Dok 5 – Das Feature
Sonntag, 05.12.2021, 13.04 – 14.00 Uhr
Wiederholung: Sonntag, 05.12.2021, 20.04 – 21.00 Uhr HIV Positiv
– Michaels erstes Jahr mit dem Virus.
Michael
Hallo, lieber Ole! Ich wollt auch nochmal kurz persönlich sagen, wie schön ich den gestrigen Abend fand und auch das ganze Wochenende war echt Zucker. Und ich hab’s total genossen. Genau, und auch gestern Abend, wo wir so offen und ehrlich sprechen konnten. Ja, dir erstmal ‘nen zauberhaften Tag und bis bald!
Erzähler
Michael und ich wohnen nicht in derselben Stadt. Wir sind gute Freunde, sehen uns regelmäßig. Wir haben uns mal auf einer Party kennengelernt. Obwohl zwischen unseren Wohnorten mehrere hundert Kilometer liegen, sind wir uns freundschaftlich sehr nah. Diese Sprachnachricht hat er mir geschickt, kurz nachdem sich sein Leben um 180 Grad gedreht hat. Von heute auf morgen.
ANSAGE HIV Positiv
Michaels erstes Jahr mit dem Virus Ein Feature von Ole Siebrecht
Erzähler
Im Sommer 2020 fährt Michael mit seinem Fahrrad in ein Testzentrum, um sich routinemäßig auf sexuell übertragbare Krankheiten durchchecken zu lassen.
Michael
Donnerstag, ein Donnerstagnachmittag, um 17 Uhr. Also es war Frühsommer. Es war Juli.
Ole
Und du bist da quasi einfach hingegangen, weil es mal wieder Zeit war?
Michael
Genau. Also ich bin hin, weil ich gemerkt habe, dass ich schon länger nicht mehr beim Test war und ich eben auch regelmäßig Verkehr hatte. Ich war nervös. Aber man ist vor sowas immer nervös. Das sind alle, die da in diese Einrichtungen kommen. Das kennen wir alle.
Michael
Das Fahrrad hab ich an eine Laterne gebunden, direkt gegenüber. Und weil ich viel zu früh dran war, hab ich mir noch einen Kaffee geholt und hab dann gegenüber von dieser Einrichtung gesessen und hab so ein wenig in mich rein gespürt und da hab ich gemerkt: ich bin einfach nervös. Bin dann da rum gestanden, habe noch ein, zwei Zigaretten oder so geraucht und habe halt Musik gehört und hab noch getextet auf dem Telefon. Dann bin ich reingegangen. Und dann ist hinten quasi so ein großer Tresen und da gibt's auch Kaffee und Kuchen und Tee. Und da meldet man sich an und dann wird man gefragt, was man denn heute testen lassen möchte und dann kriegt man so ein Formular.
Ole
Also nicht die beste Atmosphäre?
Michael
Da passieren Schicksale und das spürt man auch irgendwie in dem Raum, dass sich da Schicksale verändern und Leben verändern.
Ole
Warst du alleine?
Michael
Ich war alleine. Ich gehe immer alleine. Also für mich war das immer schon so: Da gehe ich alleine hin.
Erzähler
Ehrenamtliche Betreuer. Ein kurzes Vorgespräch.
Michael
Das ist relativ kurz. Man klärt einfach nochmal kurz ab, was auf diesem Anmeldebogen steht und dann geht man in das kleine Labor rüber. Da sitzt ein Arzt.
Erzähler
Die Blutabnahme.
Michael
Und dann geht man wieder zurück ins Wartezimmer und wartet. Ich bin dann raus zum Rauchen, hab dann ‘nen Zigarettchen geraucht.
Irgendwann hab ich gemerkt: Okay, irgendwas stimmt nicht. Ich saß da halt rum und die Leute gingen raus und rein. Und dann so nach 20, 25 Minuten bin ich nochmal eine rauchen gegangen und hab dann gedacht: Okay, irgendwie seltsam, weil
normalerweise sind die relativ fix.
Und dann kam irgendwann mal der Typ zurück. Und … Der war ganz still. Und daran merkt man auch, dass was nicht richtig ist.
Ich hab mich hingesetzt, hab ihn angeguckt und er hat sich auch hingesetzt, hat die Tür vorher geschlossen und im Hinsetzen ist es quasi aus ihm herausgeplatzt. Und da hat er gesagt: Gut. Du bist positiv.
Erzähler
Michael und ich sind beide in den 90er-Jahren geboren.
Wir sind als queere Personen damit aufgewachsen, dass wir besonders gefährdet sind, diese Krankheit zu bekommen. Auf schwulen Dating Apps kann jeder seinen HIV- Status angeben. Schwule Stadtmagazine enthalten erstaunlich viele Anzeigen von Testzentren, Beratungsstellen und Hilfsangeboten. Sogar in den Clubs gibt es hin und wieder Stände, an denen aufgeklärt wird. Es werden Kondome verteilt. Das Thema HIV/ AIDS ist „in der Szene” allgegenwärtig.
Ein Teil des Traumas der älteren Generationen hat sich weitervererbt, hat sich auch auf unsere Generation übertragen. Durch Erzählungen der Älteren. Derer, die überlebt haben und deswegen manchmal auch so etwas wie Scham empfinden. Aber auch durch Filme. Wie dem französischen Werk „120 battements par minute” des Regisseurs Robin Campillo von 2017.
Eindrucksvoll, schmerzhaft und berührend wird hier eine Geschichte aus dem Paris der frühen 1990er Jahre erzählt. Von Aktivisten der Gruppe „Act-Up”, die für die Rechte von HIV-Infizierten und AIDS-Kranken kämpft. Gegen den Ausschluss aus der Gesellschaft. Gegen das Stigma.
Als ich den Film damals im Kino sah, konnte ich es kaum aushalten. Weil der Gedanke immer größer wurde: wäre ich ein paar Jahre früher geboren, hätte ich das sein
können. Ein junger Mann, der weiß, dass er nur noch ein paar Jahre leben wird. Dass der Tod qualvoll sein wird. Diesen Schrecken hat die Krankheit natürlich längst
verloren. Seit ein paar Jahren gibt es sogar Medikamente, die eine Infektion vorbeugen können. Laut Robert-Koch-Institut haben sich 2020 knapp 2.500 Menschen in
Deutschland infiziert. Ganze 21 Prozent weniger als noch 2019.
Michael gehört zu ihnen. Was bedeutet solch eine Diagnose, knapp vierzig Jahre nach Ausbruch der AIDS-Krise?
