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John Publishing Company. Amsterdam/Philadelphia: von: Clahsen, Harald:

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Klaus-B. Günther

Rezension von: Clahsen, Harald: Normale und gestörte Kindersprache. Linguistische Untersuchungen zum Erwerb von Syntax und Morphologie. Amsterdam/Philadelphia:

John Benjamins Publishing Company.

Mit seiner Dissertation über den frühkindlichen Spracherwerb (1982) und der darauf basierenden Entwicklung eines linguistischen Diagnoseverfahrens zur Erfassung von Sprachentwicklungsstörungen (1986) hat Clahsen in den achtzi- ger Jahren Maßstäbe in der Erforschung des Erwerbs der (deutschen) Sprache und seiner Störungen im Kindesalter gesetzt.

In seiner hier publizierten Habilitationschrift versucht Clahsen, die beiden Untersuchungsstränge in einem Gesamtkonzept des frühkindlichen Erwerbs des Deutschen und seiner Störungen zusammenzufassen. Dementsprechend gliedert sich die Arbeit in zwei Hauptteile, die intern sehr unterschiedlich motiviert und strukturiert sind. Während Clahsen bezüglich des ungestörten Erstspracher-

werbs von einer ausreichenden empirischen Datenbasis auszugehen scheint und

dementsprechend keine neuen Daten erhebt, sondern vorhandene theoretisch- konzeptionell analysiert und interpretiert, werden in dem Teil über Entwick-

lungsdysgrammatismus aus der Profilanalyse gewonnene Daten dargestellt und

bearbeitet.

Im ersten Teil, bei dem es um den „normalen", ungestörten.Spracherwerb geht, entwickelt Clahsen in Auseinandersetzung mit anderen psycholinguisti- schen Konzeptionen eine eigene Spracherwerbstheorie, die sog. „Lernbarkeits- theorie" (Kap. 1.), auf die unten ausführlicher einzugehen sein wird. Diese Lernbarkeitstheorie wird im folgenden mit empirischen Daten für die frühkind- lichen (Kap. 2) und weiterführenden (Kap. 3) Erwerbsphasen expliziert. Sowohl bezüglich der Phaseneinteilung wie der herangezogenen Sprachdaten greift Clahsen vorzugsweise auf seine Sprachentwicklungsuntersuchung (1982) zu- rück, bezieht aber stellenweise auch Ergebnisse anderer Untersuchungen mit ein. So interessant und diskussionsanregend Clahsens Interpretationen im einzelnen auch sind, seine Spracherwerbstheorie impliziert m. E. Probleme prinzipieller Art, die in dieser Besprechung notwendig diskutiert werden müssen.

Clahsen gehört hierzulande zu den wenigen mit dem Spracherwerb beschäf- tigten Linguisten, die sich den harten Bedingungen empirischer Forschung

Zeitschrift für Sprachwissenschaft 10, l (1991), 145-148

© Vandenhocck & Ruprecht, 1992

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146 Klaus-B. Günther

gestellt haben. Dennoch habe ich schon an anderer Stelle darauf hingewiesen (Günther 1984), daß 3 Kinder - zudem außer Alter und Geschlecht ohne Angaben zu grundlegenden personalen und sozialen Merkmalen - eine recht schwache Basis für sehr weitreichende Schlußfolgerungen und Verallgemeine- rungen darstellen. Clahsens Auffassung, daß dieses Problem durch eine von ihm vorgenommene Sekundäranalyse weiterer verfügbarer Sprachentwicklungsda- ten, die die Ergebnisse von Clahsens eigener Arbeit weitgehend bestätigt haben sollen, befriedigend gelöst worden sei, kann nicht zugestimmt werden. Wer die herangezogenen empirischen Arbeiten kennt, weiß, wie problematisch ihre Vergleichbarkeit ist, da kaum zureichende Angaben über Erhebungssituationen und -verfahren sowie sozio-personale Merkmale gemacht werden. Für den ersten Teil der vorliegenden Arbeit scheint der Autor der Auffassung zu sein, genug empirisch-psychologische Handwerksarbeit geleistet zu haben und sich nun voll auf die eigentliche linguistische Arbeit konzentrieren zu können.

