Bergische Universit¨ at – Gesamthochschule Wuppertal – Fachbereich Mathematik
Analysis 3
Kapitel 5 Differentialgleichungen
Vorlesungsausarbeitung zum WS 2001/02 von Prof. Dr. Klaus Fritzsche
Inhaltsverzeichnis
§1 Der Existenzsatz . . . . 116
§2 Beispiele und L¨ osungsmethoden . . . . 123 2.1 Differentialgleichungen mit getrennten Variablen
2.2 Lineare Differentialgleichungen
2.3 Differentialgleichungen h¨ oherer Ordnung 2.4 Transformationen
2.5 Pfaffsche Formen und exakte Differentialgleichungen
§3 N¨ aherungsl¨ osungen und lokaler Fluß . . . . 136
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den. Jede unauthorisierte kommerzielle Nutzung wird strafrechtlich verfolgt!
§ 1 Der Existenzsatz
Definition. Sei G ⊂ R × R
nein Gebiet und F : G → R
neine stetige Abbildung.
Unter einer L¨ osung der Differentialgleichung y
0= F (t, y)
versteht man eine Abbildung ϕ : I → R
nmit folgenden Eigenschaften:
1. I ⊂ R ist ein Intervall, und der Graph {(t, ϕ(t)) : t ∈ I} liegt in G.
2. ϕ ist stetig differenzierbar, und es ist ϕ
0(t) = F (t, ϕ(t)) auf I . Man nennt F auch ein zeitabh¨ angiges Vektorfeld. F¨ ur t ∈ R sei
G
t:= {y ∈ R
n: (t, y) ∈ G}.
Dann ist G
toffen, eventuell auch leer. Ist G = J × B, mit einem Intervall J und einer offenen Teilmenge B ⊂ R
n, so ist G
t= B f¨ ur jedes t ∈ J . Ist außerdem F nicht von t abh¨ angig, so spricht man von einem autonomen Vektorfeld auf B . Eine Integralkurve eines autonomen Vektorfeldes F auf B ist ein stetig differenzier- barer Weg α : J → B mit folgenden Eigenschaften:
1. J ⊂ I.
2. α
0(t) = F (α(t)) f¨ ur alle t ∈ J.
Ist F ein zeitabh¨ angiges Vektorfeld und ϕ eine L¨ osung der DGL y
0= F (t, y), so nennen wir α(t) := (t, ϕ(t)) eine Integralkurve.
Ist F zeitunabh¨ angig, so m¨ ochte man folgendes wissen: Gibt es zu jedem Punkt x
0∈ B eine Integralkurve α : J → B von F und einen Parameter t
0∈ J , so daß α(t
0) = x
0ist? Ist diese Integralkurve eindeutig bestimmt, und wie groß kann man J w¨ ahlen?
Ubertragen auf den zeitabh¨ ¨ angigen Fall, suchen wir zu jedem Punkt (t
0, x
0) ∈ G ein Intervall I und eine offene Menge B ⊂ R
nmit I × B ⊂ G, so daß eine Integralkurve α von F mit α(t
0) = (t
0, x
0) existiert. Die Abbildung ϕ(t) := pr
2◦ α(t) ist dann eine L¨ osung der Differentialgleichung. Ist umgekehrt eine L¨ osung gegeben, so ist ihr Graph eine Integralkurve. K¨ onnen wir also Differentialgeichungen l¨ osen, so k¨ onnen wir auch Integralkurven von Vektorfeldern finden. Bei autonomen DGLn f¨ allt beides zusammen.
Ist ϕ eine L¨ osung von y
0= F (t, y) und ϕ(t
0) = x
0, so sagt man, ϕ erf¨ ullt die Anfangsbedingung (t
0, x
0). Die L¨ osung heißt maximal, wenn sie sich nicht zu einer L¨ osung mit gr¨ oßerem Definitionsbereich fortsetzen l¨ aßt.
1.1 Satz. Ist ϕ L¨ osung der DGL y
0= F (t, y) und F k-mal stetig differenzierbar,
so ist ϕ (k + 1)-mal stetig differenzierbar.
1 Der Existenzsatz 117
Beweis: Definitionsgem¨ aß ist ϕ einmal stetig differenzierbar, aber ϕ
0(t) = F (t, ϕ(t)) ist auch wieder stetig differenzierbar. Also muß ϕ sogar zweimal ste- tig differenzierbar sein. Dieses Argument kann man so lange wiederholen, bis der Differenzierbarkeitsgrad von F erreicht ist.
Beispiel.
Sei F : R
2→ R
2definiert durch F (x
1, x
2) := (−x
2, x
1). Die autonome DGL (y
10, y
02) = F (y
1, y
2) hat die L¨ osungen ϕ
r(t) := (r cos t, r sin t), r > 0, und die L¨ osung ϕ
0(t) ≡ 0. F¨ ur jeden Punkt (r, 0), r ≥ 0, gibt es genau eine L¨ osung ϕ
rmit ϕ
r(0) = (r, 0). Jedes ϕ
rist beliebig oft differenzierbar (was wir nat¨ urlich schon vorher wußten). Offen bleibt vorerst die Frage, ob es noch weitere L¨ osungen gibt.
Definition. Sei (t
0, x
0) ∈ R × R
n. Die Tonne mit Radius r und L¨ ange 2ε um (t
0, x
0) ist die Menge
T := [t
0− ε, t
0+ ε] × B
r(x
0).
Sei nun G ⊂ R × R
nein Gebiet und F : G → R
neine stetige Abbildung. Eine Tonne T ⊂ G mit Radius r und L¨ ange 2ε heißt Sicherheitstonne f¨ ur F , falls gilt:
sup
T
kF (t, x)k ≤ r ε .
B
r(x
0)
t
0− ε t
0t
0+ ε t x
(t
0,
rx
0)
1.2 Satz. Ist T
0eine beliebige Tonne um (t
0, x
0) mit Radius r und L¨ ange 2ε, so gibt es ein δ mit 0 < δ ≤ ε, so daß jede Tonne T mit Radius r und L¨ ange ≤ 2δ eine Sicherheitstonne um (t
0, x
0) ist.
Beweis: Sei M := sup
T0
kF k und δ := min(ε, r
M ). Dabei sei r/M := +∞ gesetzt, falls M = 0 ist. Dann ist r/δ = max(r/ε, M ), und f¨ ur die Tonne T gilt: sup
T
kF k ≤ sup
T0
kF k = M ≤ r
δ .
Definition. Sei G ⊂ R × R
nein Gebiet. Eine stetige Abbildung F : G → R
ngen¨ ugt auf G einer Lipschitz-Bedingung mit Lipschitz-Konstante k, falls gilt:
kF (t, x
1) − F (t, x
2)k ≤ k · kx
1− x
2k, f¨ ur alle Punkte (t, x
1), (t, x
2) ∈ G.
