die das Erziehungssystem der DDR erbringt.

Daß die Erziehung sich als »Vollzugsbeamten irgendwelcher objektiver Mächte« (etwa des Staates) fühlt, dies gilt nicht mehr als Problem, es gilt - wenn auch freilich nicht unter dem von vornherein kritisch gemeinten Mot- to des »Vollzugsbeamten« - als wünschenswert, ja als notwendig. Individuelle und gesellschaftliche Bedürfnisse, individuelle und gesellschaftliche Interes- sen, Ansprüche der Kinder und Anpassungsforderungen der Gesellschaft - sie stehen nicht mehr in einem Spannungsverhältnis, siegelten als gleichgerichtet, identisch. Vater Staat liebt seine Kinder und sorgt für sie, wie sie es bedürfen.

»Die ganze Liebe und Fürsorge des Arbeiter- und Bauernstaates gehört der jun- gen Generation, die große Leistungen in der Produktion, im politischen und kulturellen Leben vollbringt... Im sozialistischen Staat besteht zwischen den gesellschaftlichen Bildungszielen und den Interessen der Eltern Übereinstim- mung.«" Das einheitliche sozialistische Bildungssystem, aus dessen gesetzge-

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berischer Grundlage diese Sätze stammen, ist das Werk eines Einheitsstaates und einer Einheitspartei. Keine öffentliche Instanz ist wirklich hörbar oder sichtbar, die der einheitlichen Orientierung Konkurrenz verschaffte, die ein abweichendes Bild des Bestehenden oder der erstrebenswerten Zukunft ent- würfe.

Auf diese Weise ist in der DDR eine Situation entstanden, die, mit Blick auf ein Deutschland einer anderen Epoche, Moses Mendelssohn seinen Zeitgenos- sen vor Augen geführt hat: »Eine gebildete Nation kennet in sich keine andere Gefahr«, so der jüdische Aufklärer und geistige Weggefährte Lessings, »als das Übermaß ihrer Nationalglückseligkeit, welches, wie die vollkommenste Ge- sundheit des menschlichen Körpers, schon an und für sich eine Krankheit ge- nannt werden kann. Eine Nation, die durch die Bildung auf den höchsten Gip- fel der Nationalglückseligkeit gekommen, ist eben dadurch in Gefahr zu stür- zen, weil sie nicht höher steigen kann.«12

Die DDR ein monistischer Erziehungsstaat auf dem Gipfel seiner Natio- nalglückseligkeit - ein Widerspruch scheinbar angesichts der würdigen Ah- nenreihe des Nonkonformismus, des sozialistisch-republikanischen Denkens, auf die man sich in der DDR beruft; eine Ahnenreihe, in der Namen stehen, die aus dem öffentlichen Bewußtsein der Bundesrepublik - zusammen mit der sozialistischen und kommunistischen Linie der Aufklärung - verdrängt wor- den sind: Otto und Alice Rühle, Edwin Hörnle, Otto Kanitz, Clara Zetkin - allesamt kämpfend für die Erziehung der Benachteiligten und Erniedrigten, allesamt Antifaschisten, die unter Hitler in die innere und äußere Emigration getrieben wurden, weil sie Kommunisten oder Juden oder beides waren. Wo ist diese stolze Tradition der Nicht-Anpassung geblieben, wo der Stachel im Fleisch des Erziehungsstaates, geübt im Kampf gegen dessen vollkommenste geschichtliche Verkörperung: den nationalsozialistischen Erziehungsstaat? Sie haben ihre Kraft eingebüßt in einem Prozeß der Etablierung von Staat und Ge- sellschaft der DDR, in welchem das Erstrebte zum Erreichten, die Möglichkeit zur Wirklichkeit, die Vision zum Alltag, das republikanische Denken zum Denken für die Republik, der Stachel zum Machtwerkzeug geworden und die unvollendete, unvollendbare Revolution für abgeschlossen erklärt worden ist.

Wenn Gesellschaften zu Erziehungsgesellschaften werden, so dürfen wir an- nehmen, daß es sich dabei um eine gesetzmäßige Entwicklung handelt, um den notwendigen Versuch, den Eintritt der jungen Generation in die immer weniger durchschaubare, immer weniger durch das gemeinsame Leben mit Er- wachsenen vermittelbare Welt der Arbeit und der Politik pädagogisch vorzu- bereiten.

