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2. Eine Wende in der Kunstbetrachtung

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Renate Brosch

Vernon Lees Theorie der ästhetischen Erfahrung:

Grenzgänge der Empathie

Abstract

Vernon Lee

T h e enormously prolific and diverse writer Vernon Lee (Violet Paget) has recently been rediscovered in English literary and cultural studies. However, her elision from art history remains to b e cor- rected. This article reconsiders Lee's theory of the beautiful which she referred to as »psychological aestheticism«. In the light of recent developments in aesthetic theory Lee's ideas unfold considerable p o - tential: their utilization of a concept of empathy inherent in subjec- tive responses to art ties in with a current shift towards processual and performative evaluations of art rather than static and normative ones. Lee came very close to today's understanding of visual art by locating symbolic meaning in subjective experience and thus o p e n - ing up an entire range of spatial, psychological, emotional and c o m - municative aspects of spectatorship pertinent to analysis. These as- pects she developed in a m o r e playful manner in her literary works.

M y article reads the ekphrastic encounter in one of Lee's fantastic stories from her collection Hauntings as a negotiation of Lee's aes- thetic theory, concluding that her advanced ideas deconstructed an idealistic and implicitly hierarchical understanding of art.

1. Die »klügste Frau Europas«

Vernon Lee hat am Ende des 19. Jahrhunderts eine nicht nur avantgardistische, sondern auch hochgradig antizipatorische Kunsttheorie entworfen, die bis heute nahezu unbekannt geblieben ist. Lee, eigentlich Violet Paget, war eine Grenzgän- gerin zwischen Kulturen und Disziplinen. 1856 - im selben Jahr wie Sigmund Freud - in der zweiten Ehe eines belgischen Privatlehrers mit einer englischen Aristokratin geboren, wuchs sie in Frankreich und Italien in einer kosmopoliti- schen, intellektuellen und kulturnomadischen Familie auf, u m sich selbst später in Florenz einen permanenten Wohnsitz zu suchen. England besuchte sie mit zwanzig Jahren das erste Mal. Sie schrieb und sprach Englisch, Italienisch und Französisch und hatte bereits mit dreiundzwanzig Jahren ein erstaunliches Grundlagenwerk über die italienische Kultur im 18. Jahrhundert vorgelegt (Lee 1880). Danach schrieb sie ca. vierzig weitere Bücher: Romane, Dramen, Kurzge-

Feministische Studien (© Lucius & Lucius, Stuttgart) 2 / 0 4

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schichten, Satiren, Biographien, kunst- und kulturgeschichtliche Abhandlungen, Reisebeschreibungen und politische und philosophische Essays. Ihre Zeitgenos- sen fällten höchst widersprüchliche Urteile über ihre Persönlichkeit. Den einen galt sie als überheblich und rechthaberisch, anderen als charmant und tolerant.

Zur Frauenbewegung hatte sie selbst ein ambivalentes Verhältnis; sie lehnte es ab, sich für Suffragetten, insbesondere für deren radikalere Strömungen, zu engagie- ren, andererseits zeugen ihre Schriften von einer strikten Parteinahme gegen jegliche Form von Diskriminierung. Sie war keiner Bewegung oder Schule zu-

zuordnen, da sie mit ihrer ungeduldigen, schnelllebigen Meinungsbildung oft ihrer Zeit voraus war. Immer wieder setze sie sich der spöttischen Kritik aus.

Gleichwohl begab sie sich in keine patriarchale Schutzgemeinschaft, sondern unterhielt jahrelange Lebens- und Arbeitsbeziehungen zu Frauen. Vernon Lee kann als eine Autorin charakterisiert werden, die die Grenzen disziplinärer Dis- kurse, die Grenzen konventioneller Konzepte und nicht zuletzt auch die Gren- zen der herrschenden Geschlechterordnung und des »guten Geschmacks«

sprengte.

In der National Biography werden die Einträge über Vernon Lee länger, je weiter man im Erscheinungsjahr der Lexika zurückgeht. Zu Lebzeiten galt Lee als »the cleverest woman in Europe« (Beer 1997, 110), eine Auszeichnung, deren ge- schlechtliche Qualifizierung herabsetzend wirken konnte. Ihre Schriften wurden von den Zeitgenossen heftig diskutiert, vielfach plagiiert und in die anerkannte- ren Theorien ihrer männlichen Kollegen integriert. Sie stand im Dialog mit den zeitgenössischen Berühmtheiten, zur Kunsttheorie mit Walter Pater, Theodor Lipps und Bernard Berenson, zur Literatur mit Henry James, Eliza Ward und John Addington Symonds. 1924 erhielt sie einen Ehrendoktor der Durham University (Seed 1992, iii). Die Wertschätzung, die ihre Schriften der Fachwelt abverlangten, hat sie immer wieder durch unliebsame Verhaltensweisen zunichte gemacht. In England, dem Land ihrer Hauptpublikationssprache, machte sie ihr Ansehen zu- nichte, als sie im ersten Weltkrieg ein dezidiert pazifistisches und damit »unengli- sches« Pamphlet verfasste. In Italien traf sie der unbegründete Plagiatsvorwurf des damals noch unbekannten Bernard Berenson. Als sie 1935 starb, hatte das notori- sche Verschweigen ihrer Leistung bereits eingesetzt. Ihre unkonventionellen An- sichten, ihr Selbstbewusstsein und vor allem ihre polyglotten, interdisziplinären Arbeiten waren schon immer ein Problem für die Kritik gewesen.