Mehr noch als die Frage der empirischen Datenbasis selbst halte ich die von Clahsen verwandte rein linguistische Vorgehensweise, die Daten nur noch als Belege zitiert und ohne entwicklungstheoretische Annahmen auszukommen versucht, für problematisch. Kern der Clahsenschen Spracherwerbstheorie ist die sogenannte Lernbarkeitstheorie nach Pinker (1984): „Der Spracherwerbsme- chanismus selbst unterliegt keinen qualitativen Veränderungen. Die festgestell- ten Entwicklungsstadien sind vielmehr das Ergebnis von graduellen Erweiterun- gen des kindlichen Lexikons und der Verarbeitungsmöglichkeiten für Spra- che... Die Äußerungen der Kinder enthalten zwar Fehler im Sinne einer einzelsprachlichen Norm, und die Kinder erwerben im Verlauf der Entwicklung Regeln, die in dieser Form für die entsprechende Erwachsenensprache nicht zutreffen. Wesentlich aber ist der Nachweis, daß die Lösungen der Kinder von Beginn an in den Geltungsbereich der Universalgrammatik (UG) fallen../' Clahsen vertritt zusätzlich mit Pinker die „Hypothese des lexikalischen Ler- nens". „Er zeigt, daß Entwicklungsfortschritte durch Erweiterungen der Wissensbasis im kindlichen Lexikon wesentlich ausgelöst werden. Dem Kind stehen am Beginn des Spracherwerbs nicht sämtliche lexikalischen Einheiten und die damit verbundenen Eigenschaften zur Verfügung... Nebensatz-einlei- tende Konjunktionen sind z.B. Kindern in frühen Entwicklungsphasen nicht zugänglich und die dazugehörigen syntaktischen Lernmechanismen können noch nicht wirksam werden" (24-26).

Ich habe Clahsen deshalb so ausführlich wiedergegeben, weil die Problematik seines Versuches, eine linguistische Spracherwerbstheorie ohne entwicklungs- theoretische Annahmen zu erstellen, daran sehr offensichtlich wird. Warum werden bestimmte lexikalische Einheiten, z.B. Konjunktionen so spät erwor- ben? Warum ist die frühkindliche Verarbeitungsmöglichkeit für Sprache so eingeschränkt? Warum gibt es Kinder, wie die von Clahsen im II. Teil erwähnten Dysgrammatiker, bei denen die Entwicklung der Sprachfahigkeit in massiver und langanhaltender Weise gestört ist? Im Hinblick auf solche Fragen bleibt

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Clahsens Ansatz rein deskriptiv und eine Erklärung der dafür notwendig heranzuziehenden Entwicklungsprozesse und -Voraussetzungen wird als außer- halb des linguistischen Forschungsinteresses liegend lediglich verlagert. Gerade für die Erforschung der Störungen im sprachlichen Aneignungsprozeß erscheint mir eine solche Ausgliederung höchst fragwürdig. Ich kann jedenfalls den wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt dieses Ansatzes nicht erkennen. Es ist bedauerlich, daß viel gedankliche Arbeit in eine nicht überzeugende Theorie gesteckt wurde.

Anders als im L Teil wertet der Autor im II. Teil empirische Sprachdaten von dysgrammatischen Kindern aus, die mit der Profilanalyse - einem von Clahsen (1986) auf der Basis von Erkenntnissen über die „normale" Sprachentwicklung (Clahsen 1982) entwickelten linguistischen Verfahren zur Diagnose spontan- sprachlicher Äußerungen sprachentwicklungsgestörter Kinder - erhoben wur- den. Die Daten werden analysiert und interpretierend dem allgemeinen Spracherwerbskonzept zugeordnet. In die Auswertungen und Analysen gehen 10 Fälle ein. Von 3 Kindern liegen zwei im Abstand von etwa einem Monat, von 2 Kindern zwei im Abstand von etwa einem Jahr aufgenommene Sprachdaten vor. Bei einem Kind wurden innerhalb eines Jahres drei Sprachproben erhoben.