F gen¨ ugt lokal der Lipschitz-Bedingung, falls es zu jedem (t
0, x
0) ∈ G eine Umge- bung U = U (t
0, x
0) ⊂ G gibt, so daß F auf U einer Lipschitz-Bedingung gen¨ ugt.
1.3 Satz. Ist F stetig und nach den Variablen x
1, . . . , x
nstetig partiell differen- zierbar, so gen¨ ugt F auf jeder Tonne T ⊂ G einer Lipschitz-Bedingung.
Beweis: Sei T = I × B ⊂ G eine beliebige Tonne. Die partiellen Ableitungen F
xi(t, x) sind auf T stetig und damit beschr¨ ankt, etwa durch M > 0. F¨ ur t ∈ I ist f
t(x) := F (t, x) auf B (total) stetig differenzierbar, und es ist sup
BkDf
t(x)k ≤ n · M . Aus dem Schrankensatz folgt dann:
kf
t(x
1) − f
t(x
2)k ≤ n · M · kx
1− x
2k, f¨ ur x
1, x
2∈ B.
Da dies unabh¨ angig von t gilt, haben wir unsere gesuchte Lipschitz-Bedingung.
1.4 Satz. Sei G ⊂ R × R
nein Gebiet und F : G → R
nstetig. Gen¨ ugt F auf G lokal der Lipschitz-Bedingung, so gibt es zu jedem (t
0, x
0) ∈ G ein ε > 0 und eine Sicherheitstonne T ⊂ G mit Zentrum (t
0, x
0) und L¨ ange 2ε, so daß F auf T einer Lipschitz-Bedingung mit Lipschitz-Konstante k < 1/(2ε) gen¨ ugt.
Beweis: Sei U = U (t
0, x
0) eine Umgebung, auf der F einer Lipschitz-Bedingung mit Konstante k gen¨ ugt. Weiter sei T
0⊂ U eine Tonne mit Zentrum (t
0, x
0), Radius r < 1 und L¨ ange 2ε. Man kann ε so weit verkleinern, daß ε < 1/(2k) und T eine Sicherheitstonne ist.
1.5 Lokaler Existenz- und Eindeutigkeitssatz. Sei G ⊂ R × R
nein Gebiet, F : G → R
nstetig, (t
0, y
0) ∈ G. Es sei T = I × B ⊂ G eine Sicherheitstonne der L¨ ange 2ε mit Zentrum (t
0, y
0), auf der F einer Lipschitz-Bedingung mit einer Konstanten k < 1/(2ε) gen¨ ugt.
Dann gibt es genau eine L¨ osung ϕ : I → B der DGL y
0= F (t, y) mit ϕ(t
0) = y
0. Beweis: Es ist I = [t
0− ε, t
0+ ε] und B = B
r(y
0), f¨ ur ein gewisses r > 0. Wir betrachten den metrischen Raum
X := {ϕ : I → B : ϕ stetig, mit ϕ(t
0) = y
0}.
Offensichtlich ist X 6= ∅ , denn die Funktion ϕ(t) ≡ y
0geh¨ ort zu X. Durch
dist(ϕ, ψ) := sup
Ikϕ(t) − ψ(t)k wird eine Metrik auf X erkl¨ art.
1 Der Existenzsatz 119
Sei nun (ϕ
ν) eine Cauchyfolge in X. Sie konvergiert im Raum aller stetigen Ab- bildungen von I nach R
ngegen eine stetige Grenzfunktion ϕ
0. Da B abgeschlossen und ϕ
ν(t) stets in B enthalten ist, muß auch der Grenzwert ϕ
0(t) in B liegen.
Und die Relation ϕ
ν(t
0) = y
0bleibt ebenfalls beim Grenz¨ ubergang erhalten. Das bedeutet, daß ϕ
0wieder in X liegt. Der Raum X ist vollst¨ andig.
Als n¨ achstes definieren wir eine Abbildung S : X → C
0(I, R
n) durch (Sϕ)(t) := y
0+
Z
tt0
F (u, ϕ(u)) du .
Es ist klar, daß Sϕ stetig ist und Werte in R
nhat. Außerdem ist (Sϕ)(t
0) = y
0, und f¨ ur t ∈ I gilt:
k(Sϕ)(t) − y
0k = k Z
tt0
F (u, ϕ(u)) duk
≤ |t − t
0| · sup
T
kF (t, y)k
≤ ε · r ε = r.
Also liegt Sϕ wieder in X. Das bedeutet, daß S den metrischen Raum X in sich abbildet.
Wir wollen nun zeigen, daß S kontrahierend ist. F¨ ur ϕ, ψ ∈ X ist dist(Sϕ, Sψ) = sup
I
kSϕ(t) − Sψ(t)k
= sup
I
k Z
tt0
[F (u, ϕ(u)) − F (u, ψ(u))] duk
≤ ε · k · sup
I
kϕ(u) − ψ(u)k
< 1
2 dist(ϕ, ψ).
Das bedeutet, daß S genau einen Fixpunkt ϕ
∗besitzt. Nun gilt:
ϕ
∗(t) = (Sϕ
∗)(t) = y
0+ Z
tt0
F (u, ϕ
∗(u)) du.
Differenzieren auf beiden Seiten ergibt (ϕ
∗)
0(t) = F (t, ϕ
∗(t)). Damit ist ϕ
∗eine L¨ osung der DGL, mit ϕ
∗(t
0) = y
0.
Ist umgekehrt ϕ eine L¨ osung der DGL mit der gew¨ unschten Anfangsbedingung, so ist
Z
tt0
F (u, ϕ(u)) du = Z
tt0
ϕ
0(u) du = ϕ(t) − ϕ(t
0) = ϕ(t) − y
0,
also Sϕ = ϕ. Damit ist Existenz und Eindeutigkeit der L¨ osung ¨ uber I gezeigt.
Bemerkung. Das oben vorgestellte L¨ osungsverfahren nennt man das Verfahren von Picard-Lindel¨ of. Es ist konstruktiv in dem Sinne, daß man mit einer beliebigen Funktion (z.B. ϕ(t) ≡ y
0) starten kann und die gesuchte L¨ osung als Grenzwert der Folge ϕ
k:= S
kϕ f¨ ur k → ∞ erh¨ alt.
Betrachten wir als Beispiel noch einmal die DGL (y
10, y
20) = (−y
2, y
1). Sei ϕ
0(t) :=
(1, 0). Hier ist F (u, ϕ
1(u), ϕ
2(u)) = (−ϕ
2(u), ϕ
1(u)), also ϕ
1(t) = (1, 0) +
Z
t0
(0, 1) du = (1, t), ϕ
2(t) = (1, 0) +
Z
t0
(−u, 1) du = (1 − t
22 , t), ϕ
3(t) = (1, 0) +
Z
t0
(−u, 1 − u
22 ) du = (1 − t
22 , t − t
36 ) . Per Induktion zeigt man schließlich:
ϕ
2k(t) = X
kν=0
(−1)
νt
2ν(2ν)! ,
k−1
X
ν=0
(−1)
νt
2ν+1(2ν + 1)!
und
ϕ
2k+1(t) = X
kν=0
(−1)
νt
2ν(2ν)! ,
k
X
ν=0
(−1)
νt
2ν+1(2ν + 1)!