Wenn sich indes über die auf Erziehung angewiesene Gesellschaft ein Erzie-

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hungsstaat erhebt, ein Erziehungsstaat, der die richtigen Ziele und die richti- gen Werte und Wege kennt, verkörpert, geltend macht, so hat dies nicht zu tun mit den Gesetzen der Modernisierung, vielmehr mit der Sicherung eines klaren Herrschaftsanspruches. Die DDR ein Erziehungsstaat auf dem Gipfel der Staatsglückseligkeit - eine Kalte-Krieg-Erklärung? Ein neuer Ausdruck des alten Anti-Kommunismus? Eher ein Stück Anti-Pädagogik, eine Erklä- rung gegen den Erziehungsstaat an sich, auch wo er bei uns den Kopf hebt. Der Erziehungswissenschaftler muß als erster vor der mißbräuchlichen, der un- friedlichen Nutzung der Erziehungsenergie warnen, die in jedem Erwachsenen steckt und die in jedem Staat - mehr oder weniger kontrolliert - freigesetzt wird. Die unfriedliche Nutzung der Erziehungsenergie durch den Erziehungs- staat - für die DDR muß dieser Vorwurf über das bereits Gesagte hinaus belegt werden. Es soll dies beispielhaft geschehen an einem Erziehungsbereich, in welchem die DDR große Leistungen vorzuzeigen hat: an der vorschulischen Erziehung, insonderheit an der geistigen Erziehung des Kindes im Kindergar- ten; an einer Stufe der Erziehung also, die - nicht nur in der DDR - als eine er- ste Weichenstellung für die Entwicklung des kindlichen Denkens und Welt- bildes gilt.

Konferenz der Vorschulerziehung 1977. Politik, Forschung und Praxis sind hochkarätig vertreten. Es geht - lOjahre nach dem Inkrafttreten des Bildungs- und Erziehungsplans und 4 Jahre nach dem Erscheinen eines dazu gehörigen Handbuches für die Kindergärtnerinnen - darum, eine Zwischenbilanz zu zie- hen sowie - im Zeichen des 1976 abgehaltenen IX. Parteitages der SED - die Perspektiven der Entwicklung der Vorschulerziehung festzulegen. Es geht dar- um, die langbewährte Verbindung von Politik, Forschung und Praxis zukünf- tig auf noch höherem Niveau zu verwirklichen. Daß diese Verbindung, ob- gleich in allen Gesellschaften wirksam, in der DDR eine besondere Qualität aufweist, liegt auf der Hand:

- die Kindergärten sind staatliche Einrichtungen;

- die vorschulpädagogische Forschung wird staatlich geplant und in staatli- chen Hochschul- und Forschungsinstitutionen durchgeführt;

- die Praxis ist durch einen für alle Kindergärten verbindlichen und, wie be- richtet, ins Detail gehenden Bildungs- und Erziehungsplan festgelegt, an dessen Abfassung Wissenschaftler und Praktiker beteiligt waren.

Vorschulkonferenz 1977. Die Politik, vertreten durch Frau Minister Honek- ker, sagt: »Wir bekräftigen das Vorhaben der vorschulpädagogischen For- schung, bei weiterführenden wissenschaftlichen Untersuchungen ... der Pra- xis wirksame Hilfe durch eine konkrete Bestimmung der Aufgaben, der Mittel

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und Methoden der Erziehung ... zu geben.«'3 Die Wissenschaft, vertreten durch Frau Professor Launer, antwortet: »Besonders bewegt uns die Frage nach der Praxiswirksamkeit der Forschung ... In enger Zusammenarbeit von Wis- senschaftlern und Praktikern wollen wir künftig stärker methodische Hand- reichungen zur Umsetzung des Bildungs- und Erziehungsplanes entwickeln und herausgeben.«'4 Und noch einmal die Perspektive der Politik:

Wenn wir uns auf dieser Konferenz über höhere Maßstäbe für die Arbeit beraten und den Entwicklungsprozeß einschätzen, der sich in der Praxis vollzogen hat und vollzieht, sind wir uns der Tatsache bewußt, daß daraus auch für die Wissenschaft beträchtliche Aufgaben erwachsen . . . Es muß noch besser als bisher gelingen, die komplexen Vorgänge des gesamten pädagogischen Prozesses zu untersuchen und die einzelnen Aufgaben- und Problemstellungen aus einer theoretisch begründeten Gesamtkonzeption für die Vorschulerziehung abzuleiten.'5

Die Forderung an die Wissenschaft, praxiswirksam zu sein, d.h. die didak- tisch-methodische Umsetzung der bildungspolitisch vorgegebenen Ziele und Inhalte abzuleiten, betrifft ganz besonders einen Aspekt des Kindergartenall- tags: die »Führung« im pädagogischen Prozeß.

Der Gedanke der »Führung« bzw. der führenden Rolle des Lehrers/Erziehers im pädagogischen Prozeß gehört ebenso zu den Grundpositionen der marxi- stisch-leninistischen Pädagogik wie der Gedanke der Zielgerichtetheit, der Ge- danke der Planmäßigkeit und das Postulat der Einheit von Ziel, Inhalt und Me- thode. »Führung« - das weiß auch die DDR-Pädagogik - dient der Anpassung des Kindes an die Werte und Forderungen der Erwachsenengesellschaft.