Allerdings werden die Mehrfachaufnahmen kaum für die Überprüfung von Entwicklungsprozessen genutzt.

Die Problematik der Abstraktion von entwicklungstheoretischen Annahmen schlägt sich jedoch auf die Auswahl der Kinder nieder (vgl. Tab. 3, 128). Das älteste Kind Anja ist mit 9;6 Jahren genau dreimal so alt wie das jüngste, das sich mit 3;2 noch in der Endphase der normalen Sprachentwicklung befindet. Anja weist mit einer mittleren Äußerungslänge von 1,46 zudem das mit Abstand niedrigste Sprachentwicklungsniveau aller 10 analysierten Kinder auf! Ich halte es auf diesem Hintergrund im hohen Maße für fragwürdig, beide Kinder als identisch entwicklungsdysgrammatisch zu klassifizieren.

Die Analyse der Sprachdaten zeigt, daß die Hauptprobleme der dysgramma- tisch sprechenden Kinder im Bereich der grammatischen und operativen Funktionswörter, im Flexionssystem incl. der Kongruenz und in der Verbstel- lung liegen. Überraschend ist, daß damit, allerdings in vieler Hinsicht lingui- stisch differenzierter und fundierter und damit die Diagnostik sprachlicher Entwicklungsstörungen weiterführend, im Grundsatz klassische Feststellungen der Sprachheilpädagogik bestätigt werden. Wirklich neu ist m. E. die Aussage von Clahsen, daß die in einer bestimmten Entwicklungsphase und bei Dysgram- matikern dominante fehlerhafte Verbendstellung nicht auf Störungen beim Aufbau der syntaktischen Konstituentenstruktur, sondern sekundär auf Schwierigkeiten mit der grammatischen Kongruenz beruht. Clahsen begründet diese Annahme mit den Ergebnissen bei der normalen Sprachentwicklung, nach denen die Verbstellungsfehler in dem Moment verschwinden, in dem die grammatische Kongruenz vollständig erworben ist.

Die Clahsensche Schlußfolgerung ist zumindest nicht zwingend. Es handelt

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sich bei dem Zusammenhang zwischen grammatischer Kongruenz und Verbstel- lung um eine rein empirisch vorfindbare deskriptive Korrelation, die man genauso gut auch damit erklären könnte, daß die syntaktische Konstituenten- struktur faktisch noch zu rudimentär ausgebildet ist, um für die Kongruenzbil- dung wirksam zu werden. Bei den dysgrammatischen Kindern gibt es sogar einen harten empirisichen Gegenbeleg (208 ff). Das Kind Petra verfügt sogar bei der dritten Erhebung über das korrekte Paradigma für die Subjekt-Verb- Kongruenz, die Verben stehen aber nach wie vor noch am Satzende. Trotz verschiedener alternativer Erklärungsversuche gelingt es Clahsen nach eigenem Eingeständnis nicht, diese Abweichung zufriedenstellend einzuordnen. Bedenkt man, daß noch bei einem weiteren dysgrammatischen Kind die morphologische Verbstellungs-Hypothese nicht zutrifft, dann klingt die abschließende Bemer- kung des Autors etwas merkwürdig, daß „die beobachteten Besonderheiten im Vergleich zu den anderen untersuchten Kindern eher marginal sind" (213).