.
Das bedeutet, daß ϕ(t) := (cos(t), sin(t)) die einzige L¨ osung mit ϕ(0) = (1, 0) ist.
Im folgenden betrachten wir eine DGL y
0= F (t, y) auf einem Gebiet G ⊂ R × R
n. Die Abbildung F gen¨ uge lokal der Lipschitz-Bedingung.
1.6 Satz. Sei ϕ : [t
0, t
1] → R
neine L¨ osung. Dann gibt es ein t
2> t
1und eine L¨ osung ϕ b : [t
0, t
2) → R
nmit ϕ| b
[t0,t1]= ϕ.
Beweis: Nach dem lokalen Existenz- und Eindeutigkeitssatz gibt es ein ε > 0 und eine eindeutig bestimmte L¨ osung ψ : (t
1− ε, t
1+ ε) → R
nmit ψ(t
1) = ϕ(t
1).
Außerdem ist
ψ
0(t
1) = F (t
1, ψ(t
1)) = F (t
1, ϕ(t
1)) = ϕ
0(t
1).
Also ist ϕ b : [t
0, t
1+ ε) → R
nmit
ϕ(t) := b
ϕ(t) f¨ ur t
0≤ t ≤ t
1, ψ (t) f¨ ur t
1< t < t
1+ ε.
stetig differenzierbar und damit eine L¨ osung ¨ uber [t
0, t
1+ ε).
1 Der Existenzsatz 121
1.7 Satz (von der globalen Eindeutigkeit). Sind ϕ, ψ : [t
0, t
1) → R
nzwei L¨ osungen mit ϕ(t
0) = ψ(t
0), so ist ϕ = ψ.
Beweis: Nach dem lokalen Eindeutigkeitssatz gibt es ein ε > 0, so daß ϕ(t) = ψ(t) f¨ ur t
0≤ t < t
0+ ε ist. Ist ϕ = ψ auf ganz [t
0, t
1), so ist nichts mehr zu zeigen.
Andernfalls sei
t
∗:= inf{t ∈ [t
0, t
1) : ϕ(t) 6= ψ(t)}.
Dann ist t
0< t
∗< t
1, und es muß ϕ(t
∗) = ψ(t
∗) sein, denn die Menge aller t mit ϕ(t) 6= ψ(t) ist offen. Wegen der lokalen Eindeutigkeit w¨ are dann aber auch noch in der N¨ ahe von t
∗die Gleichheit von ϕ(t) und ψ(t) gegeben. Das ist ein Widerspruch zur Definition von t
∗.
1.8 Globaler Existenz- und Eindeutigkeitssatz. Zu vorgegebener Anfangs- bedingung (t
0, y
0) ∈ G gibt es Zahlen t
−, t
+∈ R mit t
−< t
0< t
+und eine L¨ osung ϕ : (t
−, t
+) → R
nmit folgenden Eigenschaften:
1. ϕ(t
0) = y
0.
2. ϕ l¨ aßt sich auf kein gr¨ oßeres Intervall fortsetzen.
3. Ist ψ : (t
−, t
+) → R
neine weitere L¨ osung mit ψ(t
0) = y
0, so ist ϕ = ψ.
4. Die Integralkurve Φ(t) := (t, ϕ(t)) l¨ auft in G
” von Rand zu Rand“ : Zu jeder kompakten Teilmenge K ⊂ G mit (t
0, y
0) ∈ K gibt es Zahlen t
1, t
2mit
t
−< t
1< t
0< t
2< t
+, so daß Φ((t
−, t
1)) ⊂ G \ K und Φ((t
2, t
+)) ⊂ G \ K ist.
Beweis: Wir beschr¨ anken uns auf die Konstruktion von t
+, die von t
−kann dann analog durchgef¨ uhrt werden. Es sei
ε
+:= sup{ε > 0 : ∃ L¨ osung ϕ
ε: [t
0, t
0+ ε] → R
nmit ϕ
ε(t
0) = y
0} und
t
+:= t
0+ ε
+.
Ist nun t ∈ [t
0, t
+), so gibt es ein ε mit t − t
0< ε < ε
+, und wir setzen ϕ(t) := ϕ
ε(t).
Diese Definition ist wegen der globalen Eindeutigkeit unabh¨ angig vom gew¨ ahlten ε, und ϕ ist deshalb auch eine L¨ osung der DGL. Nach Konstruktion von ε
+l¨ aßt sich ϕ nicht ¨ uber t
+hinaus zu einer erweiterten L¨ osung fortsetzen. Offensichtlich ist ϕ eindeutig bestimmt.
Der Beweis der letzten Aussage ist etwas komplizierter.
Sei Φ(t) := (t, ϕ(t)) f¨ ur t
0≤ t < t
+die zugeh¨ orige Integralkurve. Wenn die Be- hauptung falsch w¨ are, g¨ abe es eine kompakte Menge K ⊂ G und eine monoton wachsende und gegen t
+konvergente Folge (t
ν), so daß Φ(t
ν) ∈ K f¨ ur ν ∈ N gilt.
Wir nehmen an, das sei der Fall. Da K kompakt ist, muß dann die Folge (t
ν) be- schr¨ ankt sein, also t
+endlich. Außerdem muß es eine Teilfolge (t
νi) geben, so daß Φ(t
νi) gegen ein Element (t
+, y
+) ∈ K (und damit in G) konvergiert. Zur Vereinfa- chung der Schreibweise nehmen wir an, daß schon die Folge (Φ(t
ν)) gegen (t
+, y
+) konvergiert.
Sei T
0= [t
+−ε
0, t
++ε
0]×B
r0(y
+) eine Tonne, die noch ganz in G liegt. Dabei sei ε
0so klein gew¨ ahlt, daß F auf T
0einer Lipschitzbedingung mit Konstante k < 1/(2ε
0) gen¨ ugt. Weiter sei
M := sup
T0
kF k, ε := min ε
02 , r
02M
und r := r
02 ,
sowie T
1die Tonne mit Radius r und L¨ ange 2ε um (t
+, y
+). F¨ ur einen beliebigen Punkt (t, y) ∈ T
1ist die Tonne T = T (t, y) mit Radius r und L¨ ange 2ε um (t, y) eine in T
0enthaltene Sicherheitstonne, denn es ist
r
ε = max r
0ε
0, M
, also sup
T
kF k ≤ sup
T0
kF k = M ≤ r ε .
p p p p p p p p p p p p p p p p p p p p ppr
(t+,y+) (t,ry)
T T
1T
0Außerdem erf¨ ullt F auch auf T die Lipschitzbedingung mit der Konstanten k. Wir k¨ onnen das auf T
ν= T (t
ν, ϕ(t
ν)) anwenden, denn f¨ ur gen¨ ugend großes ν liegt (t
ν, ϕ(t
ν)) in T
1. Dann ist (t
+, y
+) in T
νenthalten. Nach dem lokalen Existenz- und Eindeutigkeitssatz gibt es genau eine L¨ osung ψ : [t
ν− ε, t
ν+ ε] → B
r(ϕ(t
ν)) mit ψ(t
ν) = ϕ(t
ν).