Wenn gilt: »Erziehung ist Anpassung«, so gilt also auch: »Erziehung ist Füh- rung« und auch »Anpassung ist Führung«, immer freilich gilt dies zunächst nur in der Perspektive der erziehenden Erwachsenengesellschaft; der pädagogi- sche Prozeß hat es jedoch mit Subjekten zu tun: mit Kindern. Das heißt: An- passung, gelingende Anpassung hat zur Voraussetzung einen aktiven Prozeß im Subjekt, Führung muß anknüpfen an die Selbsttätigkeit des Kindes. Es kann daher nicht überraschen, daß die DDR-Pädagogik den Gedanken der Führung nicht naiv und einlinig vertritt oder absolut setzt, daß sie Grenzen des Prinzips der Führung sieht, Grenzen, die mit der Spezifik der Entwicklungs- stufe des Kindergartenalters zu tun haben, aber auch mit der hohen Bewer- tung der »aktiven Auseinandersetzung mit der Umwelt« als Grundlage der »all- seitigen Entwicklung der Persönlichkeit« (wie es in der DDR-Pädagogik in Anlehnung an die sowjetische Psychologie heißt). Die »Gestaltung des päda- gogischen Prozesses« soll daher erfolgen - so das Handbuch zum Bildungs- und Erziehungsplan - »unter der Sicht des Verhältnisses von pädagogischer

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Führung und Tätigkeit der Kinder«'6. Alles kommt also darauf an, wie dieses Verhältnis balanciert wird.

Wie also? Wir befinden uns wieder auf der Konferenz für Vorschulerzie- hung 1977. Zum Beispiel so: »Indem die Kindergärtnerin Situationen organi- siert, die einen Vergleich gestatten, verhilft sie dem Kind zu einem genaueren Erfassen einzelner Seiten und Merkmale der Wirklichkeit.«17 Mit dem Versuch also, die Selbsttätigkeit (hier: die Erkenntnistätigkeit) durch pädagogische Führung (hier: durch die Organisation von Situationen) anzuregen, mit einem klassischen pädagogischen Arrangement ä lajean-Jaques Rousseau. Aber auch so: »Die Kindergärtnerin erreicht durch Fragen, Impulse, durch Aufforderun- gen zu verschiedenen Handlungen, daß bereits durch die gelenkte Wahrneh- mung gesellschaftlicher Vorgänge eine zielgerichtete Analyse der Wirklich- keit erfolgt.«'8 Wenn also die Politik (die Ministerin) zuerst die Praxis, dann die Wissenschaft auffordert, das Prinzip der Führung besser zur Geltung zu bringen: »Vor allem geht es darum, die künftigen Kindergärtnerinnen theore- tisch und praktisch gründlicher darauf vorzubereiten, den ganztägigen Bil- dungs- und Erziehungsprozeß planmäßig und schöpferisch zu führen«'9 und:

»Es kommt darauf an, die Grundprobleme der weiteren inhaltlichen Arbeit im Kindergarten zu untersuchen und sich dabei vor allem den konkreten Fragen der Führung des pädagogischen Prozesses zuzuwenden«20, so können wir an- nehmen, daß diese Forderungen nicht die dialektische Auffassung des Verhält- nisses von Führung und Selbsttätigkeit außer Kraft setzen wollen.

In der Tat trägt die Ministerin eine nähere Bestimmung des Prinzips der pä- dagogischen Führung vor, die dialektische Züge hat; freilich eine Dialektik ei- gener Art: »Wir mußten uns sowohl mit Auffassungen der bürgerlichen Re- formpädagogik, z.B. der These von der freien Entfaltung der Persönlichkeit, die die Entwicklung des Kindes aus sich selbst heraus zu erklären versucht, als auch mit antihumanistischen Auffassungen und Praktiken der Manipulation der Kinder im Vorschulalter auseinandersetzen«2', einmal also Abgrenzung gegenüber einer Absolutsetzung des Pols der Selbsttätigkeit, zum anderen Ab- grenzung gegenüber einer Absolutsetzung des Pols der Führung; zum einen ein politisches Nein zur »Pädagogik vom Kinde aus«, dann aber auch ein Nein zu manipulativer Führung. Daß pädagogische Führung zur Manipulation ent- artet - dies gilt als gesetzmäßige Erscheinung des Kapitalismus; die dagegen vollzogene Abgrenzung schließt die Überzeugung ein, daß mit der Etablie- rung der sozialistischen Gesellschaft einer manipulativen Führung im Prinzip der Boden entzogen ist: »Unsere sozialistische Gesellschaft hat die Vorausset- zungen dafür geschaffen, den Kindern schon im frühen Alter... die Potenzen einer von Ausbeutung freien Gesellschaft für die allseitige Entwicklung der