Wenn jedoch die vom Autor vorgetragene Interpretation sich auch durch andere Untersuchungen als zutreffend erweisen sollte, dann hätte dies m. E.

weitreichende Folgen für die Entwicklungstheorie der Sprache und ihrer Störungen, wie sie sich auch in der stärkeren Einbeziehung von semantischen Strategien und des lexikalischen Wissens in der Clahsenschen Sprachentwick- lungstheorie andeuten. Das Problem der Aneignung der (deutschen) Sprache im Kindesalter wäre dann nämlich nicht, wie klassischerweise angenommen, die syntaktische Konstituentenstruktur - diese kann als quasi angeborene univer- salgrammatische Arfausstattung angesehen werden - sondern das Flexionssy- stem in seiner Einbindung in die grammatische Kongruenz. Diesbezüglich meine ich, hat Clahsen erneut wichtige Denkanstöße für die weitere Erforschung der Sprachentwicklung und ihrer Störungen geben.

Literaturnachweis

[Clahsen 1982] Clahsen, Harald: Spracherwerb in der Kindheit. Eine Untersuchung zur Entwicklung der Syntax bei Kleinkindern. - Tübingen: Narr 1982.

[Clahsen 1986] Clahsen, Harald: Die Profilanalyse. Ein linguistisches Verfahren Jur die Sprachdiagnose im Vorschulalter. - Berlin: Marhold 1986.

[Günther 1984] Günther, Klaus.-B.: Rezension von: Clahsen, Harald: Spracherwerb in der Kindheit. Eine Untersuchung zur Entwicklung der Syntax bei Kleinkindern. - In:

Zeitschrift für Sprachwissenschaft 3, S. 289-295.

[Pinker 1984] Pinker, Steven: Language learnability andlanguage development. - Cambrid- ge (Mass.)/London: Harvard University Press 1984.

Eingereicht am 25.4.1991

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Rezension von: Werner König: Atlas zur Aussprache des Schriftdeutschen in der Bundesrepublik Deutschland.

Band 1: Text. Band 2: Tabellen und Karten. Ismaning:

Hueberl989. 173,3328.

Im Jahre 1899 urteilt Hermann Paul über das von Theodor Siebs ein Jahr zuvor vorgelegte Projekt einer „Deutschen Bühnenaussprache": „Die notwendige Grundlage für jede derartige Regelung müßte eine sorgfaltige, unbefangene Beobachtung der wirklich in den verschiedenen Gegenden von Deutschland bestehenden Aussprache bilden [...]. An einer derartigen Grundlage fehlt es hier ganz" (Gutachten 1899: 189). Über 90 Jahre später muß Besch (1990: 100) feststellen: „die empirische Grundlage (war) damals unzureichend und sie blieb es bis in unsere Zeit". An dieses Urteil schließt er die Forderung an: „Es wäre wohl an der Zeit, in aller Nüchternheit und mit den guten Hilfsmitteln unserer Zeit eine verläßliche Bestandsaufnahme heutiger Aussprachewirklichkeit im Gesamtgebiet zu machen" (ebd,: 101). Für ein Teilgebiet, die ehemalige Bundesrepublik Deutschland, liegt mit dem hier zu besprechenden Werk nun eine solche Bestandsaufnahme vor.

Ihr Ziel (siehe Kap. I) ist, „großlandschaftliche Unterschiede in der Ausspra- che des Schriftdeutschen zu erkunden und darzustellen" (S. 8). Ihr Autor (im folgenden: „K.") will die Ergebnisse dann nicht nur der Forschung zur Phonetik und Phonologie des Deutschen zur Verfügung stellen, sondern vor allem auch mehreren Disziplinen der angewandten Sprachwissenschaft: dem'Deutschunter- richt für Ausländer (hier greife „man zwar immer auf die etablierten Ausspra- chewörterbücher [...] zurück, doch wie tatsächlich gesprochen wird, ist weitge- hend unbekannt"), dem Fremdsprachenunterricht für Deutsche (die „zu diesem Zweck erstellten kontrastiven Untersuchungen [...] beziehen sich in der Regel auf die Nonnaussprache, die praktisch niemand beherrscht") und dem Recht- schreibunterricht (oft werde eine in weiten Gebieten überhaupt „nicht vorhan- dene phonetische Eigenschaft" zur Basis einer Rechtschreibregel gemacht); und schließlich lasse sich „mit dem Material dieser Arbeit als Grundlage auch die vor allem Nicht-Sprachwissenschaftler interessierende Frage beantworten, in wel- cher Gegend [...] das 'beste' Hochdeutsch gesprochen werde" - allerdings erst nach einer „Diskussion der Frage, was als die 'beste' Aussprache anzusehen sei".