Michael
Es ist halt einfach… Also mir wurde heiß und kalt, so dass man, ein Adrenalinschub ist da durch den Körper gerast.
Erzähler
Von seinem positiven HIV-Testergebnis erfahre ich nur wenige Minuten nach ihm.
Michael
Ich habe ja auch unsere gemeinsame Freundin angerufen an dem Abend.
Erzähler
Stefanie und ich sitzen da gerade gemeinsam in einem Restaurant.
Stefanie
Also man hat sofort gemerkt: Es ist irgendwas falsch, es ist irgendwas nicht richtig.
Deswegen bin ich dann auch sofort aufgestanden und irgendwo hingegangen, wo ich alleine war, weil man sofort an der Stimme gemerkt hat: Irgendwas stimmt nicht.
Michael
Ich habe nur gemeint: Du, ich bin positiv getestet worden gerade
Erzähler Stefanie.
Stefanie
Er hat auch schon so Unterstützung gesucht bei mir, also er wollte schon hören: Alles wird gut. Aber er war eher so richtig kontrolliert, also wie so: Das Flugzeug stürzt jetzt ab, ich muss mir jetzt diese Maske aufsetzen und meinen Kopf zwischen die Knie halten. Und dann stürzt das ab. So ein bisschen. Macht das Sinn?
Michael
Und mehr weiß ich auch nicht. Ich weiß halt nur, dass sie sehr supportive war und sofort gemeint hat: Wenn irgendwas ist, melde dich bitte! Bist du in guten Händen? Bist du allein?
Stefanie
Ich war wirklich getroffen, ich war wirklich getroffen und habe gedacht: Ja, gut, dann müssen wir ihm jetzt schon irgendwie eine Schulter bieten, die stark ist. Also auch sofort so in diese Funktionieren-Haltung gegangen. Ich konnte es jetzt aber gar nicht für mich einsortieren, was jetzt für mich diese Nachricht heißt.
Erzähler
All das passiert, als Michael noch im Testzentrum ist. Zu einer Zeit, in der sich die ganze Welt gerade mit einem ganz anderen Virus beschäftigt: Corona.
Michael
Ich bin dann da raus und es war gerade voll schön. Die Sonne ist untergegangen, so ganz langsam. Und es war ein wunderschöner früher Abend. Und es war warm und ich stand da und war so: Okay, what now?!
Erzähler
Der Berater aus dem Testzentrum kommt Michael hinterher gelaufen.
Michael
Und das hat mich irritiert. Und dann hat er mich nochmal mit diesem tiefen Blick angeschaut, den er auch vorhin hatte, als er mir die Diagnose mitgeteilt hatte, und drückte mir dann nur so pro forma ein Magazin in die Hand und meinte nur so HIV Therapie, Fragezeichen, Gedöns. Ich hab dann Danke gesagt, habe mein Fahrrad abgeschlossen und bin nach Hause gefahren.
Erzähler
Ein HIV-Schnelltest, wie Michael ihn an diesem Tag gemacht hat, ist relativ sicher.
Dennoch besteht eine geringe Wahrscheinlichkeit, dass das Ergebnis falsch sein könnte. Gewissheit kann erst ein Bestätigungstest im Labor bringen.
Ole
War dann bei dir so die Hoffnung: Okay, vielleicht ist das alles falsch und das stimmt gar nicht. Und ich hab das gar nicht. Ich bin gar nicht positiv.
Michael
Ich glaube, dass eine sehr menschliche Reaktion, dass man sich dann direkt in so etwas hinein stürzt. Natürlich hab ich auch gedacht: Ja, vielleicht hab ich ja doch Covid und weiß es zum Beispiel nicht. Ich hab auch ganz klar versucht, mich nicht darauf, auf dieses Gedankenexperiment einzulassen, sondern ich bin tatsächlich im vom
Schlimmsten ausgegangen.
Erzähler
Michael verbringt die Nacht bei einer Freundin. Er möchte nicht allein sein. Unser erstes Interview findet wenige Wochen später statt. An einem Wochenende besuche ich ihn in seiner Wohnung. Auf dem Tisch in seiner Küche liegen noch die Broschüren, die ihm der Mann von der Beratungsstelle mitgegeben hat.
Michael
Soll ich die vorlesen?
Ole Ja.
Michael
Also, mit HIV kann man Dank Behandlung gut und lange leben.
Erzähler
Michael denkt vor allem über das Stigma nach. Wird er jemals wieder eine Beziehung eingehen können?
2015 druckte ein österreichisches Schwulenmagazin sein Cover mit dem Blut von Infizierten. Um klar zu machen, wir irrational die Berührungsängste sind.
Nicht zuletzt die AIDS-Politik der 80er Jahre hat in der Bundesrepublik dafür gesorgt, dass bewusst oder unbewusst Kontakt mit HIV-positiven Menschen für viele Leute bist heute mit Vorurteilen verbunden ist.
In der öffentlichen Debatte forderte damals CSU-Politiker Horst Seehofer “spezielle Heime” für Aidskranke. In Bayern wurden zehntausende Beamtenanwärter
zwangsgetestet. Im ganzen Land weigerten sich Zahnärzte positive Patienten zu behandeln. Das alles wirkt nach.
Hinzu kommt: die breite Masse der Gesellschaft ist nicht mehr auf dem aktuellsten Stand. Die Krankheit nur noch selten Thema. So wissen viele nicht, welche enormen Entwicklungen es in der Medizin gegeben hat.
Ole
Und das nächste zum Beispiel, ich glaube, das nächste wissen viele nicht.
Michael
Genau. HIV ist unter Therapie auch beim Sex nicht übertragbar. Genau, richtig.
Ole
Wusstest Du das?
Michael
Also tatsächlich… jein.
Michael
Menschen mit HIV können ohne Angst zu übertragen, Kinder bekommen. Das wusste ich tatsächlich.
Erzähler
Michael macht sich in den ersten Tagen vor allem über schwere Krankheitsverläufe sorgen. In ihm schwingt noch immer ein Rest Hoffnung. War der Schnelltest vielleicht fehlerhaft?
Michael
Du gehst zum Arzt, machst ‘nen Bestätigungstest. Ich habe das direkt am nächsten Tag gemacht, weil ich das auch hinter mir haben wollte. Hat es als Eilantrag quasi in ein Labor geschickt. Ein Speziallabor. Es ist ein akuter Fall. Und dann haben wir direkt den nächsten Termin schon gehabt, Samstag früh, wo dann quasi noch mal die
Diagnose bestätigt wurde. Ja, es ist HIV.
