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ie große Zahl von Anforderungen an Kunststoffe hat dazu geführt, dass heute mehr thermoplastische Kunststoffcompounds auf dem Markt sind als je zuvor. Dabei werden den Kunststoffen u. a. Zusatzstoffe beige- mengt, die deren Einsatz für die jeweili- ge Anwendung überhaupt erst möglich machen. Gerade beim Spritzgießen las- sen sich Produkte mit einer hohen Bau- teilkomplexität herstellen. Allerdings ist das Spritzgießverfahren komplex und reagiert sensibel auf ein verändertes Werkstoffverhalten. Schon geringe An-teile an speziellen Zusatzstoffen kön- nen die Prozessführung wesentlich be- einflussen [1].
Beispielsweise erhöhen Füll- und Ver- stärkungsstoffe häufig die Viskosität ei- nes Kunststoffs und setzen deutlich hö- here Drücke zur vollständigen Formteil- füllung voraus. Andere Zusatzstoffe nei- gen dazu, sich an der Werkzeugwand abzulagern, sodass die Bauteile im Werk- zeug stärker anhaften und die Entfor- mung erschwert wird. Dadurch können die Bauteile geschädigt werden oder die Auswerferstifte im Werkzeug, die insbe-
sondere bei komplexen Bauteilen häufig klein dimensioniert sind, knicken ab oder brechen.
Prüfung von Kunststoffen unter Laborbedingungen
Materialhersteller versuchen bei neuen Kunststoffcompounds von vornherein, schlechtere Verarbeitungseigenschaften zu verhindern. Deshalb werden oft zu- sätzliche Funktionszusatzstoffe einge- setzt, z. B. Gleit- und Fließhilfsmittel oder Kristallisationsbeschleuniger.
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Spritzgießwerkzeug zur Inline-Werkstoffcharakte-
risierung: Eine neue Messmethode erfasst den Einfluss von Additi- ven auf die Verarbei- tungseigenschaften von
Kunst stoffen (© IKT)
Werkstoffcharakterisierung im Werkzeug
Einflüsse von Zusatzstoffen inline im Spritzgießprozess messen
Kunststoffen werden schon direkt nach der Polymersynthese Zusatzstoffe beigemischt, um ihre Verarbeitungs- und Bauteileigenschaften zu verbessern. Am IKT in Stuttgart wurde ein Inline-Messverfahren entwickelt, das die Einflüsse von Zusatzstoffen auf Werkstoffverhalten und Spritzgießprozess aufzeigt. Dieses erlaubt zugleich die Messung des Werkzeuginnendrucks sowie die Charakterisierung der Entformungseigenschaften mithilfe einer Entformungs- und Normalkraftmessung. So können auch geringste Eigenschaftsänderungen durch Zusatzstoffe beschrieben werden.
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ren. So können anwendungs nahe Werk- stoffdaten für eine gute Vergleichbarkeit bereitgestellt und ein störungsfreies pro- duktionseffizientes Spritzgießen erreicht werden.
Zusatzstoffe wie beispielsweise Gleit- mittel beeinflussen überwiegend das Füll- und Entformungsverhalten beim Spritzgießprozess. Sogenannte äußere Gleitmittel bilden eine Art Trennfilm auf der Formteiloberfläche, der die Reibung zwischen Kunststoffteil und Werkzeug- oberfläche reduziert.
Die Idee, das Entformungsverhalten über werkzeugintegrierte Sensoren zu charakterisieren, wird schon seit Jahren verfolgt [2–4]. Während der Entformung wird die dazu erforderliche Kraft FE ge- messen. Die maximale Entformungskraft wird als Vergleichswert herangezogen, mit dem die Wirkweise der Gleitmittel le- diglich abgeschätzt werden kann (Glei- chung1).