Vielleicht deshalb hat sich ihr die Forschung zunächst biographisch genähert, wobei vielfach das Interesse an ihrer lesbischen Neigung im Vordergrund stand (vgl. Zorn 2003). In den letzten Jahren ist aus Gründen, die weiter unten erläu- tert werden, das Interesse an Lee wiedererwacht. Eine biographische Studie von Vineta Colby hat die Irrtümer und Ungerechtigkeiten der früheren Biographien weitgehend korrigiert, und eine literaturwissenschaftliche Arbeit von Christa Zorn und einige verstreute Aufsätze haben Lees literarischen Werken wieder zu Ansehen verholfen (vgl. die Sammelrezension von Stuby in diesem Heft). Höhe-

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punkt dieser Renaissance war eine Konferenz an der University of London im Juni 2003, auf der sich eine neue Generation von Lee-Interpreten über die Unterlas- sungssünden ihrer Vorgänger verständigte. Ich möchte im Folgenden der Frage nachgehen, was heute an Lees Werk fruchtbar zu machen ist. Aus dieser Perspek- tive halte ich ihre Schriften zur Ästhetik für wesentlich spannender als ihre lite- rarischen Werke.

Unsere gegenwärtige multimediale Kultursituation verlangt eine Anpassung der Kategorien des Ästhetischen. Im Angesicht einer zunehmenden Entgren- zung der Kunst auf der einen und einer zunehmenden Ästhetisierung der Le- benswelt auf der anderen Seite, stellt sich Ästhetik erneut als Problem. Wenn wir diesem Problem mit der Hinwendung zur »ästhetischen Erfahrung« begegnen, bedeutet dies eine Reorientierung, die statt eines bis dato privilegierten (Kunst) Gegenstands das prozesshafte Erleben von Kunst in den Mittelpunkt stellt; ein Erleben, das weder durch den auslösenden Gegenstand noch durch seinen sub- jektiven Anteil ausreichend beschrieben ist, sondern als Interaktion beider ver- standen werden muss. Diese, die traditionelle Werkästhetik ersetzende Theorie der ästhetischen Erfahrung, richtet sich gegen einen wahrheitsästhetischen WerkbegrifF autonomer Kunst und wendet sich den Prozessen ästhetischen Erle- bens zu (Küpper/Menke 2003, 9). Hier scheint mir, lohnt ein Wiederentdecken von Lees Kunsttheorie, die konsequent von der ästhetischen Erfahrung ausging.

Lees Vorstellung von Kunsterfahrung wendet sich gegen polarisiertes, dualisti- sches Denken, wie es im Gegensatz von experimenteller Avantgarde und trivialer Populärkunst zum Ausdruck kommt, und betont statt dessen Durchlässigkeit und Zwischenstadien (Beer 1997,116).

2. Eine Wende in der Kunstbetrachtung

Lees Anliegen war es, die noch neuen Wissenschaftsbereiche Psychologie und Kunstwissenschaft zusammenzufuhren (Lee 1912, 3). Sie lehnt die Idee einer einheitlichen Entität des Subjekts ab und ersetzt sie, unter dem Einfluss von Wil- liam James, durch die Vorstellung von fließenden Zuständen, wobei sie Bewe- gung und Rhythmus als »primordial condition« (essentielle Bedingung des Men- schen, R B ) begreift. Innerhalb dieser Prämissen vom Prozesshaften suchte sie neue Erklärungsmuster für unsere ästhetischen Werturteile wie »schön« und

»hässlich«. Damit verlagerte sie bereits das Interesse der Ästhetik von Künstler und Werk auf den Moment der Rezeption. 1897 entwarf sie in einem Artikel ihre »psychologische Ästhetik« zum ersten Mal, um sie in den Monographien Beauty and Ugliness (1912, zit. BU), The Beautiful (1913, zit. B) und in der Einlei- tung zu Art and Man (1924, zit. A) weiter zu vertiefen.

Lee gehörte zu jener Avantgarde am Ende des 19. Jahrhunderts, die den Funk- tionszusammenhang von Kunst und Gesellschaft neu definierte. Ihre kunsttheo-

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retischen Schriften standen im Kontext der modernistischen Erneuerung, wie sie später durch R o g e r Fry oder Wassily Kandinsky vertreten wird. Statt von der künstlerischen Produktion oder von den formalen Eigenschaften des Werkes geht Lee von der »aesthetic appreciation« (B 107) aus. Diese Verschiebung nannte Wilhelm Worringer in Abstraktion und Einfühlung die wichtigste Errungenschaft der Kunstwissenschaft, eine Errungenschaft die Worringer j e d o c h ausschließlich T h e o d o r Lipps anrechnet (Worringer 1908, 28). Im Gegensatz zu Lees Ästhetik erreichte die Schrift von Worringer geradezu Kultstatus und wird noch heute als wesentlicher Schritt in der Geschichte der Kunsttheorie gehandelt (Witting 2000, 53). Worringers als Dissertation eingereichte Schrift weist j e d o c h keines- wegs eine vergleichbare rezeptionsästhetische Neuorientierung auf wie Lees da- mals bereits erschienener Essay1.