Also Samstag war quasi klar, ich habe es auf jeden Fall. Zu 100 Prozent ist das in meinem Körper. Und dann hat man direkt nochmal Blut abgenommen, um den Virus Typ und die Viruslast zu bestimmen
Erzähler
Die Viruslast bezeichnet die Menge der HI-Viren, die im Blut einer infizierten Person gemessen werden kann. Je stärker das Virus sich vermehrt, desto höher ist die Viruslast.
Michael
Der nächste Termin war dann glaube ich den Dienstag darauf, wo es dann darum ging, nachdem man den die Virusart bestimmt hat, konnte man auch entsprechend die Medikation eben bestimmen. Und dann habe ich am Dienstag meine Medikamente bekommen, habe meine erste Tablette genommen und seitdem ist das so!
Ole
Das heißt Donnerstag Diagnose, Dienstag ...
Michael
… Dienstag, also 4 Tage später, schon auf Tabletten und das war's dann.
Erzähler
Medikamente gegen HIV gibt es schon seit Ende der 80er Jahre. Seit 1996 werden in der Regel drei verschiedene Wirkstoffe in der HIV-Therapie eingesetzt. Die
Medikamente blockieren die Vermehrung des HI-Virus im Körper, sodass nach einiger Zeit keine Viren mehr im Blut nachweisbar sind. Michael hat gelesen, dass sein Körper Resistenzen gegen die Medikamente entwickeln könnte.
Michael
Meine Angst ist natürlich, dass ich das nicht merke, wenn das zurückkommt. Was ist denn …
Erzähler Beim Arzt.
Arzt
Wenn du das regelmäßig nimmst, ist die Wahrscheinlichkeit …
Michael
Also es ist nicht so, dass das Medikament nach zwei, drei Jahren einfach aufhört
Arzt
Nein, nein, bis jetzt ist es nicht so. Besonders die neuen Medikamente und so weiter.
Wir kontrollieren das alle zwei, drei Monate
Michael
Er hat mir von Anfang an die Angst genommen. Er war von Anfang an lustig und beschwingt, hat gemeint: Es ist kein Einzelfall. Ich habe nicht umsonst eine HIV-
Schwerpunkt-Praxis. Das passiert ganz vielen Menschen in dieser Stadt so. Deswegen mach dir da keinen Kopf.
Dann habe ich auch direkt gefragt, ob ich jetzt an AIDS sterben werde. Und da meinte er halt auch sofort so: Nee, also in seinen 10 Jahren, die er jetzt quasi schon in dem Bereich praktiziert, sind zwei Leute an AIDS gestorben und auch nur, weil beide eben über Jahre keine Tabletten eingenommen haben. Also die haben sich eben geweigert, die Medizin zu nehmen.
Also ich lager die im Badezimmer und die bekommt man in so einer Dreierpackung, also für drei Monate. Und das ist eine weiße Box mit so einem Drehverschluss.
Vielleicht so 10, 11 Zentimeter groß. Also bei mir so ein kleiner Fingernagel. So in etwa in der Größe. Also so fünf Millimeter, vielleicht so ein Zentimeter.
Erzähler
Michael ist einer von rund 87.000 Menschen, die regelmäßig HIV-Medikamente nehmen. Aber laut der Deutschen Aidshilfe wissen vermutlich um die zehntausend Personen hierzulande nichts von ihrer Infektion. Michael ahnt, bei wem er sich angesteckt haben könnte.
Ole
Bist du sauer auf die Person?
Michael
Ich bin nicht sauer. Wenn überhaupt nur wütend auf mich selber, weil ich mich selber zu dem Zeitpunkt nicht so gerne gemocht habe. Mir war so ein bisschen egal, dass das ... Darüber bin ich wütend, dass ich mir so selber egal war in dem Moment. Weil es ist ja, wenn du mit einer Person ohne Kondom schläfst, dann macht man das entweder einfach nur, weil man es vergisst oder weil man, weil man … Also es ist überhaupt kein Ding, sich ein Kondom über zu ziehen und Sex zu haben. Es ist ein Handgriff so. Und diese Person wollte kein Kondom drüberziehen und ich habe es zugelassen.
Erzähler
Michael hat die Personen, mit denen er in den Wochen vor der Diagnose Sex hatte, online kennengelernt. Er ist auf gängigen Dating Apps wie Grindr, Tinder und Co.
unterwegs. Menschen im echten Leben kennenlernen: das findet in seinem Leben so gut wie gar nicht mehr statt. Vielleicht typisch für unsere Generation. Hinzu kommt:
kennenlernen in Zeiten von Corona ist sowieso schwierig.
Allerdings geht es auf den meisten Dating Apps und Dating Portalen ziemlich oberflächlich zu. Es geht darum gut auszusehen. Es geht um schnellen Sex und um Smalltalk.
Michael
Also ich bin eigentlich niemand gewesen, der großartig rumgedatet hat. Also jetzt konstant irgendwie jede Woche irgendwie einen anderen Typen am Start hatte oder auf irgendwelche Partys gegangen ist, um Leute abzuschleppen, sondern ich hatte meine Phasen.
Ich hatte in der Coronazeit vermehrt Sexdates tatsächlich, das hat sich dadurch, dass es einfach wirklich Daten-Daten in der Corona Zeit nicht gab, gab es dann halt eher Sexdates, weil die Leute halt auch gar nicht bereit waren sich zu öffnen. Und das habe ich irgendwie angenommen in Anführungsstrichen und habe das halt auch gemacht.
Das hat auch zu dem Zeitpunkt ganz gut getan, auch wenn es nur für 20, 25, 30 Minuten irgendwie war.
Erzähler
Und jetzt? Wie werden Dates künftig reagieren, wenn er ihnen von seiner Krankheit erzählt? Seit der Diagnose vor wenigen Monaten, hat er niemanden mehr
kennengelernt.
Michael
Ich kann gerade noch nicht. Also es ist tatsächlich einfach noch der Moment, wo ich...
Das ist halt einfach eine sexuell übertragbare Krankheit.
Ole
Hast du Angst davor, dass auf Ablehnung zu treffen, wenn du Leuten auf diversen Dating Plattform schreibst und damit um die Ecke kommst und sagst: Übrigens, ich bin HIV-positiv?
Michael
Also ich würde das nie online jemandem schreiben, den ich nicht kenne. Ich würde das erst einer Person sagen, wenn ich sie persönlich getroffen hab und wirklich ‘ne
freundschaftliche oder bekanntschaftliche Ebene herrscht, weil ich habe es nicht mal meiner Familie erzählt, warum sollte ich das einer wildfremden Person erzählen, die eigentlich keine Relevanz in meinem Leben hat, außer dass man sich vielleicht zwei, dreimal getroffen hat?
