Hans Walser
Symmetrie als Werkzeug
Arbeitskreis Geometrie der GDM
8. - 10. September 2017 Saarbrücken
Zusammenfassung: Die Klassifikation der Symmetriegruppen der Flächenornamente wird als Hilfsmittel für den Beweis eines Theorems aus der Elementargeometrie ver- wendet. Die Idee dabei ist, ein lokales Phänomen in eine Übersichtsdarstellung einzu- binden und von daher zu verstehen.
1 Das Theorem
Wir setzen den Seiten eines Sehnenvierecks Parallelogramme an (Abb. 1a). Die Paralle- logramme sind jeweils aus zwei gegenüberliegenden Seiten des Sehnenviereckes gebil- det und haben alle denselben, aber beliebigen spitzen Winkel (kann auch ein rechter Winkel sein). Die spitzen Winkel der Parallelogramme sind zyklisch angeordnet. Die zyklische Anordnung der Parallelogramme ist daher „windrädchenartig“. Gegenüberlie- gende Parallelogramme sind kongruent, aber ungleichsinnig orientiert.
Abb. 1: Sehnenviereck und Parallelogramme
Theorem (E. V., M.): Die Mittelpunkte der Parallelogramme sind die Ecken eines Rechteckes (Abb. 1b).
2 Erwachende Wissenschaft 2.1 Allgemein
Die Entstehung von Wissenschaft und Bildung erfolgt oft nach dem Muster:
• Sammeln
• Ordnen – Ordnungskriterien
• Struktur
• Theorie
2.2 Flächenornamente
Im Bereich der Flächenornamente kann das etwas so aussehen:
• Sammeln schöner Bildchen, etwa aus der Alhambra oder dem Taj Mahal
• Ordnen nach Symmetriekriterien
• Struktur im Sinne einer Klassifikation. Im Anhang ist eine Klassifizierungshilfe als Flussdiagramm angegeben
a) b)
• Theorie. Es gibt genau 17 Symmetrieklassen (Niggli 1924), (Pólya 1924)
Im Unterschied zu analogen Klassifikationen in den Naturwissenschaften kann in der Mathematik bewiesen werden, dass es eine weiteren Beispiele mehr gibt. Damit kann die Klassifikation als Werkzeug verwendet werden: jedes neu auftauchende Flächenor- nament muss zu einer der 17 Symmetrieklassen gehören. Die Eigenschaften in der be- treffenden Symmetrieklasse gelten dann für das neu aufgetauchte Flächenornament.
2.3 Exkurs: Kristallografische Restriktion
Der Schlüssel zur abschließenden Auflistung der 17 Symmetrieklassen ist die sogenann- te kristallografische Restriktion.
In einem Flächenornament können nur folgende Drehwinkel erscheinen:
180° (Halbdrehungen, Punktspiegelungen) 120° (Dritteldrehungen)
90° (Vierteldrehungen) 60° (Sechsteldrehungen)
Insbesondere können keine Drehungen um 72° (Fünfteldrehungen) erscheinen. Wir können die Ebene nicht mit regelmäßigen Fünfecken parkettieren.
Abb. 2: Der muss draußen bleiben
Als Folge der kristallografischen Restriktion kommen auch nur wenige Winkel als Schnittwinkel von Symmetrieachsen und/oder Schubspiegelachsen in Frage. Diese Winkel sind 0° (parallel), 90° (orthogonal), 60°, 45° und 30°.
2.4 Beschreibung der 17 Symmetrieklassen
Die Tabelle 1 gibt eine Beschreibung zu jeder Symmetrieklasse. Die Bezeichnung er- folgt gemäß IUC (International Union of Crystallography).
p1 Nur Translationssymmetrie. Parallelogrammgitter
cm Abwechselnd parallele Spiegelachsen und Schubspiegelachsen.
Keine Rotationssymmetrie. Rhombengitter
pm Zwei Klassen zueinander paralleler Spiegelachsen.
Keine Rotationssymmetrie. Rechteckgitter
pg Zwei Klassen zueinander paralleler Schubspiegelachsen.