Lee stellt weder rein formale Urteilskriterien in den Vordergrund, wie später R o g e r Fry in Vision and Design (1920), noch hypostasiert sie ein psychologisches M o m e n t des »Kunstwollens« wie Worringer. Vielmehr richtet sie die Aufmerk- samkeit auf den Betrachter und den Prozess der Rezeption. Sie selbst fasst diesen Kategorienwandel der Wissenschaft in Art and Man zusammen und zeigt dabei, dass sie sich der weltanschaulich politischen Konsequenzen ihrer Kunstkonzep- tion bewusst ist: die in der Renaissance entwickelte Perspektive und ihre Abbil- dungsweise gelten nicht m e h r als H ö h e p u n k t malerischer Evolution und deshalb können abstrakte und »primitive« Formen aus anderen Kulturen nicht mehr als minderwertig beurteilt werden.

Aber diese Zweifel am Erklärungswert sozialdarwinistisch-evolutionärer Er- klärungsmuster für künstlerisches Schaffen sind nicht das bemerkenswerteste Element ihrer Kunsttheorie. Durch die Verlagerung auf den Prozess der R e z e p - tion steht im Mittelpunkt von Lees Theorie ein Axiom der konstruktiven Akti- vität des Betrachters, die als genuine »Weise der Welterzeugung« (Goodman

1984) gedacht wird (BU 16). »Kunst kann nichts erreichen ohne die Kollabora- tion des Rezipienten«, und diese Kollaboration besteht keineswegs in einem pas- siven Akt des »berührt-, gar überwältigt-Seins, von Kunst, nein, sie ist ein Z u - sammenwirken von aktiven Prozessen, deren Komplexität und Intensität dem künstlerischen Schaffensakt entspricht« (B 128, meine Ubersetzung,). Diese ak- tive Beteiligung der Rezipienten am Zustandekommen von Kunst ist nach Lee

1 »Beauty and Ugliness« von Vernon Lee und Catherine Anstruther-Thomson in der Contempor- ary Review, October-November 1897. Worringer postulierte mit seinen Schlüsselbegriffen »Ab- straktion« und »Einfühlung« zwei unterschiedliche Pole der Manifestation von künstlerischer Intention, die aus entgegengesetzten Bedürfnissen und Ansprüchen an die Kunst resultieren. Für Worringer drückt sich die Sehnsucht nach Organisch-Lebenswahrem in Einfuhlungskunst wie in der Renaissance aus, und ein fehlendes Weltvertrauen bzw. eine Abkehrhaltung drückt sich in Abstraktionskunst wie der Gotik aus. Dass diese kühne Zusammenschau sämtlicher Stilrichtun- gen in einer universalen Typologie eindeutig gegen eine Privilegierung des figürlich Abbilden- den gerichtet war und den zeitgenössischen Expressionisten das Begründungsvokabular lieferte, mag neben der patriarchalischen Institutionsstruktur der Kunstwissenschaften zum Erfolg von Worringers Theorie beigetragen haben (Witting 2000, 60).

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ein — nicht notwendig bewusster oder formal strukturierter — Prozess, der kon- struktiv und iterativ die im Gedächtnis vorgefundenen Schemata aus vorheriger Erfahrung mit der gegenwärtigen Wahrnehmung verbindet und auf einer psy- chischen, mentalen und körperlichen Ebene vonstatten geht (B 155).

Sich auf die Rezeption von Kunst statt auf deren werkimmanente Eigenschaf- ten zu konzentrieren, mag für Frauen, die die generischen und disziplinarischen Abgrenzungen der akademischen Welt eher von außen verfolgten, naheliegender gewesen sein (Griffin 1994, 3). Frauen konnten nie in dem Maße in die grands récits von universalen Wahrheiten und einheitlichen Identitäten investieren wie Männer, die in professionellen und institutionellen Kontexten an ihnen partizi- pierten und von ihnen profitierten. Zumindest bot ein phänomenologischer Zugang zu Demarkationslinien zwischen Kunst und ihrem Publikum eine Mög- lichkeit, die weibliche Seite der großen Modernitätsentwürfe auszukundschaf- ten. Eine Betrachtung von Lees Thesen stützt die Hypothese, dass weibliche Autorinnen einen größeren Anteil an der Subjektivierung und Relativierung der modernen Periode hatten als bisher gewürdigt.

Lees rezeptionsästhetische Wende in der Kunsttheorie geht von einer kulturell bedingten Wahrnehmung aus und schilderte den Moment einer Bilderfahrung mit Rekurs auf Walter Paters Ende des 19. Jahrhunderts enorm einflussreiche impressionistische Ästhetik (Studies in the History of the Renaissance, 1873) zunächst erlebnisästhetisch (Körner 1995, 398), d.h. das primäre Objekt der Be- schreibung ist nicht das Kunstwerk als unmittelbar gegenwärtiges Objekt, son- dern das davon ausgelöste Erlebnis. Der Grundtenor dieser Verlagerung ist bei Lee aber ganz anders als bei Pater: während Pater zwar Kunsterleben als Verdich- tung von Eindrücken sieht, aber dabei eine fast klaustrophobische Begrenztheit des Bewusstseins entwirft, entgrenzt Lee das Individuum im Rezeptionsakt. Sie beschreibt diese bewusstseinsmäßige Entfaltung, indem sie die Vorstellung von