Ole
Aber das beantwortet nicht die Frage, ob du Angst davor hast, auf Ablehnung zu treffen.
Michael
Ja, natürlich, klar, das gehört dazu, das gehört dazu.
Erzähler
Die Angst beschäftigt Michael. Der Virus ist wie eine Barriere für ihn. Fühlt sich an, wie ein Geheimnis. Ich kenne Michael eigentlich als jemanden, der viel unterwegs ist.
Selten allein ist.
Michael
Ich habe einige Jobs hinter mir, die verschiedensten Jobs. Ich habe mich nie mit einer Sache irgendwie zufriedengegeben. Ich wollte immer viel, also am besten gleichzeitig.
Ole
Immer mit Menschen auch gearbeitet?
Michael
Genau. Ich bin jemand. Ich arbeite sehr, sehr gerne im Team. Ich arbeite gerne auf Augenhöhe. Ich arbeite inzwischen auch seit über zwei Jahren im selben Job, was für mich sehr untypisch ist. Es ist eine klassische Bürotätigkeit, eine Assistenzstelle. Und nebenher arbeite ich noch freiberuflich. Ich habe meine Leidenschaft für Drag entdeckt vor ein paar Jahren und bin dann irgendwie ins Nachtleben gefallen und das mache ich dann quasi in der anderen Hälfte der Woche.
Erzähler
Zu seinem Alltag gehören nun auch die kleinen, rosafarbenen Tabletten. Die Medikamente unterdrücken die Vermehrung des Virus in Michaels Körper. Einmal täglich muss er sie nehmen – und das, nach heutigem medizinischem Stand, für den Rest seines Lebens. Ende 2020 hat die Europäisch Kommission aber auch ein
alternatives Medikament zugelassen. Einen Wirkstoff, der einmal im Monat per Spritze injiziert werden kann.
Michael
Es ist immer sehr ambivalent, weil an manchen Tagen geht es einem damit total gut und man schmeißt sich irgendwie beschwingt die Tablette ein. Und an manchen Tagen sieht man halt diese Tablette als so eine Erinnerung an das, dass man halt krank ist und das ist dann ganz, ganz schwer manchmal auch.
Ole
Was, wann war denn der letzte Tag, an dem es schwer war. Und warum?
Michael
Ich glaube jetzt am Wochenende.
Ole
Was war da?
Michael
Das kann man nicht so … das ist so von der Tageslaune abhängig. Also es gibt da keine Auslöser. Es ist so ein bisschen, man ist vielleicht gerade irgendwie gut drauf und dann greift man zur Tablette, weil man sich denkt: Ah, okay, gut, ich muss auch noch meine Medizin nehmen. Und dann wird einem das wieder so bewusst. Also das holt einen dann aus dem Alltagstrott irgendwie raus. Und das deprimiert dann
manchmal, also manchmal ist es so egal, dass man sich die Tablette einschmeißt und manchmal geht’s einem dann schon so ein bisschen tiefer quasi.
Ole
Gibt es Tage und Situationen, wo du das komplett vergisst, dass du ...?
Michael
Nein, nicht, noch nicht. Also ich glaube, ich bin jetzt noch nicht in dem Zustand, dass ich ... Ich glaube, das braucht Zeit.
Erzähler
Dezember 2020. Für Michael geht ein anstrengendes und intensives Jahr zu Ende. Er hat sich verändert. Ich erlebe ihn ruhiger, als vorher. Besonnener.
Michael
Ich musste ganz oft einfach lachen, weil ich die Situation dann auch irgendwie grotesk und lustig fand, weil ich dachte: Das gibt's doch nicht. Also du, du, also du schützt dich mit einer Maske, mit Abstand halten etc. Und holst dir dann in dieser Zeit eben noch einen anderen Virus in den Körper.
Ich habe mir viele Gedanken darüber gemacht, wie ich meinen Körper so behandelt habe in den letzten Jahren. Einfach. Ich hab nicht drauf geachtet. Ich hab, war nie der exzessive Sporttyp. Ich hab nie wirklich, naja, geguckt. Ich war halt am Feiern und Tanzen und Unterwegssein und habe jetzt nie so in mich rein geguckt und hab mal meinen Körper gefragt, wie es ihm so geht damit. Weil man macht ja schon mit seinem Körper ganz schön viel und der ist ja ganz schön belastbar, Gott sei Dank, so! Aber ich hab das halt nie hinterfragt.
Erzähler
Anders als ursprünglich geplant, hat Michael sich kurzfristig dazu entschieden, seine Familie an Weihnachten nicht in der Heimat zu besuchen. Er will seine Eltern und Großeltern vor Corona zu schützen.
Michael
Also ich bin aufgewachsen im tiefen Süden. Und. Habe dann irgendwann mal gemerkt, ich bin sehr homosexuell. Ich muss in die nächstgrößere Stadt fliehen, was ich dann auch gemacht habe. So und habe dann da angefangen zu arbeiten, habe studiert.
Relativ behütet aufgewachsen, wie das halt so auf dem Land ist. Also ich sage jetzt mal Mittelschicht, Mittelstand, so ganz normal mit Geschwistern.
Ole
Wie ist dein Verhältnis zu deiner Familie heute?
Michael
Es ist ein gutes Verhältnis. Es war eine Zeit lang ein bisschen schwierig. Wir haben auch mit unseren Dramen zu kämpfen. Eines der Dramen ist halt einfach, dass ich ein sehr offener, lebender Mensch bin und das war auch damals in der Schule schwierig, ich habe mich mit 13 oder 14 geoutet und mir war das total wurst, was die anderen dachten oder denken. Oder heute immer noch denken. Und es ist... Wir als Familie halten schon zusammen. Wir sind wir. Aber es gibt halt immer Aufs und Abs.
Ole
Hast du das einer Person erzählt, die dir nahesteht? Mittlerweile? Aus deiner Familie?
Michael
Ja, ich hab's meinem Bruder und seiner Frau erzählt und… Ich hab mich, ich habe so ein bisschen das Gefühl gehabt, wenn ich mal eine Familie gesehen habe, dass ich irgendwie sagen muss: Hallo, huhu, so ich hab da was, News. Und als ich es meinem Bruder und seiner Frau erzählt hab, ist was abgefallen.
Mein Bruder und ich haben ab und zu mal so ein Bedürfnis, emotional aufzuräumen.
