ÜBER DIE BEDEUTUNG UND DIE ERSCHLIESSUNG
DER RABBINISCHEN BIBELKOMMENTARE FÜR DIE
CHRISTLICHE EXEGESE
Von Lothar Tetzner, Frankfurt/Main
Das gesamte jüdische Schrifttum des Mittelalters ist ein einziger großer
Kommentar zum Alten Testament. Wie kommt es nun, daß die christlichen
Theologen, soweit sie sich intensiv mit dem Alten Testament befassen, diese
ungeheure Materialfülle weitgehend unberücksichtigt lassen? Wie kommt
es, daß eben dieselben christlichen Theologen, die sich eingehend mit der
Geschichte der Exegese - z. B. den Kirchenvätern, der Scholastik und den
Reformatoren - beschäftigen, die jüdischen Kommentare aus dem gleichen
Zeitraum völlig übergehen ? Zumal es doch allgemein bekannt ist, daß sowohl
die Scholastiker wie die Reformatoren der jüdischen Exegese durchaus ver¬
pfhchtet waren (ich nenne als Beispiele hier nm Rhabanus Maurus, Nicolaus
von Lyra und Martin Luther) ? Der oft genannte Grund, daß die Rabbinen
sich in ihrer Exegese zum Alten Testament in juristischen Spitzfindigkeiten
erschöpfen, verrät zu sehr oberflächliche Betrachtung und weithin auch
Vorurteile - dasselbe könnte man ja auch der Scholastik vorwerfen -, als
daß er hier auch nm diskutiert zu werden braucht. Der ehrliche Betrachter
wird schnell spüren, daß in der rabbinischen Exegese des Mittelalters - und
nur von dieser will ich hier sprechen - der gleiche Ernst vorherrscht wie auf
christlicher Seite.
Der Grund für die Unkenntnis rabbinischer Exegese bei den christlichen
Theologen liegt m. E. nach vor allem in der Schwierigkeit und im Umfang
des Stoffes. Gliedern wir zunächst einmal diesen Stoff, um herauszufinden,
was ims als ohristliche Theologen direkt angeht. Wir können dio Material¬
fülle erheblich reduzieren, wenn wir zuerst, um überhaupt einen Ansatz¬
punkt zu erhalten, das gesamte sog. halachische Schrifttum außer acht
lassen. Es handelt sich dabei um alles das Schrifttum, das in der Diskussion
um das jüdische Religionsgesetz entstanden ist; also um die Mischna, die
Tosefta, die beiden Talmudim, die eigentlichen Gesetzeskodizes, wie den
Schulchan Aruch, die Mischne Tora, imd nicht zuletzt um die sehr unüber¬
sichtliche, weil so umfangreiche sog. Responsenliteratur. Außerdem können
wir absehen von der religionsphilosophischen Literatur und natürlich der
religiösen Dichtung des jüdischen Mittelalters.
Nach diesen Abstrichen verbleiben noch die Schriften zur Grammatik
und die eigentlichen Bibelkommentare, bei denen wiederum zunächst rein
haggädische Literatm, wie der Midrasch, zurückgestellt werden muß. Die
Schriften zur Grammatik sind für den christlichen Theologen in zwar älteren,
aber durchweg guten Ausgaben und z.T. auch kritischen Zusammenfassun¬
gen und Übersetzungen verfügbar. Anders die Bibelkommentare. Sie sind
- von wenigen Ausnahmen abgesehen - noch unerschlossen. Bevor ich je¬
doch über die Möglichkeiten einer Erschließung und ihre Problematik
sprechen werde, muß geklärt werden, ob der Arbeitsaufwand, den eine solche
Erschließung erfordert, auch in angemessenem Verhältnis zu den zu erwar¬
tenden Resultaten steht. Mit anderen Worten : Es muß nach der Bedeutung
der rabbinischen Kommentarwerke für die christliche Exegese gefragt
werden. Kann der christliche Alttestamentler an schwierigen Stellen des
Bibeltextes bei den Rabbinen des Mittelalters fruchtbare Anregung oder
Einblicke in dmchaus annehmbare Erklärungsmöglichkeiten erwarten ?
Diese Frage möchte ich mit einem uneingeschränkten Ja beantworten,
ünd zwar deshalb, weil die mittelalterhchen Rabbinen in ihrer Exegese
- soweit es um die Herausarbeitung des sensus literalis simplex geht - fast
die gleichen wissenschaftlichen Methoden anwenden wie die christlichen
Theologen. Sie müßten also zu Ergebnissen kommen, zu denen auch der
christliche Exeget kommt oder kommen kann.