»Einfühlung« übernimmt, die Theodor Lipps als metaphysische Transgression konzipiert hatte. Sie verweist außerdem auf Karl Groos' Schriften zu »Innerer Einfühlung« und »ästhetischem Miterleben« (BU 77f). Eventuell mag auch Theodor Vischers Idee eines »leidenden Anschauens« und »Akts der Seelenlei- hung«, welche dieser für das Theater dachte, für Lee eine Rolle gespielt haben (Fischer-Lichte 2001,359). Der Unterschied besteht jedoch darin, dass die erleb- nisorientierte Rezeption bei Lipps und Vischer auf eine rückbezügliche Be- schreibung zielt, wodurch das Kunstwerk immer weiter in die Ferne rückt, so dass letztlich seine Abwesenheit zur Bedingung seiner Realisation wird. Dagegen bleibt in der wirkungsästhetisch gedachten Rezeption durch das Prinzip »Empa- thie«, wie es Lee verstand, eine Gleichwertigkeit der agierenden Größen Subjekt und betrachtetes Objekt erhalten.

Lee ist im Oxford English Dictionary als Erfinderin des Begriffs »Empathie« für die englische Sprache aufgeführt. Sie selbst hat korrekterweise darauf hingewie- sen, dass sie Ticheners Ubersetzung von Theodor Lipps' »Einfühlung« benutzt

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habe (BU 20). An der Jahrhundertwende machten mehrere bedeutende Künst- ler, die von einer hauptsächlich optischen Malweise ausgegangen waren, auf die Rolle von mentalen Fakultäten wie Hineinsehen, Ein- und Vorstellungskraft auf- merksam (Gamboni 2001, 182).2 Lee entwickelte den Einfühlungsgedanken weiter, indem sie ihn von seinen metaphysischen Obskuritäten befreite und für eine situierte Subjektauffassung öffnete. Nach Lee hat Empathie nichts mit Sym- pathie zu tun, sondern bezeichnet einen Ubertragungsprozess, in dem das be- trachtende Subjekt seine Reaktionen unwillkürlich dem Objekt zuschreibt, »die Wahrnehmungsweisen des Subjekts mischen sich in die Qualitäten des betrach- teten Objekts« (B 57, meine Ubersetzung).

Nach Lee ist ästhetische Erfahrung also eine transformative Erfahrung, die die mentalen, leiblichen und semantischen Voreinstellungen des betrachtenden Sub- jekts revidiert, spätere Sehakte prägt und naturalisierter Teil der gesamten Wahr- nehmung wird. Unter der Transformation des Betrachters versteht Lee nicht nur einen semiotischen Bedeutungszuwachs oder eine moralische Erbauung, son- dern ergänzt diese durch eine fast performativ zu nennende Vorstellung von ver- körperter Erfahrung. Die Vorstellung von Empathie, die Lee aus Lipps' Raum- ästhetik übernimmt, erfährt bei ihr eine anthropologische Erweiterung, da die von Kunsterfahrung ausgelösten Prozesse als im Subjekt verkörpert beschreibbar werden. In Lees Konzept der Rezeption spielen durch die spezifischen Wahr- nehmungsbedingungen von Materialität und Medialität auch Veränderungen des leiblichen Zustands eine Rolle. Kunst löst physiologische, energetische und mo- torische Reaktionen im Zuschauer aus, die zugleich für die emotionale Wirkung verantwortlich sind (BU 26). Empathie tritt jedoch nicht nur bei der Betrach- tung von Kunst in Kraft, sie ist ein Bestandteil normaler alltäglicher Wahrneh- mung und Erfahrung (BU 22).

Nach Lee ist ästhetische Erfahrung verkörpert, sie schafft damit die Idealsetzung des männlich objektivierenden, cartesianischen Blicks ab. Vielleicht ist dieses herrschaftsfreie Sehen einer Vorstellung vom weiblich-präödipalen Vor-Symboli- schen geschuldet, so wie in den Theorien der französischen Feministinnen die écriture feminine dem Logos der patriarchalischen symbolischen Ordnung entge- gengesetzt ist.3 Dem entspräche auch Lees Begeisterung für transgressive Neu- deutungen, solange sie für künstlerische Formen sensibel bleiben. In den Schrif- ten ihrer Freundin Catherine Anstruther-Thomson schätzte sie einen bewusst freien Umgang mit Ikonographien speziell dort, wo ikonographische Konven- tionen deutlich auf einen männlichen voyeuristischen Betrachterblick ausgerich- tet waren, z.B. in deren Umdeutungen der Venus Pudica Geste (A 327-42). Lee hat also, zu einem Zeitpunkt, als die Zeichentheorie als Abstraktionsleistung der Moderne gerade etabliert wurde, bereits die rein kognitive Ausrichtung von Zei-

2 Gamboni erwähnt Degas, Cézanne, Münch und Monet.

3 Ich beziehe mich hier auf die Schriften von Luce Irigaray und Hélène Cixous.

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chen durch eine sinnliche, körperbezogene Bedeutungskomponente ergänzt.

Damit scheint Lee eher in den gedanklichen Rahmen heutiger Visualitätstheo- rien zu passen, die sich von der traditionellen Hierarchisierung zugunsten des Textes und den Irrtümern des nach-Saussureschen Logozentrismus verabschie- det haben (Mitchell 1987, 46).

