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Staat – Souveränität – Nation

Beiträge zur aktuellen Staatsdiskussion

Herausgegeben von

R. Voigt, Netphen, Deutschland S. Salzborn, Göttingen, Deutschland

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Zu einem modernen Staat gehören Staatsgebiet, Staatsgewalt und Staatsvolk (Georg Jellinek). In Gestalt des Nationalstaates gibt sich das Staatsvolk auf einem bestimm- ten Territorium eine institutionelle Form, die sich über die Jahrhunderte bewährt hat. Seit seiner Etablierung im Gefolge der Französischen Revolution hat der Natio- nalstaat Diff erenzen in der Gesellschaft auszugleichen vermocht, die andere Herr- schaft sverbände gesprengt haben. Herzstück des Staates ist die Souveränität (Jean Bodin), ein nicht souveräner Herrschaft sverband ist kein echter Staat (Hermann Heller). Umgekehrt ist der Weg von der eingeschränkten Souveränität bis zum Scheitern eines Staates nicht weit. Nur der Staat ist jedoch Garant für Sicherheit, Freiheit und Wohlstand der Menschen. Keine internationale Organisation könnte diese Garantie in ähnlicher Weise übernehmen.

Bis vor wenigen Jahren schien das Ende des herkömmlichen souveränen Nati- onalstaates gekommen zu sein. An seine Stelle sollten supranationale Institutionen wie die Europäische Union und – auf längere Sicht – der kosmopolitische Welt- staat treten. Die Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger zu weiterer Integration schwindet jedoch, während gleichzeitig die Eurokratie immer mehr Macht anzu- häufen versucht. Die demokratische Legitimation politischer Entscheidungen ist zweifelhaft geworden. Das Vertrauen in die Politik nimmt ab.

Wichtige Orientierungspunkte (NATO, EU, USA) haben ihre Bedeutung für die Gestaltung der Politik verloren. In dieser Situation ist der souveräne Nationalstaat, jenes „Glanzstück occidentalen Rationalismus“ (Carl Schmitt), der letzte Anker, an dem sich die Nationen festhalten (können). Dabei spielt die Frage nur eine un- tergeordnete Rolle, ob die Nation „gemacht“ (Benedict Anderson) worden oder ursprünglich bereits vorhanden ist, denn es geht nicht um eine ethnisch defi nierte Nation, sondern um das, was Cicero das „Vaterland des Rechts“ genannt hat.

Die „Staatsabstinenz“ scheint sich auch in der Politikwissenschaft ihrem Ende zu nähern. Und wie soll der Staat der Zukunft gestaltet sein? Dieser Th ematik will sich die interdisziplinäre Reihe Staat – Souveränität – Nation widmen, die Mono- grafi en und Sammelbände von Forschern und Forscherinnen aus unterschiedli- chen Disziplinen einem interessierten Publikum vorstellen will. Das besondere Anliegen der Herausgeber der Reihe ist es, einer neuen Generation von politisch interessierten Studierenden den Staat in allen seinen Facetten vorzustellen.

Herausgegeben von Rüdiger Voigt Netphen, Deutschland

Samuel Salzborn

Inst. f. Politikwissenschaft

Georg-August-Universität Göttingen Göttingen, Deutschland

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Hans-Jürgen Bieling

Martin Große Hüttmann (Hrsg.)

Europäische Staatlichkeit

Zwischen Krise und Integration

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Herausgeber Hans-Jürgen Bieling

Eberhard Karls Universität Tübingen Tübingen, Deutschland

Martin Große Hüttmann

Eberhard Karls Universität Tübingen Tübingen, Deutschland

Staat – Souveränität – Nation

ISBN 978-3-658-03789-5 ISBN 978-3-658-03790-1 (eBook) DOI 10.1007/978-3-658-03790-1

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbi- bliografi e; detaillierte bibliografi sche Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa- tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind.

Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen.