Wie sehen diese Methoden nun im einzelnen aus? Zunächst die Grund¬
normen, denen alle jüdischen Exegeten - ungeachtet ihrer individuellen
Ausrichtung - gleichermaßen verpflichtet sind' :
1. ,,Die Schrift redet in der Sprache der Menschen."
Diese Grundnorm, die doch so selbstverständlich ist, daß man über ihre
Erwähnung erstaunt sein muß, liefert die Berechtigung für jede Art Exe¬
gese, die auf grammatischen Kriterien aufbaut sowie für die Annahme von
Anthropomorplüsmen .
2. ,,Kein Schriftwort geht seines einfachen Wortsinnes verlustig."
Dieser bereits im Babylonischen Talmud (Sabbat 63a und Jebamot IIb,
24a) verankerte Grundsatz geriet nie ganz in Vergessenheit, obwohl die
haggädische Auslegung im ersten Jahrtausend unserer Zeitrechnung das
Übergewicht hatte und scheinbar alles in ihren Bann zog. Es handelt sich
bei diesen beiden Auslegungsarten um den Peschat und den Derasch, denen
auf christlicher Seite der sensus literalis seu historicus, auch sensus literalis simplex, und der sensus mysticus seu spiritualis, auch sensus literalis duplex,
entsprechen. Nur gibt es für die Rabbinen kein Entweder-Oder. Sie leiten
vielmehr aus Ps LXII 12^ die Berechtigung ab, einen Bibelvers zugleich
' Es handelt sich hier nur um bibelexegetische Methoden; halachische Me¬
thoden bleiben unberücksichtigt.
2 Auch aus Jer XXIII 29. „Das Wort Gottes gleicht dem Hammer, der den
über die Bedeutung und die Erschließung der rabb. Bibelkommentare 313
auf verschiedenartige Weise zu deuten. So kommt es, daß bei den mittel¬
alterlichen Rabbinen, sehr häufig aber auch schon in den Targumim, zwei
oder auch mehr Auslegungsarten nebeneinander dargeboten werden, ohne
daß darin ein Widerspruch empfunden würde*.
Welche Bedeutung unserem Grundsatz zukommt, hat bezüglich Raschi
sohon Nicolaus von Lyra herausgestellt. Er schreibt*: omnes tamen
fraeswpfonunt sensum literalem, tanquam fundamentum. Unde sicut aedi-
ficium dedinans a fundamento disponitur ad ruinam, ita expositio mystica
discrepans a sensu literati, reputanda est indecens, et inepta, vel saltern minus decens, . . . ideo volentibus proficerc in studio sacrae scripturae, necessarium est incipere ab intellectu sensus literalis, maxime cum ex solo sensu literati, et non ex mystico, possit argumejüum fieri ad probationem, vel declarationem alicuius dubii . . . Scierulum etiam, quod sensus literalis est multum obumbra-
tus, propter modum exponendi communiter traditum ab aliis, qui licet multa
bcma dixerint, tamen parum tetigerunt literalem sensum, et sensus mysticos
infantum multiplicaverurd, quod. sensus literalis, inter tot expositiones mysti¬
cos interceptus, partim suffocatur . . . Haec igitur, et similia vitare propo- nens, . . . intendo circa literalem sensum insistere, et paucas valde, et breves expositiones mysticas aliquando interponere, licet raro."
3. ,,Kein Buchstabe der Schrift ist überflüssig."
Dieser Grundsatz ist nicht etwa als Ablehnung jeder Art von Textkritik
zu verstehen. Er bezieht sich vielmehr auf einen korrekten Text.
4. ,,Die Schrift legt sich selbst aus."
Dieser Grundsatz findet vor allem Anwendung bei der Auslegung histori¬
scher Partien des Alten Testaments, bei der Bestimmung von Daten usw.,
dann aber auch bei der Eruierung der Religionsgesetze.
5. ,,In der Schrift ist wahrhaftige Mitteilung niedergelegt, sie ist daher
beweiskräftig."
Auch dieser Grundsatz, wie er von den Rabbinen angewendet wird, liegt
der christlichen Exegese von heute fern, denn es handelt sich hier um eine
Begründung für die religionsgesetzliche und philosophische Beweisführung.