Auch wenn K. diese Einschränkung macht, ist man von dieser letzten Zielsetzung doch ein wenig irritiert. Ist denn die Botschaft dieser Untersuchung

Zeitschrift für Sprachwissenschaft 10, l (1991), 149-154

<& Vandenhoeck & Ruprecht, 1992 ISSN 0721-9067

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150 Rüdiger Harnisch

nicht gerade, daß es viele oder zumindest mehrere 'gleich gute' landschaftlich verschiedene Varianten des Hochdeutschen / der „gesprochenen Schriftspra- che" gibt? Und warum nimmt er das, was seine Arbeit auch oder vielleicht sogar vor allem ist - eine Kritik an der sprachlandschaftlichen Unausgewogenheit der orthoepischen Standardwerke -, nicht ausdrücklich in den Katalog seiner Untersuchungsziele auf, sondern versteckt es sozusagen in Anliegen von Teildisziplinen der Sprachdidaktik und deutet erst gegen Ende vorsichtig an, daß seine Ergebnisse „gewiß auch für eine neue, mehr den Realitäten entsprechende Norm der deutschen Aussprache" (S. 122) nutzbar gemacht werden können?

Möglicherweise hat es K. als Süddeutscher vermeiden wollen, als parteiisch eingeschätzt zu werden, wenn er zu deutlich auf das unbestreitbare Faktum unserer 'genordeten' Aussprachevorschriften hingewiesen hätte, was Brenner schon 1899 an Siebs (1898) als „Umgehung süddeutscher Sprechweise"

(Gutachten 1899: 182) kritisiert hatte und was, weil sich an dieser Einseitigkeit bis heute nichts geändert hat, Besch noch 1990 veranlaßt, von einer „'Vernord- deutschung' unserer Aussprachenorm" zu sprechen (S. 100).

Die Ergebnisse dieser Untersuchung haben jedenfalls - ganz gleich, zu welchen sprachdidaktischen und/oder sprach(norm)politischen Zwecken man sie letztendlich heranziehen will - durch die Anforderungen, die K. an den Umfang und die Güte des Materials gestellt hat, besonderes Gewicht im Vergleich zu früheren Arbeiten mit einer ähnlichen Zielsetzung, die er im Forschungsbericht (Kap. II) bespricht: Angestrebt und in hohem Maße erreicht (siehe Kap, III/IV) hat K. nämlich Homogenität im Netz seiner 44 Untersu- chungsorte, Homogenität auch im Alter, Bildungsstand und in der sozialen Herkunft seiner Gewährsleute, die er aus einer Menge von ursprünglich 75 Informanten als geeignet ausgewählt hat. Alle 44 sind innerhalb von 13 Jahren (1946-1958), über drei Viertel sogar innerhalb von vier Jahren (1953-1956) geboren, alle haben Abitur und sind/waren Studenten, von allen hat auch mindestens ein Elternteil Abitur, und alle „sind in dem Ort, für den sie sprechen, geboren und aufgewachsen" (S. 17). Fünf Textsorten/Kontextstile wurden erho- ben:

(a) Spontane Rede, angeregt durch Fragen nach der Einstellung der Informanten zu Hochsprache und Dialekt (Fragekatalog abgedruckt in Kap. XIII.2.);

(b) Vorlesesprache zusammenhängender Text (Ausschnitt aus dem Grundgesetz, ca. vier Schreibmaschinenseiten lang);

(c) Vorlesesprache Wortliste: 1.480 Wörter in zwei Teillisteiv jeweils alphabetisch geordnet, unterbrochen von Test (d), siehe unten (abgedruckt in Kap. XIII. l. a./c.);

(d) Vorlesesprache 99 Minimalpaare (abgedruckt in Kap.XIILl.b.);

(e) Vorlesesprache 21 Einzellaute (abgedruckt in Kap.XIII.l.d.).