Keine Rotationssymmetrie. Rechteckgitter
p2 Vier Klassen von zweizähligen Drehzentren. Parallelogrammgitter
cmm
Zwei Klassen orthogonaler Spiegelachsen mit zweizähligen Drehzentren an den Schnittpunkten. Zwei Klassen orthogonaler Schubspiegelachsen mit zweizähli- gen Drehzentren an den Schnittpunkten. Rhombengitter
pmm Symmetrien des Rechteckgitters: Symmetrieachsen (Gitterlinien und Mittelli- nien). Zweizählige Drehzentren (Rechteckmitten, Kantenmitten, Ecken).
pmg Parallele Spiegelachsen. Orthogonal dazu zwei Klassen von Schubspiegelach- sen mit zweizähligen Drehzentren in den Schnittpunkten. Rechteckgitter pgg Keine Symmetrieachsen. Orthogonale Schubspiegelachsen. Dazwischen zwei-
zählige Drehzentren. Rechteckgitter
p4 Keine Spiegelachsen. Vierzähliger Drehzentren. Dazwischen zweizählige Dreh- zentren. Quadratgitter
p4m
Symmetrien des Quadratgitters: Symmetrieachsen (Kanten, Mittellinien, Diago- nalen). Schubspiegelachsen zwischen den Diagonalen. Vierzählige Drehzentren (Ecken und Quadratmitten). Zweizählige Drehzentren (Kantenmitten)
p4g
Zwei Klassen von vierzähligen Drehzentren. Dazwischen zweizählige Drehzen- tren. Zwei Klassen von orthogonalen Symmetrieachsen. Dazwischen zwei Klas- sen von orthogonalen Schubspiegelachsen. Quadratgitter
p3 Drei Klassen von dreizähligen Drehzentren. Hexagonalgitter
p3m1 Zwei Klassen von dreizähligen Drehzentren. Drei Klassen von Symmetrieach- sen, Schnittpunkte in den Drehzentren. Hexagonalgitter
p31m
Drei Klassen von dreizähligen Drehzentren. Drei Klassen von Symmetrieach- sen, Schnittpunkte in den Drehzentren einer Klasse. Dazwischen Schubspiege- lachsen. Drehzentren der beiden anderen Klassen nicht auf Symmetrieachsen.
Hexagonalgitter
p6 Sechszählige, dreizählige und zweizählige Drehzentren. Keine Symmetrieach- sen. Keine Schubspiegelachsen. Hexagonalgitter
p6m
Symmetrien des Hexagonalgitters: Sechszählige Drehzentren (Sechseckzen- tren), dreizählige Drehzentren (Ecken), zweizählige Drehzentren (Kantenmit- ten). Symmetrieachsen durch Sechseckzentren, schneiden sich unter 30°.
Schubspiegelachsen durch Kantenmitten
Tab. 1: Beschreibung der Symmetrieklassen
2.5 Unterricht
Für Bandornamente gibt es analoge kristallografische Einschränkung und nur sieben Symmetrieklassen.
Dies lässt sich im Unterricht bearbeiten. Der Autor hat das auf Sekundarstufe 1 und Sekundarstufe 2 sowie der Lehramtsausbildung für diese Stufen getan. Es gibt Schüle- rinnen und Schüler, die den Einstieg über das Sammeln und Ordnen wählen und andere, welche mit Kombinationen der in einem Bandornament möglichen Symmetrien arbei- ten.
3 Beweis des Theorems
Wir haben zu zeigen, dass die Mittelpunkte der Parallelogramme der Abbildung 1b ein Rechteck bilden. Die Parallelogramme, die alle dieselben Winkel haben, ergaben sich durch Ansetzen an die Seiten eines Sehnenviereckes gemäß Abbildung 1a.
Im Sehnenviereck ergänzen sich gegenüberliegende Winkel auf 180° (Abb. 3a).
Abb. 3: Ergänzungswinkel und gleiche Winkel
In den Parallelogrammen ergänzen sich spitze und stumpfe Winkel ebenfalls auf 180°.