Jeder für sich und das kam an dem Tag auch. Also wir haben uns ein wenig gezankt und gezofft und dann sind ein paar Argumente gefallen. Und dann dachte ich: Okay, jetzt muss ich mal ganz kurz hier erklären, warum, wieso, weshalb und hab dann gemeint. Leute, hört mal ganz kurz zu. Ich bin seit 6 Monaten HIV positiv und
deswegen haben sich ein paar Sachen verschleppt. So und dann war kurz Ruhe und dann habe ich ihnen, also ich hab's so gedreht, ich habe halt so angefangen, ich hab gemeint: Hey, es gibt was Neues. Mir geht's total gut. Ihr müsst euch keine Sorgen machen. Bla bla bla. Ich bin gesund. Alles fein. Aber ich bin halt positiv getestet worden und hab so ein bisschen erzählt, wie das halt passiert ist.
Michael
Mir geht es damit tatsächlich deutlich besser. Ich habe deutlich jetzt Respekt vor dem Gespräch mit meinen Eltern.
Ole
Das heißt, du wirst das Gespräch mit deinen Eltern bald führen, oder?
Michael
Bald ist glaube ich übertrieben, aber ich werde das Gespräch irgendwann mal führen.
Michael
Ich glaube, die würden viel mehr Tohuwabohu drum machen, als es tatsächlich ist.
Und als ich das gerade gebrauchen kann. Also ich glaube, für meine Familie wäre das auch, weil meine Eltern beide die AIDS-Zeit in den 80ern miterlebt haben, glaube ich, dass die noch viel stereotyper agieren würden und das emotional nicht verkraften würden. Zumindest nicht so, wie ich mir das wünschen würde.
Erzähler
Er kennt die Bilder von der AIDS-Krise der 80er und 90er Jahre. Weiß, dass zu Beginn eigentlich niemand genau wusste, wie sich die Krankheit verbreitet. Ob die
Quarkspeise im Krankenhaus überhaupt ohne Gummihandschuhe ausgegeben
werden darf. Ob anhusten schon tödlich sein kann. Ein Gefühl der Ohnmacht. Fast so, wie bei Corona. In genau dieser Zeit verlor Michaels Vater einen guten Freund.
Was empfinden Sie, wenn Sie in letzter Zeit so viel über AIDS in den Zeitungen lesen?
Eine Straßenumfrage in Köln, 1986.
Junge Frau
Das Schlimme ist, dass es sich eben auch auf Personen ausbreiten kann, die eben nicht Kontakte halten zu, wie man sagt, also eben Homosexuellen. Das breitet sich ja unheimlich aus.
Mann
Was im Mittelalter die Pest ist, gewesen ist, das sind heute diese modernen
Krankheiten und äh… der Mensch ist übersättigt und dann kommt Homosexualität und Lesben und diese ganzen Geschichten. Da lässt sich das eben nicht vermeiden.
Ole
Was denkst du, wenn du das hörst von damals? Das ist 30 Jahre her, 40.
Michael
Ein Freund von mir hat, der ist ‘nen Tick älter und hat es miterlebt, und er hat auch gesagt, damals hätte ich gesagt: Schönes Leben noch. So und heute sagt er lucky you.
Du lebst in 2021.
Erzähler
Ein junger Mann, Teilnehmer einer HIV-Selbsthilfegruppe. 1985.
Junger Mann
Ich habe einen Freund im Krankenhaus besucht. Ich hatte ihn jetzt vor circa einer Woche schon einmal besucht. Er hat hier sehr lange in der Gruppe mitgearbeitet.
Vielleicht sechs Monate inzwischen befindet er sich in einem Zustand, wo das Gehirn angegriffen ist. D.h. er ist nicht mehr ganz bei vollem Bewusstsein, in so einer, ja, so Halbschlaf eigentlich. Ich saß längere Zeit bei ihm. Er ist eigentlich ein starker Mann.
Ist sehr stark abgemagert. Das war für mich sehr erschütternd das mit anzusehen. Ich saß dann und hielt seine Hand und sprach mit ihm. Sagte seinen Namen und nach einiger Zeit merkte ich, wie er sich konzentrierte.
Michael
Dieses Traumata ist Teil meiner Diagnose, das kann ich nicht wegdenken, weil diese Schrecken, die gehören irgendwie auch damit rein. Ich glaube, dass meine Eltern oder oder die Generation meiner, unserer Eltern dann noch mal einen ganz anderen Zugang
Erzähler
Michael will mit jemandem über seine Erfahrungen sprechen, der wirklich
nachvollziehen kann, wie es ihm heute geht. Er trifft sich mit David. 28 Jahre alt, seit knapp acht Jahren positiv.
Michael und er haben sich lange nicht gesehen. Sie kennen sich schon lange. Haben auf einem gemeinsamen Job kennengelernt.
David
Genau, vor zehn Jahren. Also schon ganz so eine ganze, ganze, ganze Weile.
Ole
Habt ihr die ganzen über die ganzen zehn Jahre immer Kontakt gehabt?
Michael
Unregelmäßig. Ja. Also. Ja
Erzähler
David erzählt Michael, wie er heute mit der Infizierung umgeht.
David
Bei mir ist das wirklich mittlerweile so, dass ich nicht mehr jeden Tag an meine Infektionen denke, selbst wenn ich die Tablette nehme. Das ist so in meinem System drinne, dass das ein Automatismus ist. Ich nehme die Tablette und verbinde damit gar nicht mehr diese Infektion. Ich bin da mittlerweile echt. Auch das ist kein großes Thema mehr so.
David
Niemand weiß, wie das ist, diese Diagnose zu haben. Ich hatte da auch schon krasse körperliche Beschwerden, also viele krank ... Also so Infektionskrankheiten, weil mein Immunsystem geschwächt war. Und mit der Medikation ist das weggegangen. Die körperlichen Beschwerden waren weg und damit war das Leben erstmal normal.
Irgendwann kam dann so ein paar Ereignisse, die mich da richtig reingeworfen haben.
Also wo ich das psychisch dann auch einfach begriffen habe. Und da habe ich mir eigentlich jemanden gewünscht, mit dem ich reden kann.
Erzähler
Michael hört David interessiert zu. Er wirkt noch ruhiger als sonst, in sich gekehrt, nachdenklich. Er stellt nur wenige Fragen. Hört zu.