Die ersten beiden Textsorten wurden - vermutlich wegen des nötigen Arbeitsaufwands für diese materialintensiven und, was Test (a) betrifft, unstrukturierten Teilkorpora - nicht ausgewertet. „Das aufgenommene Mate- rial liegt aber vor" (S. 18).

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Transkribiert (siehe Kap. V) hat K., der als Leiter des Sprachatlasses von Bayerisch Schwaben (Augsburg) in der Erhebungs- und Transkriptionstradition des Schweizerdeutschen und Südwestdeutschen Sprachatlasses steht, im Teu- thonista-System. Für die Publikation wurde dann auf API umgestellt. Ein exemplarischer Vergleich API/Teuthonista findet sich im Anhang (Kap. XIII.6.). Das Material hat K. gestützt auf vier EDV-Programme zur geographischen und distributionellen Sortierung verarbeitet (Beispiele im Anhang: Kap. XIII.7.). Sie waren für Teuthonista-Transkripte am Südwestdeut- schen Sprachatlas (Freiburg) entwickelt worden (Kap. VI).

Vom Problembewußtsein des Autors zeugt Kap. VII: „Nochmalige Beschrei- bung und Begründung wichtiger Teile der Versuchsanordnung und der Aus- wertungsprinzipien unter dem Blickwinkel der Repräsentativität und Validität der gewonnenen Ergebnisse". So ist sich K. im klaren darüber, daß der Sprecher

„bewußt so artikulieren (kann), wie er es, von seinem Normverständnis her, glaubt tun zu sollen" (S. 29). Doch eine „Beeinflussung des Ergebnisses in diese Richtung hat der Verfasser bewußt in Kauf genommen" (ebd.), denn es interessiere ja gerade das Bild, das sich die Gewährsperson vom Hochdeutsch der „ruhigen verstandesmäßigen" (Siebs), an der Schrift orientierten Rede macht. K. leugnet auch nicht die Gefahr von „Reiheneffekten" beim Lesen von Einzelwörtern, Fehlerquellen beim Transkribieren usw., vermag jedoch zumeist nachzuweisen, daß die Vorteile der gewählten Methoden ihre Nachteile überwiegen, und hat da, wo Probleme nicht kompensiert oder gelöst werden können, zumindest darauf aufmerksam gemacht.

Mit dem entsprechenden Vorwissen ausgerüstet, kann der Leser dann an die Darstellung der Erhebungsergebnisse selbst gehen, den Hauptteil des ersten (= Text-) Bandes von K.s Werk, der in die Bereiche Vokalismus (Kap. VIII), Konsonantismus (Kap. IX) und Nebentonsilben (Kap. X) gegliedert ist. Diese Darstellung steht in engem Bezug zum zweiten (= Tabellen- und Karten-) Band.

Diese Verteilung auf zwei Bände ermöglicht ein bequemes paralleles Studium von Tabellen-/Kartentatbeständen und ihrer Diskussion im Textteil. Die Reihenfolge der behandelten lautlichen Probleme ist im ersten undzweiten Band jeweils die gleiche. Das Leitprinzip der Darstellung lautet: „Die Ergebnisse werden kontrastiert mit den Forderungen der Aussprachewörterbücher Siebs (1969), GWDA (1982) und Duden (1974). Nur direkt vergleichbare Forschun- gen [siehe die im Forschungsbericht, Kap. II, angeführte Literatur] werden ausführlich diskutiert" (S. 35).