Offensichtlich wird ϕ durch ψ fortgesetzt, und zwar ¨ uber t
+hinaus. Das ist ein
Widerspruch!
2 Beispiele und L¨ osungsmethoden 123
§ 2 Beispiele und L¨ osungsmethoden
2.1 Differentialgleichungen mit getrennten Variablen
Unter einer Differentialgleichung mit getrennten Variablen versteht man eine Dif- ferentialgleichung der Form
y
0= f(x)g(y),
wobei f : I → R und g : J → R stetige Funktionen auf geeigneten Intervallen sind.
1. Fall: Ist g(y
0) = 0, so ist f¨ ur jedes x
0∈ I die konstante Funktion ϕ(t) = y
0die einzige L¨ osung mit ϕ(x
0) = y
0.
2. Fall: Sei J
0⊂ J ein offenes Intervall, auf dem g keine Nullstellen hat, und y
0∈ J
0. Ist ϕ eine L¨ osung auf I mit ϕ(x
0) = y
0, so muß f¨ ur alle t ∈ I gelten:
ϕ
0(t)
g(ϕ(t)) = f(t).
Also ist
Z
xx0
f (t) dt = Z
xx0
ϕ
0(t) g(ϕ(t)) dt =
Z
ϕ(x)y0
1 g(u) du.
Sei nun F eine Stammfunktion von f auf I und G eine Stammfunktion von 1/g auf J
0. Dann ist G
0(x) = 1/g(x) 6= 0 f¨ ur x ∈ J
0, also G dort streng monoton. Damit ist G umkehrbar und
ϕ(x) = G
−1(F (x) − F (x
0) + G(y
0)).
Die Probe zeigt sofort, daß ϕ(t) tats¨ achlich die DGL l¨ ost.
y(t) = y
2 (Nullstelle von g)y(t) = y
1 (Nullstelle von g)ϕ
.. .. .. .. .. .. .. .r
. . . . . . . . . . . . . . . . .r
y
0J
0I
r
x
0Bemerkung. Die Physiker haben – wie immer – eine suggestive Schreibweise daf¨ ur:
dy
dx = f(x)g(y) = ⇒ dy
g(y) = f(x) dx
= ⇒
Z dy g(y) =
Z
f (x) dx
= ⇒ G(y) = F (x) + c
= ⇒ y = G
−1(F (x) + c).
Damit y(x
0) = y
0ist, muß man c = G(y
0) − F (x
0) w¨ ahlen.
Als konkretes Beispiel nehmen wir die DGL y
0= xy.
Hier sind f (x) = x und g(y) = y auf ganz R definiert. Als Stammfunktionen k¨ onnen wir
F (x) := 1
2 x
2auf R und
G(y) := ln |y| auf jedem Intervall J, das nicht die Null enth¨ alt, nehmen. Dann ist
G
−1(z) =
e
zfalls J ⊂ R
+,
−e
zsonst, also
y(x) = G
−1(F (x) + c)
= ± exp( 1
2 x
2+ c)
= C · exp( 1
2 x
2), mit C ∈ R .
Das schließt insbesondere die L¨ osung y(x) ≡ 0 mit ein. Liegt J in R
+, so muß C > 0 gew¨ ahlt werden, sonst C < 0.
Als zweites Beispiel betrachten wir die DGL y
0= xy
2. Hier ist f(x) = x, also F (x) = 1
2 x
2, wie oben, sowie g(y) = y
2, also G(y) = − 1 y (auf jedem Intervall J , das nicht die Null enth¨ alt). Nach dem obigen Verfahren erhalten wir die L¨ osungen
y
c(x) = G
−1(F (x) + c) = − 1
x
2/2 + c = − 2 2c + x
2.
Hinzu kommt die konstante L¨ osung y(x) ≡ 0, die sich aus der einzigen Nullstelle von g(y) ergibt.
2.2 Lineare Differentialgleichungen
Eine allgemeine lineare DGL 1. Ordnung ¨ uber einem Intervall I hat folgende Ge- stalt:
y
0+ a(x)y = r(x), mit stetigen Funktionen a, r : I → R .
Ist r(x) ≡ 0, so spricht man vom homogenen Fall. Dann ist auf jeden Fall die
Funktion y(x) ≡ 0 eine L¨ osung. Suchen wir nach weiteren L¨ osungen, so k¨ onnen wir
voraussetzen, daß y(x) 6= 0 f¨ ur alle x ∈ I ist, und es gilt:
2 Beispiele und L¨ osungsmethoden 125
(ln|y|)
0(x) = y
0(x)
y(x) = −a(x).
Ist A(x) eine Stammfunktion von a(x) ¨ uber I, so ist y(x) = c · e
−A(x),
mit einer Integrationskonstanten c, die auch ≤ 0 sein darf.
Nun betrachten wir den inhomogenen Fall (r(x) 6≡ 0 ) : Sind ϕ
1, ϕ
2zwei L¨ osungen, so ist
(ϕ
1− ϕ
2)
0(t) + a(t)(ϕ
1(t) − ϕ
2(t)) = r(t) − r(t) = 0,
also unterscheiden sich je zwei L¨ osungen der inhomogenen Gleichung um eine L¨ osung der zugeh¨ origen homogenen Gleichung. Die allgemeine L¨ osung hat dem- nach die Gestalt
ϕ(t) = ϕ
p(t) + c · e
−A(t), mit einer
” partikul¨ aren L¨ osung“ ϕ
p(t) der inhomogenen Gleichung. Die m¨ ussen wir noch finden.
Meistens findet man spezielle L¨ osungen ¨ uber einen geeigneten Ansatz. So geht man auch hier vor. Wir benutzen die Methode der Variation der Konstanten.
Ansatz: y
p(x) = c(x) · e
−A(x).
Durch Differenzieren und Einsetzen in die DGL versucht man, Bedingungen f¨ ur c(x) zu erhalten:
y
0p(x) = (c
0(x) − c(x) · A
0(x)) · e
−A(x)= (c
0(x) − c(x)a(x)) · e
−A(x). Da y
0p(x) + a(x)y
p(x) = r(x) sein soll, erh¨ alt man die Bestimmungsgleichung:
c
0(x) · e
−A(x)= r(x), und setzt daher
c(x) :=
Z
xx0
r(t)e
A(t)dt.
Die Probe zeigt, daß y
ptats¨ achlich die inhomogene DGL l¨ ost.