Daraus ergibt sich, dass die beiden in der Abbildung 3b gelb eingezeichneten Winkel gleich groß sind.
Ein Vergleich der Schenkel dieser beiden Winkel zeigt aber, dass sie zwar betragsmäßig gleich groß sind, aber unterschiedlich orientiert (Abb. 4a).
a) b)
Abb. 4: Entgegengesetze Orientierung
Daher können wir in die Lücke des Außenwinkels ein zum ursprünglichen Sehnenvier- eck gegenglich orientiertes kongruentes Sehnenviereck einpassen (grün in Abb. 4b).
Entsprechend können wir auch an den übrigen Außenwinkeln grüne Sehnenvierecke eingepasst werden (Abb. 5a).
Nun können wir mit den grünen Sehnenvierecken verfahren wie ursprünglich mit dem gelben: wir setzen Parallelogramme an und passen in die Außenwinkel nun gelbe Seh- nenvierecke ein (Abb. 5b). So entsteht ein Flächenornament.
Abb. 5: Ergänzung zum Parkett
a) b)
a) b)
Die Abbildung 6 zeigt die Weiterführung des Flächenornamentes.
Abb. 6: Flächenornament
4 Symmetrien
Welche Symmetrien hat das Flächenornament der Abbildungen 5 und 6?
Wir erkennen sofort Symmetriezentren (Abb. 7a). Das sind die Mittelpunkte der Paral- lelogramme. Wir sehen, dass diese Symmetriezentren ein Rechteckraster bilden – aber das ist ja genau das, was wir für unser Theorem noch beweisen müssen.
Abb. 7: Symmetriezentren und eine Schubspiegelachse
Nach einigem Suchen entdecken wir als weitere Symmetrien Schubspiegelsymmetrien.
In der Abbildung 7b ist exemplarisch eine Schubspiegelachse eingezeichnet. Wir kön- nen etwa ein dunkelblaues Parallelogramm schieben und dann Spiegeln, so dass es mit einem hellblauen Parallelogramm zur Deckung kommt.
5 Exkurs: Schubspiegelung
Schubspiegelsymmetrie wird im Unterricht kaum behandelt, obwohl sie im Alltag die häufigste (!) Symmetrie ist. Daher lohnt sich ein eigener Abschnitt dazu.
5.1 Der aufrechte Gang
Die Fußspur eines Menschen in Sand oder im Schnee hat eine Schubspiegelsymmetrie (Abb. 8). Wir legen also täglich mehrere Kilometer Schubspiegelsymmetrie hin.
Abb. 8: Schubspiegelsymmetrie
Problem 1: Gibt es weitere Lebewesen, deren Fußspur Schubspiegelsymmetrie hat?
Problem 2: Hat die Fußspur eines hinkenden Menschen (Abb. 9) ebenfalls Schubspie- gelsymmetrie? Diese Frage hat bei meinen Studierenden jeweils anhaltende Diskussio- nen ausgelöst.
a) b)
Abb. 9: Schubspiegelsymmetrie?
5.2 Reifen
Auch der Abdruck eines Reifens hat Schubspiegelsymmetrie.
Problem 3: In welcher Richtung fuhr der Traktor (Abb. 10)?
Abb. 10: In welcher Richtung fuhr der Traktor?
5.3 Quadratraster und Schachbrettmuster
Die Abbildung 11a zeigt exemplarisch die drei Typen der Symmetrieachsen im Quad- ratraster (Mittellinien, Rasterlinien, Diagonalen).
Im zugehörigen Schachbrettmuster sind aber die Rasterlinien keine Symmetrieachsen mehr, sondern „nur“ Schubspiegelachsen.
Abb. 11: Symmetrieachsen und Schubspiegelachse
Es gibt aber auch im Quadratraster reine Schubspiegelachsen (Abb. 12a). Im Schach- brettmuster ist die entsprechende Linie weder Symmetrieachse noch Schubspiegelachse (Abb. 12b).
Abb. 12: Schubspiegelachse und gar nichts
Dieses unterschiedliche Verhalten in den Abbildungen 11 und 12 führt zur folgenden Frage.