David
Hatte ich Fragezeichen? Ich weiß es gar nicht. Nein, nein. Also die erste Zeit hatte ich gar keine Fragen, das war einfach. Ich war geflasht mit dieser Diagnose. Bei mir gab's eher so Sachen, dass ich so Todesangst hatte. Also mehr der Zustand an sich. Ich hatte nicht konkret Fragen. Es war mehr so das Bewusstsein, das jetzt zu haben, dass ich nicht weiß. Also was das jetzt konkret heißt, was das auf lange Sicht machen kann mit mir. Und du kriegst halt einen totalen Psycho-Knacks. So also ich stand halt jedes kleine Ding, was du am Körper hast. Jeder Schmerz. Den interpretierst du auf einmal ganz, ganz anderes. Und ich weiß halt, also mir, ich dachte dann: Okay, ich bin morgen tot. Das ist Krebs.
Michael
Oh wow! Also genau diese Gedanken hatte ich auch. Die letzten zwei Wochen. Das ist echt so.
Ich bin halt aus dem Gespräch raus und hab mich gesehen und gehört gefühlt, im Sinne von: Es gab halt unglaublich viele Parallelen und das hat gut getan, einfach zu wissen. Ah, okay, gut, er hatte auch Todesangst. Okay, er hat auch gedacht, bei jedem Wehwehchen. Ah, okay. Es ist das und das und das. Und was ich mitgenommen habe ist, er hat ja acht Jahre, ich habe jetzt ein Jahr. Wie entspannt er ist. Also nach acht Jahren dazusitzen und darüber zu reden und nochmal zu reflektieren und auch
nochmal diese ganzen persönlichen Erfahrungen halt einfach teilen zu können und die dann halt einfach ja, stimmt so was bei mir auch. Das hat total geholfen.
Erzähler
April 2021. Seitdem Michael mit der HIV-Therapie angefangen hat, gehören
regelmäßige Arztbesuche zu seinem Leben dazu. Etwa alle drei Monate muss er zur Blutentnahme, um zu prüfen, ob die Medikamente anschlagen und wie hoch die Viruslast in Michaels Körper ist.
Michael
Also Schockstarre ist glaube ich jetzt langsam vorbei, es ist jetzt eher: Wie bringe ich das in meinem Alltag unter? Also es fehlt einfach eine bestimmte Leichtigkeit. Mein aktueller Zustand ist ja, dass die Medikamente mehr als gut anschlagen, ich körperlich extrem fit bin, mein Arzt gesagt hat, ich bin Vorzeige Patient.
Erzähler
Die HIV-Therapie zeigt Wirkung. Angst jemanden anzustecken hat Michael trotzdem.
Aber wenn die Viruslast unter der Nachweisgrenze ist, können die HI-Viren im Blut nicht mehr gemessen werden. Der Virus kann dem Körper so nicht mehr schaden. Die Nachweisgrenze liegt bei 20 bis 40 sogenannten Viruskopien pro Milliliter Blut.
Michael
Und dann haben wir die Viruslast bestimmt. Und die ist jetzt noch weitaus niedriger als beim letzten Mal. Jetzt liegt sie bei 13.
Ole
Das heißt, du bist offiziell ....
Michael
Jetzt bin ich ganz offiziell unter der Nachweisgrenze und darf alles tun und machen, was ich will.
Ole
Wie fühlt sich das an?
Michael
Es war ziemlich erleichternd, tatsächlich. Also es war so: Cool! Alles, alles wieder normal, so alles wieder in Ordnung.
Ich habe heute schon getindert, habe ich glaube, ich hab keine Likes mehr!
Erzähler
Michael wischt auf seinem Smartphone rum. Hat die Dating-App Tinder geöffnet. Er hat so viele Leute nach links und rechts gewischt, dass er nun 24 Stunden warten muss, bevor er weiter machen kann.
Michael
Ich habe insgesamt jetzt glaube ich zehn Matches gehabt. Und von den zehn Matches habe ich fünf wieder gelöscht oder jetzt sind es wieder elf. Ich habe jetzt am
Wochenende eine Person getroffen, wo ich vorab gesagt: Hey, wir können uns gerne treffen, draußen auf ‘nen Kaffee und ich habe das Pflaster abgezogen. Ich habe gemeint: Aber du musst eine Sache wissen. Teil meines Lebens ist eben HIV und du musst entscheiden, ob du mit jemandem dich treffen willst.
Ole
Also das war zum ersten Mal, dass du das vor einem Date erzählt hast, dass du HIV positiv bist, oder? Zum ersten Mal, dass du rausgegangen bist und gesagt hast: Das gehört zu mir. Und das bevor du die Person getroffen hast, das gesagt hast, oder?
Michael
Ja, das allererste Mal.
Ole
Wie kam das dazu? Beschreibe mal die Situation, in der du der Person das mitgeteilt hast. Wie?
Michael
Ganz simpel über WhatsApp. Dann sind wir ins Plaudern gekommen und irgendwann mal, als es dann darum ging, dass man sich trifft, hab ich mir überlegt: Also
irgendwann mal muss ich so oder so damit anfangen. Also es ist für mich unpraktisch, so blöd das klingt, wenn ich mich mit ihm treffe und wir haben eine schöne Zeit und dann sage ich ihm das irgendwann mal, wenn es da halt mal auch zu Sex kommt und sage ihm das und dann rennt er schreiend raus.
Ole
Ist es die Angst, dass der dann schreiend rausläuft, wenn du sagst: Ach, übrigens …
Michael
Auch. Oder dass halt der Satz kommt: Hättest du das nicht früher gesagt? Das ist so.
Also ich möchte so normal leben können, wie ich will, wie es geht und wie ich halt auch möchte mit dieser Krankheit. Und ein Teil davon ist natürlich auch ehrlich zu sein.
Erzähler
Bisher hatte Michael keine Berührungspunkte mit dem, wovor er zu Beginn große Angst hatte. Mit Diskriminierung.
Ole
Hast du Angst davor, dass das passiert? Hast du Angst davor, dass irgendwann mal
‘ne negative Reaktion kommt?
Michael
Ja, aber das ist aus meiner jetzigen Perspektive nicht mein Problem. Ich lebe mit dieser Infektion. Ich weiß, wie sich das anfühlt, da durchzugehen. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man die Tablette nimmt. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man gefühlt 20 Liter Blut abgenommen bekommt. Ich. Ich lebe damit. Und wenn irgendjemand irgendetwas dagegen sagen sollte, dann ist es nicht meine Sache. Weil das sind seine Traumata, das sind seine Stereotypen, das sind seine Vorurteile. Und damit habe ich nichts zu tun. Dann ist das halt einfach ein Arschloch. Es tut mir leid. Also dann drehe ich mich um. Lächle vielleicht. Vielleicht, wenn ich Bock habe, nehme ich ihn auch in den Arm und sage: Alles wird gut. Du wirst das zu überstehen. Werde ein besserer Mensch. Du Arsch. Und dann gehe ich. Weil es ist nicht mein Problem mit Menschen, die damit nicht umgehen können, umzugehen. Ich hab. Ich hab meine eigene Scheiße.