Die allgemeine L¨ osung hat somit die Gestalt y(x) = y
p(x) + c · e
−A(x)= (
Z
xx0
r(t)e
A(t)dt + c) · e
−A(x).
2.3 Differentialgleichungen h¨ oherer Ordnung
Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen einfachen DGLn n–ter Ordnung und den Systemen von DGLn erster Ordnung:
Ist eine DGL
y
(n)= f (x, y, y
0, . . . , y
(n−1)) (∗) gegeben, so ordnen wir ihr folgendes System zu:
y
10= y
2.. . y
0n−1= y
ny
n0= f (x, y
1, . . . , y
n)
Ist ϕ eine L¨ osung der DGL (∗), so ist ϕ
(n)(t) = f (t, ϕ(t), ϕ
0(t), . . . , ϕ
(n−1)(t)), und wir setzen
ϕ
1:= ϕ, ϕ
2:= ϕ
0, . . . , ϕ
n:= ϕ
(n−1). Dann ist
ϕ
01(t) = ϕ
2(t), .. .
ϕ
0n−1(t) = ϕ
n(t)
und ϕ
0n(t) = ϕ
(n)(t) = f(t, ϕ
1(t), . . . , ϕ
n(t)), d.h., (ϕ
1, . . . , ϕ
n) ist eine L¨ osung des Systems.
Ist umgekehrt eine L¨ osung (ϕ
1, . . . , ϕ
n) des Systems gegeben, so setze man ϕ := ϕ
1. Dann ist
ϕ
0(t) = ϕ
2(t), . . . , ϕ
(n−1)(t) = ϕ
n(t)
und schließlich ϕ
(n)(t) = ϕ
0n(t) = f(t, ϕ(t), . . . , ϕ
(n−1)(t)), also ϕ L¨ osung von (∗).
Man kann also die Theorie der DGLn n–ter Ordnung auf die der Systeme 1. Ord- nung zur¨ uckf¨ uhren. Insbesondere gilt der Existenz- und Eindeutigkeitssatz sinn- gem¨ aß. Eine Anfangsbedingung f¨ ur die DGL n–ter Ordnung hat die Gestalt
ϕ
(ν)(x
0) = y
ν(0), ν = 0, 1, 2, . . . , n − 1.
2.4 Transformationen
Sei G ⊂ R × R
nein Gebiet, F : G → R
nstetig. Die DGL y
0= F (x, y) l¨ aßt sich manchmal besser l¨ osen, wenn man sie transformiert.
Sei T : G → R × R
nein Diffeomorphismus auf ein Gebiet D, mit T (t, y) =
(t, T e (t, y)).
2 Beispiele und L¨ osungsmethoden 127
Die Integralkurven α(t) = (t, ϕ(t)) der urspr¨ unglichen DGL werden auf Kurven T ◦ α(t) = T (t, ϕ(t)) = (t, T e (t, ϕ(t))) =: (t, ψ(t))
abgebildet, und wir versuchen, diese Kurven als Integralkurven einer neuen DGL aufzufassen. Wie sieht diese DGL aus?
Hat die transformierte DGL die Gestalt v
0= F e (t, v), so muß gelten:
ψ
0(t) = F e (t, ψ(t)) und ψ(t) = T e (t, ϕ(t)).
Wir beschr¨ anken uns hier auf skalare DGLn. Dann ist
∂ T e
∂t (t, ϕ(t)) + ∂ T e
∂y (t, ϕ(t))ϕ
0(t) = ψ
0(t) = F e (t, ψ(t)) und
(t, ϕ(t)) = T
−1(t, ψ(t)), also
F e (t, v) = ∂ T e
∂t (T
−1(t, v)) + ∂ T e
∂y (T
−1(t, v)) · F (T
−1(t, v)).
Beispiel.
Die DGL y
0= F (t, y) wird homogen genannt, falls F (rt, ry) = F (t, y) f¨ ur (t, y) ∈ G und r 6= 0 ist.
1Der Definitionsbereich G von F muß dann folgende Eigenschaft besitzen: Mit (t, y) geh¨ ort f¨ ur jedes r 6= 0 auch (rt, ry) zu G.
Enth¨ alt G keinen Punkt (t, y) mit t = 0, so ist folgende Transformation m¨ oglich:
T (t, y) := (t, y t ).
Ist ϕ(t) L¨ osung der Ausgangsgleichung, so ist ψ(t) := ϕ(t)/t L¨ osung der transformierten Gleichung, und es gilt:
ψ
0(t) = tϕ
0(t) − ϕ(t) t
2= t · F (t, ϕ(t)) − ϕ(t) t
2= t · F (t, tψ(t)) − tψ(t) t
2= F (1, ψ(t)) − ψ(t)
t ,
1Dieser Begriff sollte nicht mit dem Begriff
”homogen“ bei linearen DGLn verwechselt werden!
d.h., ψ ist L¨ osung der DGL v
0= F (1, v) − v
t . Eventuell ist ψ einfacher zu finden.
Sei etwa F (t, y) = y t +
r 1 − y
2t
2auf
G = {(t, y) : t
2≥ y
2} = {(t, y) : (t − y) · (t + y) ≥ 0}.
Man sieht sofort, daß das eine homogene DGL ergibt, und die obige Trans- formation macht daraus
v
0= 1 t
√ 1 − v
2.
Das ist eine DGL mit getrennten Variablen, der Gestalt v
0= f(t)g(v), mit f(t) = 1
t und g(v) = √
1 − v
2. Offensichtlich ist die L¨ osung ψ mit ψ(t
0) = v
0gegeben durch
ψ(t) = sin ln(t/t
0) + arcsin(v
0) .
Dabei sei (t
0, v
0) = (t
0, y
0/t
0) eine (transformierte) Anfangsbedingung. Als L¨ osung der Ausgangsgleichung erh¨ alt man dann:
ϕ(t) = t · ψ(t) = t · sin ln(t/t
0) + arcsin(y
0/t
0) .
Ein anderes Anwendungsbeispiel ist die Bernoullische DGL : y
0= a(x)y + b(x)y
α,
wobei α reell, 6= 0 und 6= 1 sein soll.
Wir verwenden die Transformation T (t, y) := (t, y
1−α). Dann ist T
−1(t, v) = (t, v
1/(1−α)), ∂ T e
∂t (t, y) = 0 und ∂ T e
∂y (t, y) = (1 − α)y
−α. Weil F (t, y) = a(t)y + b(t)y
αist, folgt: die transformierten Integralkurven gen¨ ugen der DGL v
0= F e (t, v), mit
F e (t, v) = ∂ T e
∂t (t, v
1/(1−α)) + ∂ T e
∂y (t, v
1/(1−α)) · F (t, v
1/(1−α))
= (1 − α)v
−α/(1−α)· a(t)v
1/(1−α)+ b(t)v
α/(1−α)= (1 − α) · (a(t)v + b(t)).
Die transformierte DGL ist linear und daher sicher einfacher zu behandeln als die
Ausgangsgleichung.