Problem 4: Gehören Quadratraster und Schachbrettmuster zur gleichen Symmetrieklas- se?
5.4 Zusammensetzung von Schubspiegelungen
Die Abbildung 13a gibt die relevanten Daten (Achse und Schubvektor) von zwei Schubspiegelungen. In der Abbildung 13b ist die Zusammensetzung exemplarisch
a) b)
a) b)
durchgeführt. Das Urbilddreieck ist grün, das finale Bilddreieck rot. Die Abbildung von grün nach rot ist offensichtlich eine Drehung.
Problem 5: Wie finden wir aus den Daten der Abbildung 13a den Drehwinkel und das Drehzentrum dieser Drehung?
Abb. 13: Zusammensetzung zweier Schubspiegelungen
6 Beweis unseres Theorems
Die Abbildung 14a zeigt die Abbildung 7b mit weiteren Schubspiegelachsen. Mit Hilfe des Klassifizierungsschemas im Anhang finden wir dass dieses Flächenornament zur Symmetrieklasse pgg gehört.
Abb. 14: Symmetrieklasse pgg
a) b)
a) b)
Die Abbildung 14b zeigt das „schulmäßige“ Flächenornament zu dieser Symmetrieklas- se.
Für diese Symmetrieklasse gilt gemäß Tabelle 1:
pgg Keine Symmetrieachsen. Orthogonale Schubspiegelachsen. Dazwischen zweizäh- lige Drehzentren. Rechteckgitter
Damit ist unser Theorem bewiesen.
7 Bemerkungen zu den Problemen Problem 1: Offene Aufgabe.
Problem 2: Die Fußspur eines Hinkenden hat keine Schubspiegelsymmetrie.
Problem 3: Der Traktor fuhr nach links.
Problem 4: Quadratraster und Schachbrettmuster gehören zur gleichen Symmetrieklas- se. Um dies einzusehen, muss eine der beiden Figuren um 45° verdreht werden.
Problem 5: Kann mit Spiegelungsgeometrie bearbeitet werden [4].
Dank
Der Autor dankt E.V., M. für viele Ideen und Anregungen.
Anhang
Klassifizierungshilfe
Ornament Drehungen?
janein Nur Halbdrehungen?
janein Nur Translationen?
janein janein
janein Nur noch Translationen?
janeinNur Drittelsdrehungen?p1janein Spiegelachsen? janeinjanein Spiegelachsen?p2Nur noch Translationen?Viertels- drehungen?janeinGleitspiegelachsen, die keine Spiegelachsen sind?
pg Dreh- zentrum außerhalb Spiegelachse?
janeinpggp3 Dreh- zentrum außerhalb Spiegelachse?
janein
cmpm janein Spiegelachsen?
janein Spiegelachsen? p31mp3m1p6mp6 p4
pmm janein Orthogonale Spiegelachsen? Spiegelachsen durch 4er Zentrum?
janein
cmmpmg p4mp4g
Literatur
Niggli, Paul (1924): Die Flächensymmetrien homogener Kontinuen. Zeitschrift für Kristallographie und Mineralogie, Band 60, 283-298.
Pólya, George (1924): Über die Analogie der Kristallsymmetrie in der Ebene. Zeit- schrift für Kristallographie und Mineralogie, Band 60, 278-282.
Websites
[1] Wallpaper Patterns (13.03.2017)
http://mathstat.slu.edu/escher/index.php/Wallpaper_Patterns
[2] Morandi, Patrick J. (2007): Symmetry Groups: The Classification of Wallpaper Pat- terns (13.03.2017)
http://sierra.nmsu.edu/morandi/OldWebPages/Math526Spring2007/Math526text2007- 01-10.pdf
[3] Wikipedia: Ebene kristallographische Gruppe (13.03.2017) https://de.wikipedia.org/wiki/Ebene_kristallographische_Gruppe [4] Walser: Schubspiegelungen zusammensetzen (05.04.2017)
www.walser-h-m.ch/hans/Miniaturen/S/Schubspiegelungen_zusammensetzen/Schubspiegelungen_zusammensetzen.htm