(1)
FE: Entformungskraft; μ: Reibungskoeffizient;
FN: Flächenpressung (Normalkraft wirkt auf den Formkern);
AF: Mantelfläche des Formkerns
Eine genauere Einstufung der Gleitmit- tel durch den Reibungskoeffizienten ist aufgrund der nicht bekannten Flächen- pressung FN nicht möglich. Diese wird durch eine Vielzahl an Faktoren wie beispielsweise die Formteilgeometrie, die Schwindung und den E-Modul des Kunststoffs sowie die Verarbeitungs- bedingungen beeinflusst und lässt
FE= µ ⋅FN⋅AF
Meist werden die Wirkmechanismen zwischen Zusatzstoffen und Kunststoff unter Laborbedingungen geprüft. Die Er- gebnisse lassen sich auf den realen Spritz- gießvorgang allerdings nicht immer voll- ständig übertragen, sodass Verarbeiter bei der Serienproduktion einen erhöhten Ausschuss oder Wartungsaufwand in Kauf nehmen müssen. Am Institut für Kunst- stofftechnik (IKT) in Stuttgart wurde aus diesem Grund eine Inline-Messmethode entwickelt, die es ermöglicht, einen Werk- stoff direkt an der Spritzgießmaschine un- ter realen Bedingungen zu charakterisie-
Bild 1. Entformungskraftoktaeder: Mit dieser speziellen Bauteilgeometrie werden die Entformungs- und Normalkraft bestimmt
(© IKT)
Schließseite Düsenseite
Entformungskraftsensor
Entformungssystem Entformungsrichtung Normalkraftsensor
Formteil Entformungswegsensor
Bild 2. Schnittdarstellung des entwickelten Inline-Messwerkzeugs mit integrierten Sensoren
(Quelle: [5], IKT)
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sich daher nicht ohne Weiteres ab- schätzen.
Neue Inline-Messtechnik für den Entformungsvorgang
Am IKT wurde nun erstmals eine neue Messmethode entwickelt, um die Entfor- mungskraft FE sowie die Normalkraft FN zu bestimmen. Dabei handelt es sich um ein spezielles Entformungskraftwerkzeug (Titelbild).
Dazu wurde ein Entformungskraft- oktaeder (Bild 1) mit einer Höhe von 60 mm entwickelt. Auf eine Entformungs- schräge verzichten die Konstrukteure, da- mit das Bauteil über den gesamten Ent-
Die Autoren
Tristan Koslowski, M.Eng., ist wissen- schaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Verarbeitungstechnik des Instituts für Kunststofftechnik (IKT) der Universität Stuttgart;
tristan.koslowski@ikt.uni-stuttgart.de Alexander Geyer, M.Sc., ist wissen- schaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Verarbeitungstechnik des IKT;
alexander.geyer@ikt.uni-stuttgart.de Univ. Prof. Dr.-Ing. Christian Bonten leitet das IKT in Stuttgart.
Dank
Die Autoren danken der Keim-Additec Surface GmbH für die enge Kooperation im Rahmen des Projekts sowie der Arburg GmbH + Co KG für die Unterstützung bei der Versuchsdurchführung. Dieses For- schungs- und Entwicklungsprojekt wird mit Mitteln des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi) innerhalb des Förderprogramms AiF-ZIM gefördert.
Service
Literatur & Digitalversion
B Das Literaturverzeichnis und ein PDF des Artikels finden Sie unter www.kunststoffe.de/3161744
formungsweg im Flächenkontakt mit dem Werkzeugkern steht. Bei der Kons- truktion des Bauteils wurde auf eine mög- lichst zylindrische Form geachtet, damit der Kunststoff gleichmäßig auf den Form- kern aufschwindet und die gleichzeitig ebene Flächen beinhaltet, um die Mes- sung der Normalkraft zu erleichtern.
Im Werkzeugkern ist ein Normal- kraftsensor eingebaut. Dieser erfasst die Normalkräfte, die das Formteil während des Spritzgießzyklus auf den Kern ausübt (Bild 2). Im Entformungssystem wurde ein Sensor integriert, der die Entformungs- kraft aufzeichnet, die nötig ist, um das Bauteil mittels einer Abstreifplatte voll- ständig auszuwerfen. Zudem zeichnet ein Wegsensor die Position des Auswer- fers auf. Über einen Messstand lassen sich so direkt an der Spritzgießmaschine (Typ hier: Allrounder 520S 1600-400; Hersteller:
Arburg) Entformungskraft-Weg-Kurven darstellen.
In Versuchen (Bild 3) wurde zum einen die Normalkraft, die während des Abkühl- vorgangs auf den Kern wirkt, und zum an- deren die Entformungskraft über dem entsprechenden Entformungsweg des Abstreifrings gemessen und mit einem Messwertprogramm aufgezeichnet.