2 Beispiele und L¨ osungsmethoden 129
Beispiel.
Die logistische Gleichung (oder Gleichung des beschr¨ ankten Wachstums ) y
0= ay − by
2, mit a, b ∈ R
+und y > 0
ist vom Bernoullischen Typ. Bevor wir sie transformieren, noch ein paar An- merkungen:
Es ist y
0= y(a− by). Ist ϕ eine L¨ osung und 0 < ϕ(t) < a/b, so ist a− b ·ϕ(t) >
0, also ϕ
0(t) > 0. Der
” Bestand“ w¨ achst! Ist dagegen ϕ(t) > a/b, so ist ϕ
0(t) < 0 und der Bestand nimmt ab.
Weiter ist ϕ
00(t) = aϕ
0(t)− 2bϕ(t)ϕ
0(t) = (a− 2bϕ(t))ϕ
0(t). Ist also 0 < ϕ(t) <
a/(2b), so ist ϕ
0(t) > 0 und ϕ
00(t) > 0. Das ist der Bereich
” beschleunigten Wachstums“, der Graph beschreibt eine Linkskurve. Ist dagegen a/(2b) <
ϕ(t) < a/b, so ist ϕ
00(t) < 0. Hier beschreibt der Graph eine Rechtskurve, das Wachstum wird gebremst.
.. .. .
r
t
0y
0a/(2b) a/b
Nun wenden wir unsere Transformation an. Suchen wir eine L¨ osung von y
0= ay −by
2zum Anfangswert (t
0, y
0), so k¨ onnen wir genauso gut eine L¨ osung von v
0= −av+b suchen, zum Anfangswert (t
0, y
−10). Das ist eine inhomogene DGL 1. Ordnung mit konstanten Koeffizienten. Eine partikul¨ are L¨ osung ist die konstante Funktion v
p(t) ≡ b/a, und die allgemeine L¨ osung der zugeh¨ origen homogenen Gleichung ist gegeben durch v
c(t) := c · e
−at, c ∈ R .
Die allgemeine L¨ osung der Ausgangsgleichung ist dann gegeben durch y
c(t) = (v
p(t) + v
c(t))
−1= a
b + ac · e
−at. F¨ ur alle diese L¨ osungen gilt:
y
c(t) → a
b f¨ ur t → ∞.
2.5 Pfaffsche Formen und exakte Differentialgleichungen
Zur Erinnerung: Eine Pfaffsche Form ω auf einem Gebiet G ⊂ R
nist eine stetige Abbildung ω : G× R
n→ R , die linear im 2. Argument ist. Sie besitzt eine eindeutig bestimmte Darstellung
ω = ω
1dx
1+ · · · + ω
ndx
n, wobei die ω
νstetige Funktionen auf G sind, die durch
ω
ν(x) = ω(x, e
ν)
gegeben sind. Die dx
νsind Pfaffsche Formen mit dx
ν(x, e
µ) = δ
νµ.
Ein Spezialfall ist das totale Differential df = f
x1dx
1+ · · · + f
xndx
n, auch gegeben durch (df )(x, v) = Df (x)(v).
Definition. Es seien G
1⊂ R
n, G
2⊂ R
mzwei Gebiete, F : G
1→ G
2eine differenzierbare Abbildung. Ist ω eine Pfaffsche Form auf G
2, so wird die
” zur¨ uck- geliftete“ Pfaffsche Form F
∗ω auf G
1definiert durch
F
∗ω(x, v) := ω F (x), DF (x)(v) .
2.1 Satz.
1. Ist g differenzierbar auf G, so ist F
∗(dg) = d(g ◦ F ).
2. Es ist F
∗(ω
1+ ω
2) = F
∗ω
1+ F
∗ω
2und F
∗(g · ω) = (g ◦ F ) · F
∗ω.
Beweis: 1) Es ist
F
∗(dg)(x, v) = dg F (x), DF (x)(v)
= Dg(F (x)) DF (x)(v)
= D(g ◦ F )(x)(v)
= d(g ◦ F )(x, v).
2) Die Linearit¨ at ist trivial.
2.2 Folgerung. Ist ω =
m
X
µ=1
ω
µdy
µund F = (F
1, . . . , F
m), so ist
F
∗ω =
m
X
µ=1
(ω
µ◦ F ) dF
µ.
Beweis: Klar nach dem obigen Satz, denn es ist F
∗(dy
µ) = d(y
µ◦ F ) = dF
µ.
2 Beispiele und L¨ osungsmethoden 131
Beispiel.
Ist ω = f dt eine Pfaffsche Form auf R und I = [a, b], so setzen wir Z
I
ω :=
Z
ba
ω(t, 1) dt = Z
ba
f (t) dt. Ist J = [c, d] ein weiteres Intervall und ϕ : J → I eine orientierungstreue Parametertransformation, so ist ϕ(c) = a, ϕ(d) = b und
Z
J
ϕ
∗ω = Z
dc
ϕ
∗ω(s, 1) ds
= Z
dc
ω(ϕ(s), ϕ
0(s)) ds
= Z
dc
ω(ϕ(s), 1) · ϕ
0(s) ds
= Z
ba
ω(t, 1) dt = Z
I
ω.
Ist α : I → R
nein differenzierbarer Weg, so setzen wir Z
α
ω :=
Z
I
α
∗ω = Z
ba
ω(α(t), α
0(t)) dt.
Das ist die bereits bekannte Definition des Kurvenintegrals.
Offensichtlich ist Z
α◦ϕ
ω = Z
α
ω f¨ ur jede orientierungstreue Parametertrans- formation.
Sind F
0: G
0→ G
1und F
1: G
1→ G
2differenzierbare Abbildungen, ω eine Pfaffsche Form auf G
2, so ist
(F
1◦ F
0)
∗ω = F
0∗(F
1∗ω).
Der Beweis ist eine einfache Rechnung.
Bekanntlich heißen zwei Wege ¨ aquivalent, wenn sie durch eine orientierungstreue Parametertransformation auseinander hervorgehen. Eine ¨ Aquivalenzklasse nennen wir eine (orientierte) Kurve. Sie wird repr¨ asentiert durch das Bild C = α(I) unter einer der Parametrisierungen, versehen mit einem Durchlaufsinn. Die Kurve heißt regul¨ ar, wenn sie eine glatte Parametrisierung besitzt.
Definition. Sei ω eine Pfaffsche Form auf einem Gebiet G ⊂ R
n. Eine regul¨ are
Kurve C ⊂ G heißt L¨ osung der Gleichung ω = 0, falls es eine glatte Parametri-
sierung α : I → G von C gibt, so daß α
∗ω ≡ 0 ist. Die Orientierung spielt dabei
zun¨ achst keine Rolle.
2.3 Satz. Sei G ⊂ R
2ein Gebiet und F : G → R eine stetige Funktion. Dann stimmen die Integralkurven der DGL y
0= F (x, y) mit den L¨ osungen der Gleichung dy − F (x, y) dx = 0 ¨ uberein.