6. ,,Der massoretische Text ist maßgebend für die Auslegung."
Dieser Grundsatz bezieht sich vor allem auf den Konsonantenbestand,
aber weitgehend auch auf Vokale und Akzente, obwohl hier vereinzelt vor¬
sichtige Änderungen gewagt werden. Als eine Art Textkritik kann an-
viele Funken sprühenden Fels zersplittert"; man vgl. hierzu b Sanhedrin 34a,
Raschi in der Einleitung zum Hohen Lied, dens. zu Ex IX 6.
' Z. B. Tabgum Jonathan zu Ex XXII 12: Peschat neben Derasch.
* Postilla literalis super biblia, Prologus secundus. De intentione autoris et modo procedendi, Venedig 1588, T. I, fol. 3 F-H.
gesehen werden, wenn mittelalterhche Rabbinen sich zustimmend zu Onqelos und Jonathan äußern, an Stellen, an denen diese vom massoretischen
Text abweichen. So finden sich als von den alten Übersetzern übernommen
folgende Interpretationsmethoden :
Veränderung der Vokalisation, Veränderung dos Konsonantenbestandes
in Form eines Konsonantenwechsels, Spaltung eines Wortes in mehrere
Wörter, Zusammenziehung zweier Wörter zu einera Wort, zweimalige Le¬
sung eines Wortes, Aufteilung eines Satzes in zwei Sätze unter Hinzufügungen,
Zusammenziehung zweier Sätze trotz trennender Akzente (Enjambement),
Ergänzung nach Parallelstellen, Kürzung des Textes, Präzisierung allge¬
meiner Ausdrücke, ümstellung einzelner W^örter, Zusätze zum Text, Zu¬
fügungen infolge Breviloquenz des Textes, Umschreibung des Textes,
Euphemismen und Anthropomorphismen.
Alle diese Methoden dienen den mittelalterlichen Rabbinen jedoch nur
zur Erklärung, nicht aber als Kriterien zur Änderung des Textes! Weitere
von den Grammatikern entwickelte und von den Kommentatoren über¬
nommene und angewendete Methoden sind: Annahme einer Ellipse, eines
Pleonasmus, Umstellungen aus syntaktischen Gründen, Wortvergleichun¬
gen mit anderen Sprachen (vor allem orientalischen) und Wortvertauschun- gen (Tropen und Metaphern).
Die genanntsn Methoden begegnen in der heutigen christlichen Theologie
weitgehend unter dera Oberbegriff Textkritik und nur vereinzelt unter dem
Oberbegriff Literarkritik, und zwar da, wo es um Feststellung der prosaischen oder poetischen Gattungsbegriffe, die innere Gliederung eines Textabschnit¬
tes oder ura stilistische Merkwürdigkeiten und Abweichungen von der Norm
geht. Sonst ist literarkritisch bei den Rabbinen des Mittelalters zeitbedingt
nicht allzuviel zu erwarten. Dagegen kann, was die formgeschichtliche und
traditionsgeschichtliche Analyse der Texte betrifft, gerade bei den Rabbinen
des Mittelalters genaue Kenntnis vorausgesetzt werden. Hier finden wir in
formaler Hinsicht eine derartige Fülle an Beobachtungen, daß man fast
von lexikalischer Vollständigkeit reden kann. Vor allem die Grammatiker
haben immer wieder auf anomale sprachliche Formen, auf die Häufigkeit
des Auftretens bestimrater Wortklassen in bestimmten Zusammenhängen,
auf rhetorische Eigenarten, auf syntaktische Formen u. dgl. mehr hingewie¬
sen und damit die Voraussetzung für eine gründhche Exegese der nachfol¬
genden Kommentatoren geschaffen.