An einigen Stellen hätten über eine isolierte Darstellung von Einzelphänome- nen hinaus Zusammenhänge aufgedeckt und dargestellt werden können. Zum Beispiel ist K. überrascht, daß es überhaupt eine geographische Verteilung der buchstabenverhafteten Leseaussprache des h in Wörtern wie sehen. Ehe usw.

gibt (S. 89 f.). Zumindest bei Fällen wie sehen und gehen hätte sich aber ein

Seitenblick auf die Verhältnisse bei der Endsilbe -en angeboten (S. H 9 f.), denn h

kann natürlich nur bei solchen Wörtern gesprochen werden, deren Endsilben -e

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nicht synkopiert wird. Ein Blick in die einschlägigen Karten (S. 234 bzw. 330) hat denn auch gezeigt, daß tatsächlich bei fast der Hälfte der Untersuchungsorte eine deutliche Beziehung entweder zwischen gesprochenem h und unterbleiben- der Synkope oder zwischen Synkope und nicht gesprochenem (weil gar nicht sprechbarem) h besteht. An dieser Stelle muß man jedoch fairerweise einräumen, daß ein Sprachatlas, auch wenn er wie der von K. ausführlich kommentiert, nicht alle Folgeprobleme, die sich aus den geographischen Befunden ergeben, selbst schon bearbeiten kann und das auch nicht sollte. Schließlich stellt er von seinem Charakter her in erster Linie ein Instrument für Folgeforschung dar.

Selbstverständlich bekommt man bei K. auch nicht auf alle interessierenden Fragen eine Antwort. So hätte ich mich zum Beispiel für die Geographie der Aussprachen von [.. .lf.. .]-Sequenzen (Stichwort: [elvBvets] 'Elferwette') inter- essiert, doch hat K. diese Lautfolge nicht untersucht.

Die wichtigsten Ergebnisse stellt K. im Kapitel XI nochmals tabellarisch dar.

Die „Lautung nach Siebs (1969)" wird dabei jeweils der von K. so genannten

„Regelaussprache im Untersuchungsgebiet" gegenübergestellt, welche auf einem quantitativen Urteil gründet ('was die meisten sprechen, ist die „Regel- aussprache" '). In einer dritten Rubrik werden „gegenüber der Regelaussprache auffallende Eigentümlichkeiten sowie deren (grobe) regionale Verbreitung"

angegeben. In einem ersten Beispiel (anlautendes [pf-]), das hier gegeben werden soll, entsprechen sich orthoepische Norm (N) und Regelaussprache (R), eine regionale Eigentümlichkeit (E) weicht von beidem ab (nach S. 131):

N und R: [pf-]

E: [f-] im Norden und in der Mitte (Verweis auf Tab. P 2, Karte P 8, Pferd, Pflanze)

In einem zweiten Beispiel (-en im Nebentonauslaut) erscheint die Norm- lautung als Abweichung von der Regelaussprache (nach S. 137):

N: [-an]

R: H?]> [- ]> hj]> Je nach Umgebung

E: [-an] streut im ganzen Untersuchungsgebiet, weniger im östlichen Süden (Tab.NS 5, Karten NS 11-13, Bogen, Zeichen usw.)

Mit Hilfe dieses Kapitels stößt der Benutzer auf dem direktesten Wege zu den entscheidenden Punkten - das sind Fälle, bei denen Aussprachenorm und -realität deutlich auseinanderklaffen (vgl. K.s Anm.*, S. 123) - vor. Wer bestimmte Einzelphänomene sucht oder sich nur einen Überblick verschaffen will, wird wohl sogar am besten zuerst dieses Kapitel XI aufsuchen, sich von den dort gegebenen Hinweisen zu den entsprechenden Karten und Tabellen des zweiten Bandes führen lassen und dann erst die betreffende ausführliche Ergebnisdarstellung in den Kapiteln VIII bis X des ersten Bandes zu Rate ziehen.