Beweis: 1) Sei ϕ : I → R eine L¨ osung der DGL und α(t) := (t, ϕ(t)) die zugeh¨ orige Integralkurve. Dann ist α offensichtlich glatt und
α
∗(dy − F dx) = (ϕ
0− F ◦ ϕ) dt ≡ 0.
Also parametrisiert α eine L¨ osung der Gleichung dy − F dx = 0.
2) Sei umgekehrt α = (α
1, α
2) : I → R
2eine glatte Parametrisierung einer L¨ osung der Gleichung ω = 0 (mit ω := dy − F dx). Dann ist
0 = α
∗ω = (α
02− (F ◦ α)α
01) dt.
W¨ are α
01(t
0) = 0, so w¨ are auch α
02(t
0) = 0, und das kann bei einer glatten Parame- trisierung nicht vorkommen. Also muß α
01(t) 6= 0 f¨ ur alle t ∈ I gelten. Das bedeutet, daß α
1eine (eventuell nicht orientierungstreue) Parametertransformation ist. Wir setzen
β(s) := α(α
−11(s)).
Dann parametrisiert auch β die betrachtete L¨ osungskurve, und es gilt:
β(s) = (s, ϕ(s)) mit ϕ(s) = α
2◦ α
−11(s).
Weil β
∗ω = (α
−11)
∗(α
∗ω) = 0 ist, folgt, daß ϕ eine L¨ osung der DGL ist.
2.4 Satz. Sei ω eine Pfaffsche Form auf G. Ist h : G → R eine nirgends verschwindende stetige Funktion, so haben die Gleichungen ω = 0 und h · ω = 0 die gleichen L¨ osungen.
Beweis: Ist α ein stetig differenzierbarer Weg, so ist α
∗(h · ω) = (h ◦ α) · α
∗ω.
Daraus folgt die Behauptung.
Definition. Sei ω = a dx + b dy eine Pfaffsche Form auf einem Gebiet G ⊂ R
2. Dann heißt ω in einem Punkt x
0∈ G regul¨ ar, falls (a(x
0), b(x
0)) 6= (0, 0) ist.
Andernfalls heißt ω in dem Punkt x
0singul¨ ar.
Sei ω = a dx + b dy in x
0regul¨ ar. Ist b(x
0) 6= 0, so gibt es eine Umgebung U = U (x
0), so daß b(x) 6= 0 f¨ ur alle x ∈ U ist. Dann ist 1
b · ω = dy − (− a
b ) dx eine
2 Beispiele und L¨ osungsmethoden 133
Pfaffsche Form, die der DGL y
0= − a(x, y)
b(x, y) entspricht. Ist b(x
0) = 0 und a(x
0) 6= 0, so geht man analog vor. Einer beliebigen Pfaffschen Form auf einem Gebiet des R
2k¨ onnen wir i.a. nur lokal eine explizite DGL zuordnen. Allerdings entsprechen die L¨ osungen der Gleichung ω := a dx + b dy = 0
” fast“ den Integralkurven der impliziten Differentialgleichung by
0+ a = 0. Daß die Integralkurven t 7→ (t, ϕ(t)) der DGL auch L¨ osungen der Pfaffschen Form sind, ist offensichtlich. Ist umgekehrt α eine L¨ osung der Gleichung ω = 0 und α
01(t
0) 6= 0 (keine senkrechte Tangente), so ist die Spur von α in der N¨ ahe von t
0Graph einer Funktion ϕ, und ϕ(t) eine L¨ osung der DGL.
Beispiel.
Sei ω := x dx + y dy. Dann sind alle durch α(t) := (r cos t, r sin t) parametri- sierten Kreise L¨ osungskurven von ω = 0. Diese Kreise k¨ onnen nat¨ urlich nicht Integralkurven einer DGL sein, denn dann m¨ ußten sie im Definitionsgebiet von Rand zu Rand laufen.
Tats¨ achlich ist yy
0+ x = 0 f¨ ur y 6= 0 die DGL y
0= −x/y mit getrennten Variablen. Eine L¨ osung y = y(x) erh¨ alt man aus der Gleichung
Z
y dy =
− Z
x dx, also y
2= −x
2+ c. Mit c = r
2ergibt das y(x) = ±r p
1 − (x/r)
2.
Die Halbkreisb¨ ogen enden jeweils dort, wo die Tangente senkrecht wird.
Definition. Die Funktionen a, b auf dem Gebiet G seien stetig. Eine stetig dif- ferenzierbare Funktion f : G → R heißt Stammfunktion oder erstes Integral der DGL b(x, y) y
0+ a(x, y) = 0 (bzw. der Pfaffschen Form ω = a dx + b dy), falls f¨ ur jedes c ∈ R die Niveaumenge {(x, y) : f (x, y) = c} eine lokal-endliche Vereinigung von Integralkurven der DGL ist.
2Kann man die Gleichung f(x, y) = c lokal nach y aufl¨ osen, so erh¨ alt man L¨ osungen der DGL. Das ist der Sinn der ersten Integrale.
Definition. Die DGL b y
0+ a = 0 (bzw. die Pfaffsche Form ω = a dx + b dy) heißt exakt, falls es eine stetig differenzierbare Funktion g mit g
x= a und g
y= b (also dg = ω) gibt.
2
”lokal-endlich“ bedeutet: Jeder Punktx0besitzt eine UmgebungU, so daßX∩U Vereinigung von endlich vielen Integralkurven ist.
2.5 Satz.
1. Ist f Stammfunktion von ω, so ist ∇f zu den Integralkurven von ω orthogonal.
2. Ist ω = a dx + b dy regul¨ ar und df = ω, so ist f eine Stammfunktion von ω.
Beweis: 1) Sei α : I → G eine Integralkurve und f(α(t)) ≡ c. Dann ist 0 = (f ◦ α)(t) = ∇f (α(t)) • α
0(t).
2) Sei c ∈ R und X := {(x, y) : f (x, y) = c}. Weiter sei df = ω. Ist x
0= (x
0, y
0) ∈ X, so ist (a(x
0), b(x
0)) 6= (0, 0), also z.B. f
y(x
0) 6= 0. Nach dem Satz ¨ uber implizite Funktionen gibt es eine Umgebung U = V × W von x
0, so daß gilt:
U ∩ X = {(x, y ) ∈ V × W : y = ϕ(x)},
mit einer stetig differenzierbaren Funktion ϕ : V → W . Setzen wir α(t) := (t, ϕ(t)), so ist f (α(t)) ≡ c uber ¨ V . Dann ist α
∗ω = d(f ◦ α) = 0, also α L¨ osung der Gleichung ω = 0. Umgekehrt muß f auf jeder L¨ osungskurve konstant sein, also liegt die Integralkurve α ganz in X.