Erkenntnisse der Auswertung
Der über den gesamten Spritzgießzyklus erfasste Verlauf der Normalkraft unter- scheidet sich zwischen einem teilkristalli-
Bild 3. Verfahrensab- lauf zur Messung der
Entformungs- und Normalkraft im Spritzgießzyklus
(Quelle: [5], IKT)
Entformungskraft-, Entformungsweg- messung
Entformen
Ende Start
Werkzeug öffnen
Kühlen
Dosieren Nachdrücken
Normalkraftmessung Werkzeug
schließen Einspritzen
Bild 4. Die Normalkraftverläufe auf den Werkzeugkern für einen teilkristallinen und einen amorphen Thermoplasten innerhalb eines Spritzgießzyklus zeigen einen erneuten Anstieg in der Restkühlphase (Quelle: IKT)
0
Zeit 800
700 600 500 400 300 200 100 0 N
Normalkraft FN
5 10
teilkristallin
amorph
15 20 25
Restkühlphase
Auswerferseite Düsenseite Nachdruckphase
Einspritzphase
30 FN
AS DS
Aufschwindungsvorgang auf den Kern
35 40 s 45
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nen und einem amorphen Thermoplas- ten erkennbar (Bild 4). Der typische Werk- zeuginnendruckverlauf erlaubt bereits während der Formfüllung erste Aussagen über das Fließverhalten und während der Nachdruckphase über das Kristallisations- verhalten des Kunststoffs. Abweichend von den bisherigen Werkzeuginnendruck- messungen lässt sich während der Rest- kühlzeit zusätzlich das Aufschwinden des Kunststoffs auf den Formkern aufzeigen.
Der gemessene maximale Wert kurz vor dem Entformungsvorgang wird als FN,max
bezeichnet.
In einem charakteristischen Kurven- verlauf nimmt die Entformungskraft, nachdem die Maximalkraft FE,max über- wunden ist, bis zum Auswurf des Teils an- nähernd linear ab (Bild 5). Die Schwankun- gen in der Messkurve können sowohl auf ein Sensorrauschen als auch auf Oberflä- cheneinflüsse des Werkzeugs zurückge- führt werden.
Mit dieser Messmethodik können die Normal- und die Entformungskräfte ver- schiedener Kunststoffe ermittelt werden (Bild 6). Die unterschiedlichen Entfor- mungskräfte sind dabei auf die Adhäsi- onskräfte, Oberflächenspannung und Reibungskräfte zwischen dem Kunststoff und dem Werkzeugstahl zurückzufüh- ren. Beispielsweise bewirkt das verwen- dete Polyamid (PA6) eine größere Nor- malkraft als ein Polypropylen (PP), wobei jedoch gleichzeitig eine geringere Ent- formungskraft erforderlich ist. Aufgrund der in Gleichung1 vorgestellten Zusam- menhänge spricht dies für eine geringe- re Anhaftung des PA an die Werkzeug- oberfläche. Bei dem verwendeten glasfa-
serverstärkten PA (PA6-GF30) ist diese noch niedriger.
Zusätzlich wurden dem PP unter- schiedliche Anteile eines Gleitmittels (GM) zugeführt. Dadurch konnte die Ent- formungskraft verringert werden. Über die zusätzliche Messung der Normalkraft lässt sich der Wirkmechanismus des Gleit- mittels weiter spezifizieren. So ist zu er- kennen, dass mit Zugabe des Gleitmittels nicht nur die Entformungskraft sinkt, son- dern gleichzeitig die Normalkraft steigt.
Anhand von Kristallinitätsmessungen konnte eine nukleierende Wirkung des Gleitmittels festgestellt werden.
Demzufolge besitzt das zugegebene Hilfsmittel eine Gleitwirkung und zusätz- lich einen kristallisationsbeschleunigen- den Effekt. Dies kann zum einen eine er-
höhte Verarbeitungsschwindung hervor- rufen, zum anderen liegt zum Entfor- mungszeitpunkt eine höhere Steifigkeit des Bauteils vor, sodass eine größere Kraftübertragung auf den Sensor mög- lich wird. Bei einem höheren Anteil des Additivs tritt dieser Vorgang verstärkt auf (Bild 6). Somit kann man auch Eigenschafts- änderungen, die durch kleinste Anteile an Zusatzstoffen ausgelöst werden, mit der neuen Inline-Messtechnik hochauflösend charakterisieren.