Dies alles läßt sich wissenschaftlich einwandfrei nachweisen. Aber Sie
können mit Recht einwenden, daß es nur Voraussetzung einer jeglichen Exe¬
gese ist, noch nicht Exegese selbst. Nun bin ich der Auffassung, daß die
Schriftexegese - vorausgesetzt, daß wir es mit einer guten Exegese zu ttm
haben - über diese wissenschaftlichen Grundlagen nm dann hinausgehen
kann, wenn ein anderes, wissenschaftlich nioht begründbares und nicht
über die Bedeutung und die Erschließung der rabb. Bibelkommentare 315
nachweisbares Faktum hinzutritt: die Intuition. Ich kann es Ihnen nicht
beweisen, aber ich kann es Ihnen wahrscheinlich machen, daß die jüdischen
Exegeten des Mittelalters in gleichem Maße wie die christlichen Exegeten
über diese Intuition verfügt haben. Es ist doch unwahrscheinlich, daß einer,
der die wissenschaftlichen Methoden der Exegese beherrscht und noch dazu
in der Sprache des Alten Testaments groß geworden ist und in ihr lebt, für
diese Sprache absolut keinen Spürsinn hat. Und Intuition auf exegetischem
Gebiet ist doch nichts anderes als die Fähigkeit, dem eigenthchen Sinn der
Sprache, sei es eines einzelnen Wortes oder eines Satzzusammenhangs,
nachzu]auschen und ihr auf meditativem Wege diesen Sinn abzuringen. So
haben z. B. die an dor arabischen Grammatik und Syntax geschulten Rab¬
binen der spanischen Exegetenschule sicher ein tieferes Gespür für den Sinn
und die Bedeutung eines hebräischen Wortes gehabt, als auf christlicher
Seite z. B. die Humanisten. Wenn man aber die einen für bedeutend genug
hält, sich mit ihnen zu befassen, gibt es keine Begründung mehr, daß die
anderen übergangen werden.
Doch genug über die Bedeutung, wenden wir uns nun der Erschließung
der Texte zti. Es gibt bisher leider - das erwähnte ich schon zu Beginn -
nur wenige texktkritische Ausgaben der rabbinischen Kommentare zum
Alten Testament. Das hat folgende Gründe :
1. besitzen wir keine Autographe der einzelnen Kommentare;
2. sind die uns überlieferten Handschriften und älteren Drucke nivelliert
und großenteils aufeinander abgestimmt. Sie bieten, abgesehen von Plene-
und Defektivschreibungen, nichts wesentlich Neues. Wirklich gute
Varianten tauchen meist nur in Fragmenten auf, erstrecken sich also nur
auf einen oft verschwindend kleinen Teil des Gesamtkommentars.
3. sind die Quellen, aus denen die mittelalterlichen Autoren schöpfen, zum
großen Teil noch nicht textkritisch untersucht. Es ist daher ein Urteil,
ob der Autor einen Text in der gegebenen Weise zitiert hat, oder ob sein
ursprüngliches Zitat einem anderen ähnlich lautenden Text angeglichen
wurde, nur in den seltensten Fällen möglich. Auch ist hier die Frage zu
stellen: ,,Hat der Autor aus der Quelle selbst oder nach Anführungen
anderer Autoren - also aus Sekundärliteratur - zitiert?".
4. Wenn man die Handschriften der Quellen nach bestimmten Gruppen ge¬
ordnet hat, muß erst festgestellt werden, welcher Gruppe die Vorlage des
Autors angehört hat. D. h., es muß damit gerechnet werden, daß der
Autor nach einer fehlerhaften Vorlage zitiert, und sein Zitat kann daher
nicht einfach verbessert werden.
Erst wenn diese Fragen in Monographien geklärt sein werden und wenn
textkritisehe Ausgaben und Konkordanzen zu den Quellen vorliegen, kann
mit der Arbeit an textkritischen Ausgaben der mittelalterhchen Kommen¬
tare begonnen werden.
Was bleibt uns also zunächst zu tun, um die Kommentare für die christ¬
liche Exegese zu erschließen? Es muß an Hand der traditionellen Druck¬
ausgaben
1. die jeweilige Quelle nachgewiesen werden, aus der der Autor schöpft;
2. auf Parallelen innerhalb des traditionellen jüdischen Schrifttums hin¬
gewiesen werden. Es müssen
3. Parallelen zum Gesamtwerk der einzelnen Autoren oder zu den Werken
anderer mittelalterlicher Autoren aufgezeigt werden, und es muß
4. auf Eigenheiten in der exegetischen Behandlung einer Stelle hingewiesen
und soweit möglich, müssen erschöpfende Beispiele aus dem Gesamtwerk
des jeweiligen Autors gebracht werden;
5. muß zu all dem natürlich eine einwandfreie Ubersetzung des Textes ge¬
stellt werden.