Definition. Sei ω eine Pfaffsche Form auf dem Gebiet G ⊂ R
2. Eine stetige, nirgends verschwindende Funktion h : G → R heißt Eulerscher Multiplikator oder integrierender Faktor f¨ ur ω, falls h · ω exakt ist.
Beispiel.
Die Pfaffsche Form ω = y dx + 2x dy ist nicht exakt (denn hier ist a
y= 1 und b
x= 2). Aber es ist
√ 1
x · ω = y
√ x dx + 2 √ x dy exakt. Setzen wir n¨ amlich F (x, y) := 2y √
x, so ist F
x(x, y) = y/ √ x und F
y(x, y) = 2 √
x.
Es ist i.a. sehr schwierig, einen Eulerschen Multiplikator zu finden. In manchen F¨ allen f¨ uhrt allerdings schon der Ansatz h = h(x) zum Ziel.
Beispiel.
Ist ω = a dx+b dy, b 6= 0 und h = h(x) und h·ω exakt, so muß (h·a)
y= (h·b)
xsein, also h · (a
y− b
x) = h
0· b. Daraus folgt:
2 Beispiele und L¨ osungsmethoden 135
a
y− b
xb = h
0h = (ln ◦h)
0, also
h(x) = exp Z
a
y(x, y ) − b
x(x, y ) b(x, y) dx
.
Sei etwa ω = (2x
2+ 2xy
2+ 1)y dx + (3y
2+ x) dy. Dann ist a
y− b
xb = 2x, und der obige Ansatz liefert h(x) = e
x2. Nun suchen wir eine Funktion f mit
f
x= e
x2y(2x
2+ 2xy
2+ 1) und f
y= e
x2(3y
2+ x).
Integration nach y liefert f(x, y) =
Z
f
ydy = e
x2(y
3+ xy) + ϕ(x),
mit einer noch unbekannten Funktion ϕ. Differentiation nach x liefert nun f
x(x, y) = e
x2y + 2x · e
x2(y
3+ xy) + ϕ
0(x) = e
x2y(1 + 2xy
2+ 2x
2) + ϕ
0(x).
Also k¨ onnen wir ϕ
0= 0 w¨ ahlen. Damit ist
f(x, y) = e
x2(xy + y
3) + c.
Tats¨ achlich ist dann df = ω. Die Gleichung f(x, y) = c ist genau dann erf¨ ullt, wenn y(x + y
2) = 0 ist. Sei α(t) := (t, 0) und β(t) := (−t
2, t). Dann ist
α
∗ω = 0 und β
∗ω = (2t
4− 2t
4+ 1)t(−2t) + (3t
2− t
2)
dt = 0.
So haben wir zwei L¨ osungen der Gleichung ω = 0 gefunden.
§ 3 N¨ aherungsl¨ osungen und lokaler Fluß
Wir betrachten ein Gebiet G ⊂ R
n+1und eine DGL y
0= F (t, y),
wobei F : G → R
nlokal der Lipschitz-Bedingung gen¨ ugt.
F¨ ur (t, y) ∈ G sei I(t, y) das maximale Definitionsintervall der L¨ osung ϕ = ϕ
(t,y)mit ϕ(t) = y. Dann setzen wir
Ω := {(s; t, y) ∈ R × G : (t, y) ∈ G und s ∈ I(t, y)}.
Die Abbildung ϕ b : Ω → R
nmit
ϕ(s; b t, y) := ϕ
(t,y)(s) nennt man die allgemeine L¨ osung der DGL.
Dann ist ϕ b nach der ersten Variablen partiell differenzierbar, und es gilt:
∂ ϕ b
∂s (s; t, y) = F (s, ϕ(s; b t, y)) und ϕ(t; b t, y) = y.
3.1 Satz. Sei (t, y) ∈ G und s ∈ I(t, y). Dann ist I (s, ϕ(s; b t, y)) = I (t, y) und ϕ(u; b s, ϕ(s; b t, y)) = ϕ(u; b t, y),
also insbesondere ϕ(t; b s, ϕ(s; b t, y)) = y.
Beweis: Sei ψ
1:= ϕ
(t,y)und ψ
2:= ϕ
(s,ψ1(s)). Beides sind L¨ osungen, und es ist ψ
2(s) = ψ
1(s). Also ist ψ
1= ψ
2, und daher
ϕ(u; b s, ϕ(s; b t, y)) = ϕ(u; b s, ψ
1(s)) = ψ
2(u) = ψ
1(u) = ϕ(u; b t, y).
3.2 Lemma von Gronwall. Sei t
0< t
1≤ ∞ und g : [t
0, t
1) → R stetig. Weiter sei α ≥ 0 und β > 0. Ist nun
0 ≤ g(t) ≤ α + β Z
tt0
g(τ) dτ f¨ ur t ∈ [t
0, t
1), so ist auch
g(t) ≤ α · e
β(t−t0)f¨ ur t ∈ [t
0, t
1).
3 N¨ aherungsl¨ osungen und lokaler Fluß 137
Beweis: Sei u(t) := e
−βtZ
tt0
g(τ ) dτ . Dann ist u(t
0) = 0 und u
0(t) = −βu(t) + e
−βtg(t)
≤ −βu(t) + e
−βt(α + β Z
tt0
g(τ) dτ )
= α · e
−βt,
also α · e
−βt− u
0(t) ≥ 0. Integration ¨ uber [t
0, t] ergibt:
− α
β (e
−βt− e
−βt0) − u(t) ≥ 0, also
g(t) ≤ α + β Z
tt0
g(τ ) dτ
= α + β · e
βtu(t)
≤ α + β · e
βt· α
β (e
−βt0− e
−βt)
= α · e
β(t−t0).
Definition. Sei J ⊂ R ein Intervall. Eine stetig differenzierbare Funktion ϕ : J → R
nheißt eine ε-N¨ aherungsl¨ osung, falls gilt:
1. (t, ϕ(t)) ∈ G f¨ ur t ∈ J.
2. kϕ
0(t) − F (t, ϕ(t))k ≤ ε f¨ ur t ∈ J.
Sei J ⊂ R ein Intervall und B ⊂ R
neine Kugel, so daß J × B in G enthalten ist und F auf J × B einer Lipschitzbedingung mit Lipschitzkonstante k gen¨ ugt.
3.3 Satz. Uber dem Intervall ¨ J sei ϕ
1eine ε
1-N¨ aherung und ϕ
2eine ε
2-N¨ ahe- rung. Außerdem sei t
0∈ J und ε = ε
1+ ε
2. Dann ist
kϕ
1(t) − ϕ
2(t)k ≤ kϕ
1(t
0) − ϕ
2(t
0)k · e
k|t−t0|+ ε
k · (e
k|t−t0|− 1) f¨ ur alle t ∈ J.
Beweis: Weil kϕ
0λ(t) − F (t, ϕ
λ(t))k ≤ ε
λist, folgt:
kϕ
λ(t) − ϕ
λ(t
0) − Z
tt0
F (u, ϕ
λ(u)) duk
= k Z
tt0