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kindlichen Persönlichkeit und seiner Individualität zu erschließen sowie ihre Erziehung im Geiste des Kommunismus zu gewährleisten.«22 Insoweit mit Blick auf die eigene Gesellschaft eine Abgrenzung der »richtigen« pädagogi- schen Führung von einer fehlerhaften Praxis erfolgt, bezieht sie sich auf die di- daktisch-methodische Ebene, und zwar in dem Sinne, daß hier eine prinzipiell gegebene Möglichkeit nicht ausgenützt wird: »Gegenwärtig bewegt viele Pä- dagogenkollektive vor allem die Führung der Rollenspiele. Dabei geht es be- sonders darum, die Verantwortung des Pädagogen so wahrzunehmen, daß die Kinder Initiative und Selbständigkeit bei der Verwirklichung ihrer Spielideen entwickeln können und dabei Tendenzen der Gängelei und Bevormundung der Kinder vermieden werden«.23 Durch diese Abgrenzungsversuche und durch diese Dialektik wird jedoch das wohl zentrale Problem der pädagogi- schen Führung nicht berührt, es kann und darf - als Bezirk von Totem und Ta- bu - nicht berührt werden: das Problem des Wozu, der Ziele der pädagogi- schen Führung. Dies ist'm der sozialistischen Gesellschaft kein Problem mehr, da die Frage des Wozu, der Ziele, als eindeutig geklärt gilt, da es ein und diesel- be Instanz ist - nämlich der Staat -, der die Politik, die Forschung und die Pra- xis lenkt. Die Frage nach der pädagogischen Führung im ganztägigen Bil- dungs- und Erziehungsprozeß des Kindergartens gewinnt ihre eigentliche Be- deutung erst in diesem normativen Zusammenhang von Politik, Forschung und Praxis, in welchem der Politik eine führende Rolle zukommt.

Damit kehre ich zurück zu dem bereits zitierten Satz von Gerda Wildauer auf der Konferenz für Vorschulerziehung: »Die Kindergärtnerin erreicht durch Fragen, Impulse, durch Aufforderungen zu verschiedenen Handlungen, daß bereits durch die gelenkte Wahrnehmung gesellschaftlicher Vorgänge eine zielgerichtete Analyse der Wirklichkeit erfolgt.«24 Dieser Satz stammt nicht von einer Politikerin, auch nicht von einer Praktikerin, sondern von einer Forscherin. Direkt bezogen auf das Problem der pädagogischen Führung im Kindergarten, sagt er indirekt etwas aus über den normativen Zusammen- hang zwischen Politik, Forschung und Praxis. Vorschulpädagogische For- schung soll, als praxiswirksame, die pädagogische Führung im Kindergarten im Sinne der von der Politik vorgegebenen Ziele anleiten. Mit den Worten von Irmgard Launer: »Die Frage ist, wie die Wissenschaft der Erzieherin hilft, unterschiedliche Arten von Spielen in den gesamten pädagogischen Prozeß...

richtig einzuordnen und die Kinder beim Spiel entsprechend zu führen.«26 Dies sagt die Wissenschaft im Angesicht der Praxis. Und: »Die pädagogischen Wissenschaftler auf dem Gebiet der Vorschulerziehung haben sich ständig darum bemüht, die gestellten [von wem wohl?] Anforderungen zu erfüllen Mit der Profilierung der Aufgaben im jetzigen Fünfjahresplan der pädagogi-

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sehen Forschung ist im wesentlichen eine richtige Orientierung für die For- schunggegeben.«26 Die Verpflichtung und Selbstverpflichtung auf Praxiswirk- samkeit hat unter den spezifischen Bedingungen einer vom Staat gelenkten Verbindung von Politik, Forschung und Praxis weitreichende Folgen für die Pädagogik: sie wird zur »direktivistischen« Erziehungswissenschaft27, die der Praxis hilft, die Direktiven der Politik in der Führung des pädagogischen Pro- zesses zur Geltung zu bringen.

Ein solches normatives Wissenschaftsverständnis - verbunden mit dem entsprechenden Politik- und Praxisverständnis bzw. mit dem Postulat des Zu- sammenhangs von Politik, Praxis und Wisenschaft - geht von einer bestimm- ten Voraussetzung aus, die seine potentielle Stärke, aber auch seine potentielle Schwäche ausmacht; von der Voraussetzung nämlich, daß alle Beteiligten so- zusagen an einem Strang ziehen. Dies bedeutet hohe Effektivität dann und in dem Ausmaße, wenn und insoweit sich Forscher und Praktiker mit den nor- mativen Vorgaben der Politik identifizieren; es wird problematisch, wenn die- se Identifikation nicht gegeben ist bzw. durch eine auch Zwangsmittel einset- zende Beeinflussung hergestellt werden muß. Objektiv aber ist die Situation des Forschers bzw. der Forschung in der DDR dadurch gekennzeichnet, daß er bzw. sie nolens-volens, d. h. unabhängig von der freien Entscheidung der Iden- tifikation, in der Abhängigkeit von der Politik stehen, arbeiten und publizie- ren, eben deshalb, weil die Forschung politisch geplant, gelenkt und kontrol- liert wird. Die Gestalt der pädagogischen Forschung in der DDR kann man auf diesem Hintergrund sehen als ein Spiegelbild der Gestalt der Praxis, auf welche sich Forschung praxiswirksam beziehen soll. Für sie gilt, wie für die Praxis, daß es das, war wir »heimlichen Lehrplan« nennen, nicht gibt bzw. nicht geben soll.