Sie haben sicher bemerkt, daß hier das halachische und haggädische
Schrifttum, das ich am Anfang provisorisch ausgeschieden habe, anschei¬
nend zm Hintertür wieder hereinkommt. Darin gerade liegt die Problematik
des Verständnisses der mittelalterlichen jüdischen Schriftkommentarc. Sic^
sind großenteils so verwoben mit dem traditionellen Schrifttum, daß eine
Kenntnis eben dieses Schrifttums für ihr Verständnis unbedingt notwendig
ist. Doch ist dies natürlicherweise bei dem einen Autor mehr als bei einem
anderen, der Fall. Es ist also zweckmäßig, zunächst einmal boi den Autoron
anzufangen, die möglichst wenig in der Traditionsliteratur verwurzelt sind.
Nun habe ich eine bisher unbekannte Tatsache nachweisen können, näm¬
lich daß einer der größten Exegeten des mittelalterlichen Judentums,
Abraham ben Meir ibn Esra, die traditionelle Literatur nicht benutzt und
wohl auch nicht gekannt hat. Dies geht aus seinem Bibelkommentar deut¬
lich hervor, wo er Zitate aus der Traditionsliteratur anderen Exegeten in
den Mund legt, was er bei Kenntnis der Quellen sicherlich nicht getan hätte.
Es sind dies folgende Stellen :
Zu Gn Vll 23 zitiert er einen Anonymus, die Quelle ist b Zeb 11 3a sowie
Gn r XXXIII; zu Gn XVII 14 zitiert er einen Anonymus, die Quelle ist
b Sanh 110b; zu Ex III 2 zitiert er die Karäer Jeschua und Saadja Gaon,
die Quelle ist Targum Onqelos zu Nm XXXIII 16 sowie Sifre, ed. Fried¬
mann, S. 146b; zu Ex III 3 zitiert er den Karäer Jefet, die Quelle ist Ex r
II 5; zu Ex IV 4 zitiert er ebenfalls Jefet, die Quelle ist b Sabb 97a; zu
Ex IV 24 zitiert er Samuel ben Chofni, die Quelle ist b Ned 34a; zu Ex V
19 zitiert er Jehuda ibn Balaam, die Quelle ist Sifre, a. a. 0., S. 10b; zu
Ex VI 13 zitiert er Jeschua, die Quelle ist Ex r VII 2 sowie Sifre, a. a. 0.,
S. 25b; zu Ex VII 12 zitiert er ebenfalls Jeschua, die Quelle ist b Sabb 94b
über die Bedeutung und die Erschbeßung der rabb. Bibelkommentare 317
(vgl. auch Raschi); zu Ex Xll 3 zitiert er Jefet, die Quelle ist Mischna Pes
1X5; zu Nm XXIV 6 zitiert er allgemein ,,die Karäer", das Zitat stammt
von Lewi ben Jefet ha-Lewi (s. A. Harkavy, Zikron le-rischonim, Machberet
8, Petersburg 1903, S. 155), der wiederum aus dem Sefer ha-mizwot des
Anan schöpfte, auch bei dem Karäer Jakob ben Reuben findet sich dieser
Kommentar (im Sefer ha-ozar, s. P. Weiss, Ihn Esra we-ha-keraim, in:
Mehla, Halaka 3^, 19.50, S. 201), die Quelle ist Gn r XX; zu Nm XXIV 16
zitiert er einen Anonymus, die Quelle ist b Ber 7a; zu Hos IV 3 zitiert er
Jefet, die Quelle ist b Qid 13a; zu Sach III 1 zitiert er einen Anonymus, die
Quelle ist j Ber II 5.