Diese Gedanken entwickelte Lee zusammen mit ihrer Freundin Anstruther- Thomson zunächst (im Artikel von 1897) ohne Kenntnis der zeitgleichen Theo- rien von Lipps und Groos, lediglich durch Selbstbeobachtung und Dokumenta- tion ihrer individuellen Rezeptionsprozesse. In die später sorgfältig theoretisch recherchierte Buchveröffentlichung übernahm sie ihre »Gallery Diaries« als Dokumentation (BU 241-351). Als Beweis für die Macht der Empathie schildert sie dort subtile motorische Körperprozesse, die sie als eine automatische Anpas- sung an die medialen und materiellen Beschaffenheiten des betrachteten Gegen- standes deutet (BU 28). Diese körperliche Symptome und ihre begleitenden Emotionen sind die Ursache für ästhetisches Wohlgefallen (BU 30).

Lee geht es um eine Rücknahme der idealistischen Konzeption einer interes- selosen Betrachtung zugunsten einer grundlegenden Verknüpfung ästhetischer Erfahrung mit leiblicher und affektiver Reaktion. In den Pariser Arbeiten der biologischen Psychiatrie von Jean Martin Charcot und Charles Fere hätte sie ihre Behauptung bestätigt finden können, dass Kunst tonisch wirke (BU 24).4

In den zeitgleichen Ansätzen zur Lebensphilosophie konnte Lee ihre Wieder- einführung des so verstandenen sensualistisch-empirischen Kunsterlebens mit einer affektiven Dimension bestätigt finden. Hier kehrte die Ästhetik wieder zu einer Philosophie der Sinne zurück, die durch eine Vorstellung vom Schönen als Verkörperung der Idee reduziert worden war. In der Argumentation des 19. Jahrhunderts war jede Affekterregung stets defensiv im Sinne einer Nützlich- keit diskutiert worden. Der Zentralgedanke der Einfühlungspsychologie, die von Edmund Burke stammende Idee, dass sich Seelenzustände physiologisch bzw.

mimisch herstellen lassen, findet sich in einem breitgestreuten Zitierkartell von Fechner, William James und anderen. Solche Selbstaffektion, die performativ die in der Kunst dargestellten Emotionen imitiert, hat schon Nietzsche als Lustge- fühl entlarvt (Zelle 2003,30). Bei Lee ist Empathie, wie bereits angedeutet, keine

4 Carsten Zelle hat für Nietzsches anthropologische Ästhetik gezeigt, dass sie auf einer Rückkehr zu physiologisch-empirischen Erklärungen der Kunstwirkung im 18. Jahrhundert, insbesondere von Edmund Burke, beruht, die die zwischenzeitlich von Kant entworfene, entkörperte Vorstel- lung zurückweist (Zelle 2003, 27). Denn im 18. Jahrhundert kam es unter dem Vorzeichen einer sich konstituierenden Anthropologie zu einem weitgreifenden Versuch, Körper, Geist und Psyche als physiologisch fundierte Einheit zu entwerfen (Behrens 1993, 7). Burkes Unterschei- dung des Schönen und des Erhabenen ging von vitalen Prozessen im Körper aus, wonach das Schöne eine Entspannung und Erschlaffung der tonischen Struktur hervorruft, während das Erhabene durch sein Ansprechen des Selbsterhaltungstriebes eine Anspannung bewirkt (Burke 1990, 122). Für Lee spielt allerdings Burkes krass geschlechterdifferenzierte Hierarchisierung der Affektenlehre keine Rolle (vgl. Brosch 2001).

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Solidaritätsempfindung, sondern ein Akt, für den sie bezeichnenderweise, wie Burke, die Metapher des Theaters wählt:

[...] wenn wir eine Form betrachten, ist unser Auge keine passive Registratur (B 31) [...] vielmehr fluktuiert unsere Wahrnehmung sowohl im gegenwärtig Gegebenen wie auch zwischen dem, was wir gegenwärtig sehen, eben gerade gesehen haben und dem, was wir im nächsten Moment zu sehen erwarten. Dieser Prozeß beinhaltet eine Anpassung momentaner Gefühle an zukünftige Reaktionen und die fortlau- fende Modifikation vergangener Reaktionen; ein kleines Drama der Erwartung, Er- füllung und Enttäuschung (B 33, meine Ubersetzung)

D e r Anschauungsprozess schließt vergangenes, das jetzige Erleben mit seinen Schemata strukturierendes und in die Z u k u n f t weisendes jetziges Erfahrungs- sehen zusammen. Nach Christa Z o r n gibt Lee dadurch einer modernistisch-sta- tischen Vorstellung von Kunst die Dynamik des Realen zurück und verkürzt die seit Kant enorme Distanz zwischen Kunst und Leben auf eine Weise, die unserer heutigen Entgrenzung der beiden Bereiche nahe kommt. Die heute oft wieder betonte Macht des Bildes rührt nicht aus seiner Besonderheit als nahezu sakrales Anderes her, sondern aus seiner Alltäglichkeit.