Der »heimliche Lehrplan« wird explizit gemacht, es wird ausdrücklich und unver- blümt gesagt, daß es z. B. eine »gelenkte Wahrnehmung«28 geben soll, daß die Analyse der Wirklichkeit »zielgerichtet« (ebd.) sein soll. Der »heimliche« wird zu einem »unheimlichen« Lehrplan: es soll nur noch erwünschte Wirkungen eines zielgerichteten, planmäßigen pädagogischen Prozesses geben, und eine praxiswirksame Forschung soll diesen pädagogischen Prozeß optimieren.

Das für die Erziehung und Erziehungswissenschaft grundlegende Wertpro- blem stellt sich in der DDR offensichtlich prinzipiell anders als in unserer eige- nen Gesellschaft. Während es bei uns eine Tendenz gibt, die Tatsache zu leug- nen, daß Wahrnehmung allemal auch »gelenkte Wahrnehmung« ist und daß Wissenschaft allemal Wertimplikationen hat, wird in der DDR diese Tatsache anerkannt und zugleich ausgenutzt mit dem Ziel, die Wertbezogenheit von Lernprozessen und Wissenschaft eindeutig und ausdrücklich zu beherrschen und zu steuern. In unserem eigenen Praxis- und Wissenschaftsverständnis gibt

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es, jenseits der Illusionen der Wertfreiheit, das Ziel und - zumindest in Gren- zen - die Chance, die Autonomie des Subjekts in seiner Wahrnehmungstätig- keit, eine postkonventionelle Orientierung seines Urteils selbst zur Norm (zu einer universalistischen Norm) zu machen und diesen Maßstab auch in der Er- ziehungstheorie und Erziehungswissenschaft sowie in der Erziehungspraxis zur Geltung zu bringen. In der DDR führt die ausdrückliche normative Len- kung der pädagogischen Praxis und der pädagogischen Forschung durch Staat und Partei zur Vorherrschaft einer konventionellen Moral und Ethik, einer Moral und Ethik nämlich, die sich nach der Autorität der etablierten Macht richtet.

Das Problem der Legitimierbarkeit einer Theorie und Praxis, die von einem einheitlichen, durch staatliche Autorität verbindlich gemachten Weltbild und Menschenbild ausgeht, will ich hier nicht erörtern; dagegen will ich auf zwei andere Fragen abschließend kurz eingehen: die Frage nach der Effektivität des in der DDR vorherrschenden Modells der Verbindung von Politik, Praxis und Forschung und die Frage nach den erkenntnistheoretischen Implikationen dieses Modells.

Die Effektivität dieses Modells hängt grundsätzlich, wie bereits gesagt, da- von ab, ob und in welchem Ausmaß sich die Menschen mit den politisch ge- setzten Normen identifizieren. Im Blick auf vorschulische Erziehung und vor- schulpädagogische Forschung ergibt sich ein weiterer, besonderer Aspekt der Effektivitätsfrage daraus, daß hier die Altersspezifik dieser Entwicklungsstufe und ihr Zusammenhang mit dem weiteren Lebenslauf zur Rede steht. Wie wirksam ist die staatlich gelenkte Vorschulerziehung und die auf Praxiswirk- samkeit verpflichtete vorschulpädagogische Forschung auf längere Sicht? Die offene Propagierung einer »gelenkten Wahrnehmung«, vorgebracht von einer der namhaften vorschulpädagogischen Forscherinnen, stützt sich offensicht- lich auf die Devise »Was Flanschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr«, d. h.

es wird eine langfristige Wirkung des Lernens in dem als besonders lerninten- siv geltenden Vorschulalter unterstellt, es wird angenommen, daß die Wahr- nehmung, einmal richtig gelenkt, eine »zielgerichtete Analyse der Wirklich- keit« begründet. Daß eine solche Unterstellung fragwürdig ist angesichts der Normenrelativierung, zu der es in komplexen Gesellschaften fast gesetzmäßig während der Adoleszenz kommt, läßt sich an Phänomenen der Jugendkultur in der DDR ebenso zeigen, wie es sich in mancher Biographie, jedenfalls in der meinigen, gezeigt hat im Blick auf die geringe Dauerwirkung oder gar gegen- teilige Auswirkung einer in der Kindheit erfahrenen gelenkten Religiosität.