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Der Textband schließt mit einem Literaturverzeichnis (Kap. XII) und dem Anhang (Kap. XIII), in dem sich außer den oben bereits genannten Teilen noch das sehr wichtige Verzeichnis der Belegorte und der Sozialdaten der anonym bleibenden Informanten befindet (Geschlecht, Geburtsjahr und Beruf des Informanten selbst, Herkunft und Ausbildung/Beruf der Eltern, Aufnahmeort mit dem auf den Karten verwendeten Namenskürzel; Kap. XIII.3./5.).

Insgesamt haben wir eine empirisch gut fundierte und argumentativ sorgfalti- ge Arbeit vor uns, die nur einen großen Mangel aufweist (der allerdings vom Autoren nicht zu verantworten ist): ihre Beschränkung auf das ehemalige Bundesgebiet. Das weiß auch K.: „Wünschenswert wäre es gewesen, nicht nur die [ehemalige, R. H.] Bundesrepublik Deutschland, sondern auch die übrigen deutschsprachigen Gebiete Mitteleuropas zu erfassen" (S. 16). Doch man sieht ein, daß das von einem Einzelnen in einem vertretbaren Zeitraum unmöglich hätte geleistet werden können. Nichtsdestoweniger besteht dieses „dringende [...] Desiderat im Anschluß und (räumlich) über die Arbeit von König hinaus"

weiter (Besch 1990: 100). Solche Bestandsaufnahmen für die vormalige DDR, die deutsche Schweiz und Österreich sollten sich der Sachdienlichkeit (Vergleich- barkeit der Ergebnisse) wegen möglichst eng an K.s Pionierprojekt anlehnen, auch wenn deren Verfasser damit keinen Preis methodischer Originalität mehr gewinnen könnten. Wer nimmt die Aufgabe trotzdem in Angriff?

Nachschrift aus aktuellem Anlaß: Einer Zeitungsnotiz (Die Welt 20.2.91: 23) entnehme ich, daß in einem „von der Volkswagenstiftung [...] gefordertefn] Vorhaben" der Universitäten Köln und Halle als Erweiterung des GWDA (1982) ein ganz Deutschland erfassendes „Wörterbuch der deutschen Aussprache" geplant ist. „Die regionalen Besonderheiten" der Aussprache „in den alten und neuen Bundesländern" sollen erfaßt und zu diesem Zweck auch „sozial repräsentative Gruppen in den verschiedenen Sprachlandschaften befragt" werden. Es ist zu hoffen, daß die Methoden dieses Projekts mit denen K.s konvergieren und die Ergebnisse deshalb vergleichbar sein werden.

Literaturnachweis

[Besch 1990] Besch, Werner: Schrifteinheit - Sprechvielfalt. Zur Diskussion um die nationalen Varianten der deutschen Standardsprache. - In: German Life and Letters 43 (1990), 91-102.

Puden 1974] Duden Aussprachewörterbuch. Bearb. v. Max Mangold. - Mannheim 1974.

(= Der Große Duden. 6.)

[Gutachten 1899] Gutachten und Berichte über die Schrift „Deutsche Bühnenaussprache"

(1898). - In: Wissenschaftliche Beihefte zur Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins 16 (1899), 177-212.

[GWDA 1982] Großes Wörterbuch der deutschen Aussprache. Hg. v. einem Kollektiv. - Leipzig 1982.

[Siebs 1898] Siebs, Theodor: Deutsche Bühnenaussprache. Ergebnisse der Beratungen [.. J 1898 f...J zu Berlin. - Berlin/Köln/Leipzig 1898.

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[Siebs 1969] Siebs, Theodor: Deutsche Aussprache. Reine und gemäßigte Hochlautung mit Aussprachewörterbuch. Hg. v. Helmut de Boor, Hugo Moser und Christian Winkler. - 19. Aufl.-Berlin 1969.

Eingereicht am 2.4.1991.

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