Effektiver Vergleichswert
Quantitativ lässt sich die Wirkung der Zu- satzstoffe über einen repräsentativen Entformungsreibwert μE aus der schon erwähnten maximalen Normalkraft in
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Entformungsweg 2000
1600
1200
800
400
0 N
0
Entformungskraft
10 20 30 40 50 60 mm 70
Auswerferseite Düsenseite
FE
Bild 5. Der Entformungskraftverlauf beim Auswerfen des Bechers aus dem Werkzeug nimmt über dem Entformungsweg ab (Quelle: IKT)
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der Restkühlphase FN,max (Bild 4) und der maximalen Entformungskraft FE,max (Bild 5) beschreiben (Gleichung2).
(2) Dieser Wert ähnelt dem Gleitreibungs- koeffizienten μ aus der klassischen Tribo- logie und ermöglicht generelle Aussagen über die Trennwirkung zugegebener Ad-
µE=FE, max
FN, max
ditive. Dabei stimmen die mit dem Werk- zeug ermittelten Reibwerte tendenziell mit den in Labor gemessenen Reibwer- ten überein (Bild 7). Zur besseren Ver- gleichbarkeit wurden diese auf die Werte des PP normiert. Die auftretenden Abwei- chungen sind auf verarbeitungstechni- sche Effekte zurückzuführen, die im La- bor nicht ohne Weiteres nachgestellt werden können.
Dieser Entformungsreibwert kann so- mit als Vergleichswert herangezogen werden, um das Entformungsverhalten von Werkstoffen genauer als bisher zu beschreiben. Mit ihm können Einflüsse von Trennmitteln schnell benannt und verglichen werden. Des Weiteren lassen sich Auswirkungen von Prozessparame- tern auf den Entformungsschritt nun ef- fektiv beschreiben, sie helfen so, den Pro- zess effizienter zu gestalten. Im laufenden Prozess stellt der Wert außerdem einen guten Vergleichswert für die Qualitätssi- cherung dar.
Ausblick
Eine neue, am IKT entwickelte Inline- Messmethode erlaubt mithilfe ins Werk- zeug integrierter Druck- und Kraftsenso- ren eine Aussage darüber, wie sich Zu- satzstoffe auf das Entformungsverhalten auswirken. Wie bereits von konventio- nellen Spritzgießwerkzeugen bekannt, kann die absolute Entformungskraft er- mittelt werden. Mit einer speziell kons- truierten Oktaedergeometrie kann nun zusätzlich die Normalkraft erfasst wer- den, die entsteht, wenn der Kunststoff auf den Werkzeugkern aufschwindet.
Aus den Werten lässt sich ein Entfor- mungsreibwert μE gewinnen, der eine charakteristische, werkstoffspezifische Größe für die Reibung zwischen Bauteil und Werkzeug während des Entformens darstellt.
Aktuell arbeitet das IKT daran, die Er- kenntnisse auf weitere Bauteilgeometrien zu übertragen. Eine verfeinerte Messsen- sorik verspricht dabei noch genauere Messwerte. So soll es zukünftig ermög- licht werden, schon während der Werk- zeugkonstruktion die Entformungskräfte noch präziser vorherzusagen, um eine reibungslose Serienproduktion zu ge- währleisten. W
Bild 7. Der Vergleich der jeweils auf PP normierten Rei- bungskoeffizienten zeigt eine gute Übereinstimmung zwischen konven- tioneller und Inline-Messung
(Quelle: [6], IKT)
1,0 0,8 0,6 0,4 0,2
0 PP PC POM
normierte Reibwerte
gemessener Reibwert, normiert
µE, normiert
© Kunststoffe Entformungskraft
160 N 120 100 80 60 40 20 00
Normalkraft
200 400 600 800 1000 1200 1400 N 1600
PP PA6 PA6-GF30 PP + 0,2% GM PP + 0,5% GM
Bild 6. Die Entformungs- und Normalkräfte der verschiedenen Kunststoffe (GM = Gleitmittel) zeigen große Unterschiede (Quelle: [5], IKT)
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