Die Frage der Effektivität könnte man freilich auch anders stellen; indem man nämlich fragt, ob denn Erziehung - Erziehung zur Anpassung - wirklich so

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stattfindet im Alltag der Kinderkrippe, des Kindergartens, der Schule, der Gruppe in der FDJ und der Universität, wie es das Erziehungsgesetz erheischt oder die Bildungs- und Erziehungspläne; ob also wirklich in der Praxis das gilt und geschieht, was der Erziehungsstaat will. Um aber diese Frage zuverlässig beantworten zu können, müßten wir mehr wissen über die Erziehungswirk- lichkeit in der DDR, mehr als es, jedenfalls derzeit, zu wissen gibt über dieses für wissenschaftlich neugierige westliche Ausländer nicht gerade offene Erzie- hungssystem. Die Vermutung liegt indes nahe, daß eine große Diskrepanz be- steht zwischen Programm und Wirklichkeit, zwischen politischem Willen und pädagogischer Praxis; nur mit einer solchen Diskrepanz läßt sich erklären, daß von Mal zu Mal, von Parteitag zu Parteitag, von Konferenz zu Konferenz, seit nunmehr 40 Jahren Programm und Willen immer wieder neu bekräftigt werden müssen.

Unter dem erkenntnistheoretischen Aspekt, den meine zweite Frage betrifft, führt die Rede von der »gelenkten Wahrnehmung« in einen weiteren inneren Widerspruch. Die für die marxistisch-leninistische Erkenntnistheorie grundle- gende Auffassung, daß die Gesetzmäßigkeiten der Erkenntnistätigkeit durch Prozesse der Widerspiegelung und der Aneignung bestimmt werden, setzt voraus, daß die Wirklichkeit, die der Erkenntnis zugängliche Objektwelt et- was objektiv Gegebenes ist, das unabhängig vom konkreten Individuum existiert und wirkt, etwas, das seinerseits dem Menschen - als dem »Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« (Marx, 6. These über Feuerbach) - seinen Stempel aufdrückt, seine Erkenntnistätigkeit bestimmt, sich im erkennenden Subjekt widerspiegelt und von diesem angeeignet wird - das Sein bestimmt das Bewußtsein. Demgegenüber erscheint im Gedanken und in der Praxis der gelenkten Wahrnehmung das konkrete Individuum - hier also einerseits die ge-

lenkte Kindergärtnerin, andererseits das erkenntnistätige Kind - als entschei- dender Faktor dafür, daß die Erkenntnis zu »richtigen« Ergebnissen führt; auf der erkenntnistheoretischen Ebene handelt es sich hier, könnte man sagen, um eine Position des Idealismus, in welcher die Wirklichkeit bzw. Objektwelt als sozusagen konstruierbar durch Erkenntnis - bzw. Erkenntnisvermittlungsak- te - erscheint; eine Gegenposition also zum historischen Materialismus. Ich kann mir diesen inneren Widerspruch nur so erklären, daß sich die Verantwor- lichen in der DDR nicht so recht auf die Widerspiegelung der gegebenen ge- sellschaftlichen Wirklichkeit im Bewußtsein der Menschen als Grundlage und Garantie einer erwünschten Erkenntnis (einer »zielgerichteten Analyse der Wirklichkeit«29) verlassen können und verlassen wollen. Vielleicht hängt da- mit die erkenntnis- und gesellschaftspolitische Diskussion (vgl. Cagin 1974;

Kosing 1983) in der DDR zusammen; die Betonung des »subjektiven Faktors«

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dient der Legitimierung der Notwendigkeit, die Erkenntnistätigkeit zielge- richtet und planmäßig zu lenken, nicht zuletzt im Sinne der Gegenwirkung ge- gen den als wirksam eingeschätzten Einfluß des Klassenfeindes auf das Be- wußtsein der Menschen. »Die Kindergärtnerin erreicht durch Fragen, Impul- se, durch Aufforderungen zu verschiedenen Handlungen, daß bereits durch die gelenkte Wahrnehmung gesellschaftlicher Vorgänge eine zielgerichtete Analyse der Wirklichkeit erfolgt.«30

Bei der Durchsicht von Veröffentlichungen aus den 80er Jahren begegnet uns noch einmal der un-heimliche Zusammenhang von Politik, Forschung und Praxis, wieder bei Irmgard Launer, der ranghöchsten Vorschulpädagogin:

Anfang 1983 berichtet sie über Untersuchungen, bei welchen - für die vor- schulpädagogische Forschung in der DDR ungewöhnlich - die Kinder selber darüber befragt wurden, welche Beschäftigungen sie besonders gern mögen und warum. Das unerwartete und unerwünschte Ergebnis von zwei Kinderbe- fragungen - daß nämlich Malen, Bauen und Basteln außerordentlich und das Bekanntmachen mit Mengen sehr beliebt sind, daß aber der Planabschnitt zum »Bekanntmachen mit dem gesellschaftlichen Leben» (und auch derjenige zur Natur) überhaupt nicht beliebt ist, weil es dabei so langweilig ist - nützt die Autorin aus, um eine bessere »vorschulgemäße Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen im Kindergarten« wissenschaftlich zu begründen und, mit Ver- weis auf die deprimierenden Ergebnisse der Kinderbefragungen, zu fordern.