Es wäre also zweckmäßig, bei oinem solchen Autor mit der Erschließung
der rabbinischen Kommentare für die christliche Exegese zu beginnen. So¬
viel zur Theorie. Nur noch einige kurze Beispiele zur praktischen Erläute¬
rung:
Es ist allgemein bekannt, daß bereits Abraham ben Meir ibn Esra bemerkt
hat, daß das Buch Jesaja keine Einheit darstellt, und daß die Kapitel 40-66
einer späteren Zeit angehören müssen. Erst 1775 und 1783 wurde diese Er¬
kenntnis - unabhängig von ibn Esra - durch Döderlein und Eichhorn auch
der christlichen Theologie zuteil. D. h. eine dmchaus vertretbare und heute
allgemein anerkannte These wurde aus Unkenntnis 600 Jahre lang nicht
einmal diskutiert. Solcher extrem krassen Beispiele gibt es natürlich nur
wenige. Und doch lassen sich auch heute noch zahlreiche Beispiele, für
Worterklärungen etwa, anführen, die durchaus diskutabel sind, aber in
kein christliches Lexikon Eingang gefunden haben. Man nehme einmal den
1934 erschienenen Genesiskommentar von B. Jacob zur Hand. Schon nach
der Lektüre weniger Seiten muß einem hier klar werden, wie fruchtbar die
rabbinischen Kommentare für die christliche Auslegung sein können! Um
so bedauerlicher ist es, daß selbst Wörterbücher zum Alten Testament, wie
das von L. Köhler, so aufschlußreiche Werke wie das von A. S. Yahuda,
Die Sprache des Pentateuch in ihren Beziehungen zum Ägyptischen, Berlin
und Leipzig 1929, oder wichtige Artikel wie den von H. Torczyner in der
MGWJ 1933, Maschak, eine mißverstandene hebräische Vokabel, S. 401-412,
nicht einmal erwähnen. Das zeigt, daß auch die Beziehungen der clnist-
lichen Exegeten zur modernen jüdischen Exegese nicht sehr gepflegt wer¬
den. Wann endlich sehen die christlichen Theologen ein, daß sie es bei der
bibelexegetischen Literatur der Juden nicht ,,nur mit rabbinischen" Er¬
zeugnissen, sondern mit ernstzunehmenden, weil ernsthaften Bemühungen
um das Verständnis der biblischen Texte zu tun haben ?
Von Claus Schedl, Graz
STATUS QUAESTIONIS
Psalm 1 wird allgemein zu den Weisheitspsalmen gerechnet. Castellino'
sagt daher einfach: ,,La serie dei salmi sapienziali 6 aperta dal primo del
Salterio". Dahood'' nennt ihn kurz: ,,A Wisdom psahn contrasting the
assembly of the just with the assembly of the wicked". Auch Weiser* sieht
in ihm ,,ein Lied praktisch frommer Lebensweisheit. Seinen Verfasser
können wir uns denken als einen jener Weisheitslehrer, der sich zur Aufgabe gemacht hat, junge Männer in die ,Weisheit' einzuführen . . . Hierzu bedient
er sich der Form des ,Weisheitsliedes'. Durch die Klarheit seines Aufbaus,
durch seine schlichte, in bekannten Formen sich bewegende Sprache, Bilder
und eindrucksvolle Mahnung dient der Psalm recht gut der erzieherischen
Absicht seines Verfassers. Seine besondere Bedeutung liegt darin, daß die
,Lebensweisheit' auf fester religiöser Grundlage ruht, die mit ihren Wurzeln
in der gottesdienstlichen Tradition verankert ist". Man könnte noch die
anderen großen Psalmenkommentare beiziehen, die angeführten mögen
aber zur allgemeinen Charakterisierung genügen. Es fällt nur auf, daß die
altjüdische Weisheit kaum irgendwo in die Deutung einbezogen wurde.
Daher setzt unsre Untersuchung hier ein.
Ob man sich nun für eine Früh- oder Spätdatierung entscheidet, ist zu¬
nächst von wenig Belang. Wir beschränken uns auf die rein formale Be¬
standsaufnahme des in der Biblia Hebraica vorliegenden masoretischen
Textes, dem die Leningrader Handschrift B 19A(L) zugrunde gelegt ist.
Wir verzichten auf jede Textkorrektur und möchten nur diese quasi kano¬
nische Tradition nach etwaigen Formungsgesetzen befragen.
Wir greifen daher die altrabbinische Methode des Zählens der Sätze,
Wörter und Buchstaben wieder auf. Das Auffallende besteht darin, daß bei
einer solchen Zählung nicht irgendwelche Zahlen in Erscheinung treten,
sondern gerade solche, die für die altjüdische Mystik charakteristisch sind.
In der Erforschung der jüdischen Mystik hat sich ja ein gewaltiger W^andel
vollzogen, dies dank der zahlreichen Arbeiten G. Scholems, der seine End-
' Castellino, G. : Libro dei Salmi. La sacra Bibbia, Turin 19.55, 732.
2 Dahood, M.: Psalms I (1-50). The Anchor Bible, Vol. 16 (1966), 1.
' Weiser, A.: Die Psalmen, I. Teil: Pss 1-60. ATD 14 (1950), 62.