Mit ihrer Theorie der Empathie überschreitet Lee in doppelter Hinsicht die Grenzen der traditionellen Ästhetik: Erstens insistiert sie auf einer körperlichen Manifestation der ästhetischen Erfahrung, ein Konzept das von ihren Kritikern zeitgleich und später als besonders merkwürdig empfunden wurde. Kunst-Sehen involviert demzufolge innere Bewegung. Sie elaboriert en detail zwei Arten von Bewegung, die in der Kunstrezeption eine Rolle spielen, nämlich die dargestellte Bewegung oder der R h y t h m u s bei abstrakter Kunst und die Dynamisierung, die der Rezipient unter dem Einfluss des Kunstwerks erfährt. Letztere sei keine ein- fache »innere Mimikry«, sondern ein komplexer Ablauf physiologischer und psy- chischer Prozesse. Lees verkörperte Erfahrung geht von einem Körperbegriff aus, der der von Plessner herausgestellten Dialektik von Körper-Haben und Leib-Sein R e c h n u n g trägt. Der Körper wird nicht nur als Objekt oder U r - sprungsort und M e d i u m von Symbolbildungsprozessen betrachtet, nicht nur als Oberfläche für und Produkt von kulturellen Einschreibungen, sondern auch und vor allem als leibliches In-der-Welt-Sein. Deswegen wird ihm agency zugespro- chen, er wird als Agens der Rezeption verstanden, die damit ihren rein geistigen Charakter verliert (Fischer-Lichte 2001, 307). O b w o h l Lees Ausfuhrungen in dieser Hinsicht sicher nicht ausgereift waren, kann man in ihrer Theorie Vor- griffe auf derzeitige Konzepte v o m multifunktionalen Zeichensystem Körper fin- den5. Diese Verkörperungsidee halte ich für einen der interessantesten Aspekte ihrer Theorie, weil sie das semiotische Paradigma verabschiedet, d.h. sozusagen in einem »corporeal turn« eine Korrekturfunktion gegenüber einem dominanten

5 W i e sie z.B. M a r y Douglas in Natural Symbols (1973) vorschlug (vgl. Fischer-Lichte 2001,307).

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Erklärungsmodell von Text und Repräsentation anbietet. Lee steht damit an einer frühen Schnittstelle des Ubergangs von den traditionellen Geisteswissen- schaften zu den Kulturwissenschaften, denn ihr Empathiebegriff richtet das Augenmerk auf Strukturen, Prozesse und Praktiken, die technomorph gedacht werden (Assmann 1996,13)

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Zweitens verwischt Lees Interpretation der ästhetischen Erfahrung die Grenze zwischen Kunst- und Alltagserleben. Lee erkennt Empathie zwar als Bestandteil ästhetischer Urteilsfähigkeit, erklärt aber ansonsten, dass sie eben nicht nur die ästhetische Erfahrung strukturiert, sondern Bestandteil der gesam- ten Lebenserfahrung sei (BU 22). Empathie konstituiert unsere Vorstellung von der Welt und ist verantwortlich dafür, der Pluralität der Welterfahrung eine Kohärenz zu verleihen. Heterogene und dissoziierte Erfahrung wird im verkör- perten empathischen Erfahrungsprozess zu solchen Schemata gebündelt, die wiederum die weitere Wahrnehmung leiten (B 69). Lee betont, dass ästhetische Erfahrung keine Besonderheit sei, die nur der Hochkunst zuteil wird, oder einen musealen R a u m braucht, um Wirkung zu entfalten,

[...] a-priori Theorien erheben die ästhetische Erfahrung zu einer Ausnahmeerschei- nung, sozusagen zum Feiertag im täglichen Leben, in Wirklichkeit machen sie je- doch die Hälfte eines natürlich und gesund strukturierten Alltags aus. Dass diese Tatsache von Theoretikern der Ästhetik bisher noch nicht bemerkt wurde, liegt daran, dass diese in ihren Überlegungen stets vom künstlerischen Schaffensprozess ausgehen statt von der Erbauung, ohne die Kunst wahrscheinlich gar nicht existieren würde (B 107, meine Übersetzung).

Wie heutige Theoretiker der visuellen Kultur geht Lee von der Vermischung von Kunst und Alltagsbereichen aus, von der prinzipiellen Offenheit der Kunst für alle. Die Voreinstellungen, die aus unseren bisherigen Wahrnehmungserfah- rungen resultieren, kommen in einem weit größeren Wirkungskontext zum Tra- gen als nur in der Kunst (BU 31). Deshalb hält Lee die Trennung von Künstlern und Kunstkennern einerseits und Handwerkern und Konsumenten andererseits für falsch, weil sie die Kunstpraxis von ihrer Tradition einer Verankerung in der Lebenspraxis trennt. Im Gegensatz zu den Asthetizisten und Modernisten hält sie nicht einzelne revolutionäre Experimente in der Kunst für entscheidend, sondern ihre konstante Integration in den Alltag und die Lebenspraxis aller Menschen. Anders als die oft elitären Modernisten lehnte sie eine implizite Hierarchisierung von Populär- und Hochkunst ab. Die Wirkung der Kunst be- zeichnet Lee als erhebend, harmonisierend und solidarisierend (B 149 und 155).

Mit ihren Galerie- und Museumsrundgängen versuchte sie, diese ethische Wir- kung des Ästhetischen zu befördern.

6 Sie hat immer wieder betont, dass eine Messung der inneren Dynamiken, die im Rezeptions- prozess stattfinden, mit den Technologien späterer Zeiten möglich werden würden.