Gegen Schluß des Beitrags heißt es dann: »Um Irrtümern vorzubeugen, sei an dieser Stelle ausdrücklich betont: Wenn in dieser hier vorgenommenen Be- trachtung zur vorschulgemäßen pädagogischen Arbeit im Kindergarten die Probleme an den Kinderantworten verdeutlicht werden, so heißt das keines- falls, daß wir eine 'Pädagogik vom Kinde aus' betreiben. Die Ziele, Aufgaben und Inhalte der Bildung und Erziehung der Kinder im Kindergarten sind im Plandokument fixiert.«31 Warnung vor einer »Pädagogik vom Kinde aus«, das Tabu der »freien Erziehung« soll nicht berührt werden. Wenn wir als Forscher die Kinder fragen, muß dies, bitte schön, nichts Schlimmes sein. Denn der Plan gilt, die Kinder helfen uns mit ihren Antworten, ihn besser zu erfüllen.

»Gelenkte Wahrnehmung«, »Pädagogik vom Kinde aus« als Schreckge- spenst, »Ziele ... im Plandokument fixiert« - hier marschiert republikanische, gleich ob bürgerliche oder sozialistische, Aufklärung geradewegs rückwärts.

Hier kommt eine »Aufklärungsmanier« zum Zuge, die seinerzeit der Theologe und Pädagoge Friedrich Schleiermacher dem bürgerlichen Staat vorhielt, als dieser sich anschickte, die angeblich biologisch und historisch verderbte Im- moralität der Juden durch Erziehung ihrer Kinder zur bürgerlichen und christ- lichen Moral unschädlich zu machen:

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. . . aber wie lange ist es nicht schon das letzte Asyl unserer Aufklärer, wenn sie inne werden, daß es hie und da mit ihrem Geschäft nicht recht fort will, die gegenwärti- ge Generation aufzugeben, und ihre Bemühungen ausschließlich der künftigen zu widmen. Wenn alle Volksschriften und Volksreden nichts helfen, so wirft sich der unglückliche Menschenfreund in die Pädagogik und Katechetik. Wird man nicht diese Maxime auch dem Staat zu seiner Verteidigung unterlegen?» (Die Nachkom- menschaft derjuden) könne doch alsdann nicht mehr in den Grundsätzen der jüdi- schen Immoralität aufwachsen: sie würde, wie andere Kinder, eine reine Moral und eine große Verehrung des Vaterlandes in unseren trefflichen Schulen einsaugen, wo das Vaterländische überall der herrschende Stoff ist, und alles in moralische Form gegossen wird.« Mir ist diese Aufklärungsmanier immer sehr verächtlich vorge- kommen, weil ich weniger an die Wirksamkeit des Einredens, als an den Scharfsinn und richtigen Blick und an den Beobachtungssinn der Kinder glaube.32

Da ist sie wieder, die Frage, worauf sich die Gesellschaft verlassen soll bei der Weitergabe ihrer Werte: auf die veranstaltete Erziehung oder auf das nachleb- bare Leben.

Es bleibt, mit Blick auf die DDR, die Hoffnung, daß der »Umbau« der sozia- listischen Gesellschaft, den Gorbatschow für die Sowjetunion fordert und ver- sucht, auch hier Raum greift; daß damit der Scharfsinn von Kindern und ande- ren Republikanern wieder geschätzt wird; daß damit Erziehung Anpassung nicht an die beste aller Gesellschaften - die bestehende -, sondern an eine wer- dende Gesellschaft meint. Daß Erziehung im allgemeinen so ist- und nicht nur in der DDR -, daß sie Anpassung im Sinne der Einordnung in die bestehende Ordnung betreibt, kann nicht heißen, daß Erziehung so sein soll. Das Recht des Kindes auf seine eigene Entwicklung (auf sein Selbstwerden) spricht dagegen, aber auch die in jeder Gesellschaft gegebene Notwendigkeit, ihre Ordnung zu verbessern. Ist und Soll der Erziehung liegen im Streit, nicht nur in der DDR.

»Eltern erziehen gemeiniglich ihre Kinder nur so, daß sie in die gegenwärtige Welt, sei sie auch verderbt, passen. Sie sollten sie aber besser erziehen, damit ein zukünftiger, besserer Zustand dadurch hervorgebracht werde«.33 Imma- nuel Kant, von dem diese Sätze stammen, sieht den Widerspruch zwischen Ist-Zustand und Soll-Zustand der Erziehung in zwei Faktoren begründet: »l) Die Eltern nämlich sorgen gemeiniglich nur dafür, daß ihre Kinder gut in der Welt fortkommen, und 2) die Fürsten betrachten ihre Untertanen nur wie In- strumente zu ihren Absichten« (ebd.).