Ich muss damit umgehen lernen.
Erzähler
Wie geht es anderen Betroffenen? Eine Studie der “Deutschen Aidshilfe” und des
“Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft” fragte im September 2021 nach den Erfahrungen von HIV-positiven.
95 Prozent der Befragten berichten von mindestens einer diskriminierenden Erfahrung innerhalb der letzten 12 Monate aufgrund von HIV. Etwas mehr als die Hälfte geben an, durch Vorurteile bezüglich der HIV-Infektion in ihrem Leben beeinträchtigt zu sein.
Dabei schützt das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz vor Diskriminierung aufgrund einer HIV-Infektion. Für Betroffene gibt es Anlaufstellen: regionale Aidshilfen oder Kontaktstellen für HIV-bezogene Diskriminierung.
Sommer 2021. Michael durchläuft verschiedene Phasen. Sie liegen irgendwo zwischen Trauer und Aufbruch. Ihm hilft die Flucht in eine andere Welt. Heute kann er zum ersten Mal seit dem Beginn der Corona-Pandemie wieder als Drag-Queen auftreten.
Es ist auch das erste Mal seit seiner HIV-Diagnose. Er sitzt vor seinem Schminkspiegel.
Michael
Ich bin jemand über, durch meine, durch mein Alter Ego drücke ich viele meiner Gefühle aus und verarbeite auch viel. Auf der Bühne kann ich, kann ich, ich selber sein, weil ich viel zentriert bin in mir drin auch und ich kann über alles sprechen, was mich berührt und was mich bewegt. Das ist als ungeschminkte Person manchmal nicht so einfach.
Ole
Hast du das Gefühl, dass dein Drag Persona, dein Alter Ego, sich durch die Diagnose auch verändert hat?
Michael
Ole
Erklär mal.
Michael
Naja, sie ist halt eine fertige Kunstfigur und sie hat mit dem Thema eigentlich gar nichts zu tun.
Erzähler
Michael malt sich ein neues Gesicht auf – mit viel Rouge, Glitzer und Lippenstift.
Ole
Was bist du so für eine Drag Queen?
Michael
Ich bin eher die gutgelaunte Drag Queen. Also ich bin keine, keine Beauty Drag Queen. Ich bin eher so eine schrottigen Alte mit Hang zum Glitzer-Fummel.
Erzähler Im Taxi.
Ole
Bist du aufgeregt wegen heute Abend?
Michael
Also ich bin immer aufgeregt. Es ist egal, was das, also ob das wie, wie ein Safe Space ist oder ob das andere Veranstaltungen sind, das gehört dazu. Und wenn ich das nicht hätte, dann wäre irgendetwas nicht richtig. Das braucht man auch einfach. Also wenn du nicht aufgeregt bist, dann stimmt irgendwas nicht.
Erzähler
Einen Monat später.
Michael
Kurz, es scheint jetzt irgendwie doch alles ganz gut zu laufen, ich habe jetzt gerade irgendwie so ein paar Boys - 5, 6 sogar - die alle irgendwie Bock haben, sich zu treffen.
Was voll schön ist, Ole. Das macht mich gerade voll happy. Mit einem schreibe ich schon. Der ist super toll. Das rückt in nahe Zukunft. Ich habe jetzt auch für mich entschieden: Das ist totales Schwachsinn jetzt irgendwie hinter’m Berg zu halten. Ich sage jetzt einfach: Hey, ja, HIV Positiv und so. Und die meisten sind total offen und toll.
Und der eine hat sogar geschrieben: Ja, ich nehme auch PrEP, also musst du dir gar keine Sorgen machen. Voll schön. Tut voll gut gerade. Dann genieß dein
Wärmflaschenwetter und genieß deinen Sonntag. Ich freue mich, wenn wir uns bald wieder sehen.
Michael
Was ich gut fand. Dass er eben PrEP nimmt, also diese Medikamente, damit man kein HIV bekommt, wenn man durch Zufall ungeschützten Verkehr hat. Und das war sehr, sehr schön, weil er auch sehr lange in der HIV Prävention gearbeitet hat und dadurch auch … ich sehe es so ein bisschen wie: Das Universum hat mir gerade jemanden geschickt. Das klingt jetzt sehr esoterisch. Der beim ersten Mal nach der Diagnose unglaublich sensibel ist und verantwortungsbewusst und Themen, sich in dem Thema einfach gut auskennt.
Ole
So, aber wie ging es dir direkt danach? Also ich mein ja so psychisch?
Michael
Gut, ich war sehr ausgelassen. Ich war sehr ausgelassen. Ich war sehr entspannt und hab das Gefühl gehabt, dass schon was von mir abgefallen ist.
Erzähler
Die PrEP, die Michael hier anspricht, ist eine Schutzmethode, um sich vor einer Ansteckung mit HIV zu schützen. PrEP ist die Abkürzung für Prä-Expositions- Prophylaxe. Tabletten. Darin enthalten sind zwei von drei Wirkstoffen, die auch HIV- positive Menschen bei einer Therapie täglich einnehmen müssen.
Diese gelangen dann in die Zellen, die beim Geschlechtsverkehr mit fremden Körperflüssigkeiten oder Schleimhäuten in Kontakt kommen.
Sollten HI-Viren eindringen, sorgt die PrEP dafür, dass sie sich nicht vermehren. Eine HIV-Infektion wird so verhindert. Die Medikamente müssen bei einer dauerhaften Prophylaxe täglich eingenommen werden. Nur so kann sichergestellt werden, dass genügend Wirkstoff im Körper vorhanden ist. Seit September 2019 werden die Kosten für die PrEP bei Menschen mit erhöhtem HIV-Risiko von den gesetzlichen
Krankenkassen übernommen. Dass sich auch seine Dates mit mehr als Kondomen schützen können, gibt Michael Sicherheit.
Ole
Und wird gerade weiter gedatet oder ist jetzt erst einmal wieder gut?
Michael
Es wird weiter gedatet. Auf jeden Fall. Ich habe wieder Blut geleckt.
Erzähler
Juli 2021. Die regelmäßigen Kontrolltermine beim Arzt bestätigen: Michael ist fit. Die Therapie läuft weiterhin erfolgreich.