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3. Wirkungsweise von Kunst in Lees Erzählungen

In ihren literarischen Werken problematisierte Lee solche Fragen nach der Funk- tion und Wirkungsweise der Kunst. Seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhun- derts schrieb sie Erzählungen, in denen sie, wie viele ihrer Zeitgenossen, T h e - men von Kunst und Künstlern aufgriff. Die Künstlerthematik tritt i mß n de siecle mit einer Häufigkeit auf, die über die Selbstbezüglichkeit des Asthetizismus hin- aus auf die kulturpolitische Dringlichkeit verweist, das Verhältnis von Kunst und Leben neu zu bestimmen. Das M e d i u m der fantastischen Erzählung, wie sie am Ende des 19. Jahrhunderts populär war, erwies sich als eine ideale Form, um ein neues Paradigma von Kunst und Kunstwirkung durchzuspielen, so wie es auch Oscar Wilde in The Picture of Dorian Gray und Henry James in vielen seiner Künstlergeschichten erprobten. Mit diesen Werken haben Lees Kurzgeschichten gemeinsam, dass das Kunstwerk im Mittelpunkt der Erzählung zum Instrument der Vermittlung einer furchtbaren Wahrheit wird, die im realen Leben verborgen bleiben kann. Zwar ist der Topos des »enthüllenden Gemäldes«, der sich auf eine höhere Wahrheit der Kunst bezieht, nicht neu, aber die erkenntnisskeptische Schilderung, die uns in Zweifel über die Glaubwürdigkeit des Erlebens stürzt, ist neu bei James und Lee.

Man kann Lees Erzählungen als Ausgangspunkt ihrer »psychologischen Ästhe- tik« bzw. Rezeptionsästhetik deuten. Sie waren Teil einer weiblichen Richtung des Asthetizismus, der in jüngster Zeit gerade von der feministischen Literatur- wissenschaft als Pendant zu den seit langem bekannten männlichen ßn de siecle- Schriftstellern wieder entdeckt wird. Thalia Schaffer (vgl. die Rezension von Brusberg-Kiermeyer in diesem Heft) hat die These aufgestellt, dass die subtil-sub- versiven Schreibweisen von Autorinnen des Asthetizismus bestimmte Strategien entwickelten, die bereits die gründliche Subjektivierung und Erkenntnisskepsis der M o d e r n e vorwegnahmen (Schaffer 2000, 6). Unter diesen literarischen Stra- tegien ist eine unzuverlässige bzw. irreguläre Erzählinstanz dominant, die das rationale universale Wertsystem und seine homogenisierenden Kommentare in Gestalt der Autorität einer auktorialen Erzählstimme vermeidet und damit eine der entscheidenden Neuerungen der M o d e r n e vorwegnimmt. Man könnte sogar sagen, daß diese phänomenologische Wende des Erzählens, die den fiktionalen Diskurs subjektiviert, ein textuelles Merkmal der Subversionsstrategien weibli- chen Erzählens im Asthetizismus war. I m Fall Lees geht der Einfluss auf die M o - derne sogar noch weiter: sie präfigurierte in ihren ästhetizistischen Erzählungen eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Kunst u n d Wirklichkeit, Sub- jekt-Objekt, die sie später theoretisch behandelt.

Lee entwirft in ihren ästhetizistischen Künstlergeschichten einen unheilvollen Dialog von kreativem Betrachtungsakt u n d fast magischer Wirkkraft des Kunst- werks. In den fantastischen Geschichten des Sammelbandes Hauntings werden die Protagonisten zu unheimlichen Grenzgängern zwischen realer Welt u n d

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Kunst oder zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Die fiktiven Frauen errei- chen ungeahnte Macht durch ihre Verkörperungen als Kunstwerk, sie verdrehen den Künstlern oder Kunstbetrachtern den Kopf, verwirren sie zunehmend und verursachen schließlich ihren Tod.

Der Ich-Erzähler der phantastischen Geschichte »Amour Dure« z.B. ist ein deutscher Kunsthistoriker, der sich vorgenommen hat, die sterilen Ergüsse seiner Kollegen in den Schatten zu stellen mit seinen Recherchen über die Renais- sancefiirsten Oberitaliens. Während seiner Nachforschungen vor Ort verfällt er einer Obsession mit einer Lucretia Borgia-ähnlichen Frauenfigur und wird Opfer ihrer gewalttätigen Ränke. Höhepunkt seiner Obsession ist eine plötzli- che Konfrontation mit dem Portrait der Frau.7 Dieser ekphrastische Moment bewirkt, dass der Held zum Grenzgänger zwischen Gegenwart und Vergangen- heit wird. Er begegnet der Geliebten und stirbt in ihrem Auftrag. Stirbt er an Empathie? Es scheint tatsächlich, als warnten diese früheren Geschichten Lees vor den Gefahren ihrer später entworfenen Idee der Empathie.