Es bleibt, mit Blick auf die DDR, die Hoffnung, daß die »Fürsten« in Zu- kunft nicht allein die Untertanen, sondern auch Staat und Gesellschaftssystem für verbesserungswürdig erachten. Das Wichtigste, was Gorbatschow in der Sowjetunion angeregt hat, ist die Uberwindung der Systemglückseligkeit, die Schaffung einer Atmosphäre, in der es nicht nur erlaubt ist, sondern als patrio-

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tische Pflicht gilt, vom notwendigen »Umbau« der etablierten Gesellschaft zu sprechen; die Eröffnung einer Perspektive, die nicht mehr das Gesundbeten des Bestehenden fordert, sondern die praktische Arbeit an den inneren Wider- sprüchen des Systems, die es bislang nicht geben durfte, und an der unvollen- deten Revolution, die bislang vollendet sein mußte.3 4 Nur auf diesem Wege des auf Dauer gestellten Umbaus hätte der Sozialismus eine Chance, sich als überlegene Gesellschaftsordnung zu beweisen. Keine Chance mehr hätte im Angesicht dieses Weges ein 17. Juni, zum nationalglückseligen Gedenktag in einem Staat zu werden, der den Sozialismus für die prinzipiell unterlegene Ge- sellschaftsordnung hält.

Anmerkungen

1 Jean Piaget, Theorien und Methoden der modernen Erziehung. Frankfurt/a.M.

1984, S. 113.

2 Sigmund Freud, Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse (34. Vorlesung).

Frankfurt/a.M. 1978, S. 122.

2 Martin Buber, Reden über Erziehung. Heidelberg 1953, S. 47.

4 Herman Nohl, Pädagogik aus dreißig Jahren. Frankfurt/a.M. 1949, S. 152.

5 Jean Piaget, a.a.O., S. 114.

6 Bildungs- und Erziehungsplan für den Kindergarten. Berlin 1968, S. 8.

7 Ebenda, S. 171.

8 Ebenda, S. 169.

9 Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem. Vom 25. Februar 1965.

In: Zwei Jahrzehnte Bildungspolitik in der Sowjetzone Deutschlands, hrsg. von S.

Baske/M. Engelbert, Berlin, Heidelberg 1966, Teil II, S. 373.

10 Ebenda, S. 375f.

11 Ebenda, S. 373.

,2 Moses Mendelssohn, Über die Frage: Was heißt aufklären? In: Ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von G.B. Mendelssohn, Leipzig 1843, Band 3, S. 403.

13 Referat des Ministeriums für Volksbildung - Abteilung Vorschulerziehung - (Konferenz der Vorschulerziehung der D D R 1977). In: Neue Erziehung im Kin- dergarten, 1978, Heft 1, S. 15.

14 Irmgard Launer, Zu einigen Problemen der wissenschaftlichen Arbeit auf dem Ge- biet der Vorschulerziehung. In: Neue Erziehung im Kindergarten, 1978, Heft 2/3, S. 19.

15 Referat a.a.O., S. 23.

16 Zur Arbeit mit dem Bildungs- und Erziehungsplan im Kindergarten. Hrsg. von der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der D D R , Berlin 1975, S. 74ff.

17 Gerda Wildauer, Zu einigen Fragen der geistigen Bildung und Erziehung beim Be- kanntmachen der Vorschulkinder mit dem gesellschaftlichen Leben. In: Konferenz der Vorschulerziehung der D D R , Berlin 1979, S. 143.

1 8 Ebenda.

(16)

,9 Referat ..., a.a.O., S. 23.

2 0 Ebenda.

21 Ebenda, S. 9.

2 2 Ebenda.

23 Ebenda, S. 17f.

24 Gerda Wildauer, a.a.O., S. 143.

25 Irmgard Launer, a.a.O., S. 19.

2 6 Ebenda.

27 Vgl. Christel Langewellpott, Erziehungswissenschaft und pädagogische Praxis in der D D R . Düsseldorf 1973.

28 Gerda Wildauer, a.a.O., S. 143.

2 9 Ebenda.

3 0 Ebenda.

3' Irmgard Launer, Unser Bestes für das Wohl und Glück der Kinder. In: Neue Erzie- hung im Kindergarten, 1983, Heft 1, S. 3.

32 Friedrich Schleiermacher: Briefe bei Gelegenheit der politisch theologischen Auf- gabe und des Sendschreibens jüdischer Hausväter. Von einem Prediger außerhalb Berlin. Berlin 1799 (Reprint, Berlin 1984), S. 17ff.

33 Immanuel Kant: Über Pädagogik. Hrsg. von O. Willmann, Leipzig o.J., S. 67.

34 Vgl. Aufbruch mit Gorbatschow? Hrsg. von C. Ferenczi/B. Lohr, Frankfurt/a.M.

1987.

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