Michael wirkt auf mich deutlich gelassener und entspannter im Umgang mit seiner HIV- Infektion.
Michael
Ich hätte heute das erste Mal das Gefühl, ich nehme jetzt halt mal eine Tablette und ...
Ich nehme halt meine Tablette. Also es ist eher so Alltag geworden, was sich gut anfühlt.
Ole
Glaubst du, ist der Schock vorbei? Und jetzt ist es das Teil des Lebens?
Michael
Ich will nicht sagen, dass der, also der Schock ist zwar vorbei, aber die Schockwelle ist einfach noch ... Es fühlt sich aber deutlich beruhigter an. Ich merke einfach gerade so:
Es geht bergauf.
Ole
Gibt's noch Momente zur Zeit, wo du schon auch noch sauer bist, dass du damals nicht gesagt hast, ey nimm ein Kondom, Alter?
Michael
Nee, tatsächlich nicht. Also es ist. Es ist schwierig, da irgendwie jetzt auf die Personen wütend zu sein, die mir das angehangen hat, weil der Moment an sich ja dann doch eigentlich ganz schön war.
Ole
Naja. Aber ich meinte auch eher sauer auf dich, weil das wär ja auch ein bisschen wie, also es wäre ja an beiden gewesen. Du hättest ja auch sagen können: So nicht.
Michael
Ja, ich bin natürlich auch wütend gewesen auf mich. Und ich hab auch. Aber ich bin es auch immer noch, dass ich mir denke, jetzt hast du dir das irgendwie selber
zuzuschreiben, in Anführungsstrichen. Aber das bringt mich also. Da versuche ich, so rational wie möglich dran zu gehen. Ich habe gedacht, es bringt dich nicht weiter. Ich kann mich jetzt in dieser, in diesem Schuldeingeständnis mir selbst gegenüber irgendwie verlieren und kann mich deswegen irgendwie keine Ahnung hassen. Oder, wie du gerade meintest, ich kann halt kämpfen und mich darum bemühen, dass ich für mich einstehe und sage: Also, ich bin ja der eine Teil, der sagt ‘Ich hasse mich’, in Anführungsstrichen, aber ich kann auch der andere Teil sein und sagen ‘Ich liebe mich’. Also es ist so. Es ist meine ganz persönliche Entscheidung, wie ich damit umgehe. Ich hab keine Lust. Ich hab keine Lust, mich damit auseinanderzusetzen im Negativen, sondern ich werde jetzt gucken: Okay, was gibt's denn für Möglichkeiten?
Was gibt's für Chancen? Kann ich. Keine Ahnung. Vielleicht irgendwann mal auch anderen Leuten mit meiner Erfahrung helfen. Also das ist alles noch sehr weit gedacht.
Aber ich will versuchen, das Beste draus zu machen. Weil mir bleibt nichts anderes übrig.
Erzähler
August 2021. Vor genau einem Jahr hat Michael das Testzentrum in seiner Stadt betreten. Wie sonst auch alle paar Monate einen Test auf sexuell übertragbare Krankheiten gemacht. Und wurde positiv auf das HI-Virus getestet. Seitdem hat sich viel verändert. Aber nicht ganz so viel, wie er zu Beginn dachte. Er kann ein
weitestgehend normales Leben führen.
Michael
Ich hab den Geburtstag quasi damit verbracht … Also. Ich habe den Vorabend des Geburtstages quasi damit verbracht, mir in einer meiner Lieblingsbars Champagner zu gönnen und dann den Geburtstag quasi damit verbracht. Ein ganz toller, geselliger Runde, ohne dass die anderen es wussten. Diesen Geburtstag zu feiern.
Erzähler
Mal denkt Michael häufiger an seine Infektion, mal seltener. Noch immer erlebt er emotionale auf und abs. Er geht offen mit seiner Erkrankung um. Nur seinen Eltern will er noch nicht davon erzählen. Damit will er sich noch Zeit lassen.
Michael
Es wird Teil meines Lebens bleiben. So ist es identitätsstiftend irgendwo.
Ole
Das heißt: Irgendwann erfahren sie es?
Michael
Genau. Irgendwann, irgendwann schon
Erzähler
Wer sich mit dem HI-Virus angesteckt hat, kann nach heutigem Stand, nicht geheilt werden. Doch die Forschung macht immer weitere Fortschritte: Verschiedene Verfahren werden entwickelt und erprobt. Bis Ende 2019 liefen fast 100 Studien zur HIV-Heilung. Laut Medienberichten wurde im Herbst 2021 in den USA eine sogenannte funktionelle Heilung von HIV zum Test am Menschen zugelassen.
Michael
Ich kann mich noch … Das ist auch eines unserer ersten Gespräche gewesen, dass ich auch gesagt habe: Ja, ich habe das jetzt. Aber ganz nüchtern, ich gehe tatsächlich davon aus, dass ja in unserer Generation das noch so sein wird, dass wir das erleben werden, dass die Ersten geheilt werden. Ob das, ob das uns betrifft, ob die
Medikamente so gut sind, weil wenn das Virus natürlich länger im Körper ist, hat sich jetzt auch noch irgendwie anders festgesetzt. You'll never know. Aber ich glaube, wir werden das schon erleben.
Erzähler
Der Virus ist Teil seines Lebens. Das macht ihm immer wieder etwas Angst. Doch er will Leben. Und das geht auch mit dem Virus.
Michael
Und dass ich halt Teil dieses Lebens sein will. Und das sind meine Freunde, meine Familie, das sind die Menschen, die mir noch begegnen werden in meinem Leben. Und ich möchte ja Teil dieses, dieses Ganzen irgendwie sein und halt auch bleiben und ich sage es mal ganz plump, funktionieren können und mitnehmen können und mein Leben genießen. Und das hat mir so viel Angst gemacht. Zu viel. Aber im Endeffekt die Erkenntnis zu haben, es ist ja einfach auch nur aus dem Respekt heraus, dem Leben gegenüber, das war irgendwie eine ziemlich heilsame Erfahrung oder halt eine heilsame Erleuchtung. Irgendwie.
ABSAGE
HIV Positiv – Michaels erstes Jahr mit dem Virus Ein Feature von Ole Siebrecht
Es sprach: TBA
Technische Realisation: TBA Regieassistenz: TBA
Regie: Matthias Kapohl
Redaktion: Johannes Nichelmann und Thomas Nachtigall
Eine Produktion des Westdeutschen Rundfunks mit Deutschlandfunk Kultur, 2021.