Dies ist jedoch bei eingehender Textanalyse nicht aufrecht zu halten. Zunächst desavouieren die Geschichten die dargestellte Kunstbetrachtung des Erzählers durch seine epistemologische Unzuverlässigkeit. Seine begrenzte, verzerrte Per- spektive ist durch keine gesicherte Weltsicht ergänzt. Sodann erzählen die Geschichten von einem vollkommenen Aufgehen des erlebenden Helden im Betrachtungsobjekt. Seine Ekphrase hat sogar Momente einer Lacanschen Spie- gelszene. Lee nutzte also die Ekphrasis, die von Pater und anderen neuen Kunst- kritikern am Ende des 19. Jahrhunderts als faszinierende Textsorte wiederent- deckt worden war, um mächtige Transformationen des Bild- und Weltverständ- nisses zu bewirken.8 Die Ekphrasis, die in allen Erzählungen in Hauntings zentral ist, erlaubt jene imaginative Konfrontation von Betrachter und Bild, die für Lees Ästhetik die Basis darstellt. Ekphrasis imaginiert eine fiktive Reaktion auf Kunst und, das ist wesentlich, provoziert eine leserseitige Reaktion durch die Interak- tion von Verbalisierung und Visualisierung. Sie ist also eine Textsorte, die auf- grund ihrer imaginativen Doppelung immer Fragen zur Medialität der Darstel- lung verhandelt und dabei eine performative Interaktion inszeniert. Wenn näm- lich Texte und Bilder aufeinandertreffen, entsteht durch ihre Interaktion ein Spannungsraum, in dem sich Bewegungen zwischen dem Verbalen und dem Vi- suellen vollziehen und der Prozesscharakter des Betrachtens vordergründig wird (vgl. Brosch 2002). Lees fantastische Geschichten erzählen von den Transforma- tionen in diesem Interaktionsprozess von Kunst und Betrachter, und sie bewir-

7 Lee nutzte ein reales Bildnis als Vorlage, das minutiös beschrieben wird. Es handelt sich um das Portrait der Lucrezia Panciatichi, zwischen 1532 und 1540 von Agnolo Bronzino gemalt, ein Bild in den Uffizien. Die Beschreibung des Bronzino-Portraits sowie die zentrale Idee von Lee, dass das Objekt der Wahrnehmung und der Prozess des Sehens in der narrativen Darstellung untrennbar verschmelzen, hat Henry James in seinem R o m a n The Wings of the Dove (1903) übernommen.

8 Vgl. seine Beschreibung der Mona Lisa in The Renaissance.

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ken beim Leser, dem dritten Element in der Konstellation der ekphrastischen Konfrontation, eine transgressive Ablösung von konventionellen Bilddeutungen.

Hier in der fantastischen fiktionalen Welt tritt ein, was Fischer-Lichte als Spe- zifikum herausragender Performativität beschreibt: »Ästhetische Erfahrung reali- siert sich als Schwellenerfahrung« (Fischer-Lichte 2001, 361). Die Short Stories machen Kunsterleben zur Grenzerfahrung. Für Lee sollte ästhetische Erfahrung Grenzüberschreitungen möglich machen, aber den Grenzraum bestehen lassen;

weder die pragmatische Funktionalisierung der Kunst noch eine metaphysische Selbstauflösung oder selbstherrliche, anmaßende Exegese billigte sie. So wenden sich die Geschichten schon zu einem früheren Zeitpunkt als die theoretischen Schriften gegen vorherrschende Kunstanschauungen. Das Postulat einer mimeti- schen Ubereinstimmung wird ebenso ungültig wie die Einfühlung als Identifika- tion, ein romantisches Verschmelzen mit dem Objekt der Betrachtung ist fatal.

Lee hat ausdrücklich betont, dass Empathie nicht ein narzisstisches sich Selbst- aufsuchen im anderen des Objekts bedeute, sondern eine allgemeine Tendenz, Wahrnehmung und Erkenntnis mit den Qualitäten des Objekt zu vermischen,

»... Empathie ist keine metaphysische Projektion des Subjekts in das Objekt, son- dern eine momentane Suspension aller Bedürfnisse des Ich« (B 67, meine Uber- setzung). Nicht ein simples Zuschreiben unserer Reaktionen an das Objekt, son- dern eine unbewusste Hybridisierung der Objekterfahrung durch die Bedin- gungen des Wahrnehmungsprozesses ist gemeint.

Lee gehört zu den faszinierendsten Antworten auf die technische Rationalität der Moderne, die als zweifache Zerstörung empfunden wird: als Zersetzung der sinnlichen Erfahrungszusammenhangs und als Zerstückelung ganzheitlichen Denkens. Mit William James sieht sie eine Vielfalt von Wirklichkeiten und die hieraus resultierenden nahezu unendlichen Kombinationsmöglichkeiten der Dinge und Erfahrungen als einen Anlass zum Aufschub endgültiger Deutungen.

Sie versucht also, ästhetische Erfahrung nicht lediglich als menschliches Erleben zu beschreiben, sondern vielmehr als Teil menschlichen Handelns zu begreifen.

Empathie, wie sie sie verstand, ist damit nicht die Brücke zwischen einer fertigen Schöpfung und dem menschlichen Subjekt, sondern eine spezifische Fähigkeit, wodurch alltägliche und besondere Schwierigkeiten der Erfahrung prozessual verarbeitet werden. Ein solcher Akt des Sehens schafft nicht nur Bedeutung, er schreibt sie dem Körper des Betrachters ein und macht sie unabgeschlossen und vorläufig. Kunsterleben ist demnach eine verkörperte, prozesshafte, konstruktivis- tische und auf das Alltagsleben ausstrahlende Erfahrung. Auch wenn ihr der Be- griff aus der Ästhetik des Performativen noch nicht zu Verfugung stand, verstand Lee lange vor anderen Theoretikern der Ästhetik Kunsterfahrung als Schwellen- erfahrung bzw. liminale Erfahrung (vgl. Fischer-Lichte 2001, 361), in der Gren- zen zwischen Subjekt und Objekt und zwischen mentaler, körperlicher und emotionaler Reaktion verfließen.

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Abbildung

Fotografie von Vernon Lee von Mackintosh of Kelso, 1880er Jahre aus: Richard Ormond (1970):

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Referenzen

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