Lektorat: Jan Treibel, Monika Mülhausen

Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier

Springer Fachmedien Wiesbaden ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media (www.springer.com)

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Inhalt

Inhalt

Vorwort . . . 7

Teil 1 Konzeptionen und Modelle des neuen Europas

Zur Einführung: Staatlichkeit der Europäischen Union in Zeiten

der Finanzkrise . . . 11 Hans-Jürgen Bieling und Martin Große Hüttmann

Konzeptionen europäischer Staatlichkeit im Widerstreit

von 1945 bis heute . . . 31 Guido Th iemeyer

Europäische „Staatlichkeit“ in föderaler Perspektive . . . 45 Rudolf Hrbek

Ein Imperium im Wandel? Wie die Eurokrise die Europäische

Union verändert . . . 71 Dieter Kerwer

Die Soziale Dimension der Europäischen Staatlichkeit.

Entwicklungsprozess und Perspektiven infolge der Eurokrise . . . 91 Hans-Wolfgang Platzer

Wächter des Nationalstaats oder Föderator wider Willen? Der Einfl uss

des Europäischen Rats auf die Entwicklung der Staatlichkeit in Europa . . . . 113 Wolfgang Wessels und Andreas Hofmann

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Teil 2 Verfassungspolitische und staatsrechtliche Perspektiven

Staatsleistungen der Eurozone . . . 135 Ulrich Hufeld

Wer ist der Hüter des europäischen Konstitutionalismus nach

der Finanzkrise? . . . 157 Michelle Everson, Christian Joerges und Henning Deters

Der neue Konstitutionalismus in der Europäischen Union und seine autoritäre Re-Konfiguration. WWU 2.0, New Economic

Governance und Pakt(e) für Wettbewerbsfähigkeit . . . 177 Lukas Oberndorfer

Teil 3 Staatstheoretische Reflexionen

Geld und Souveränität. Zur Transformation der Europäischen Union

und der Mitgliedstaaten durch die Finanz- und Fiskalkrise (2008-2013) . . . . 203 Sonja Puntscher Riekmann

‚Staatsprojekt Europa‘ in der Krise? . . . 223 Jens Wissel und Sebastian Wolff

Hat die europäische Krise ein Geschlecht? Feministische und

staatstheoretische Überlegungen . . . 241 Sabine Lang und Birgit Sauer

Legitimationsprobleme europäischer Staatlichkeit. Parlamentarismus

und Zivilgesellschaft als Strategien für eine politische Öffentlichkeit . . . 259 Gabriele Abels und Gabriele Wilde

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . 281 Inhalt

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Vorwort

Der EU-Vertrag scheut ausdrückliche Verweise auf eine „Staatswerdung“ oder

„Staatlichkeit“ der Europäischen Union wie der Teufel das Weihwasser. Die Formel, wonach der Vertrag eine „neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas“ (Art. 1 Abs. 2 EUV) darstelle, ist ein politischer Kom- promiss. Die Formulierung steht für die Dynamik und Off enheit des europäischen Integrationsprozesses, die auf der einen Seite – so die Lesart der Skeptiker einer weiteren Vertiefung – eine staatliche „Finalität“ oder einen europäischen „Su- per-Staat“ ausschließen soll. Die Integrationisten und Föderalisten sehen auf der anderen Seite in der vagen Formulierung von der „ever closer union“ jedoch ein Versprechen, dass der bislang erreichte Stand der europäischen Einigung nur eine Etappe auf dem Weg in Richtung einer Politischen Union sei, eine „Staatswerdung“

der EU – eine Einigung im Kreis der „Herren der Verträge“ vorausgesetzt – also prinzipiell möglich wäre.

Mit dieser Ambivalenz ist die Europapolitik in den vergangen Jahrzehnten ganz gut gefahren. Zu unterscheiden von der europapolitischen Debatte über die Vertiefung der Europäischen Union ist der wissenschaft liche Diskurs. Seit den Anfängen des Einigungsprozesses und verstärkt wieder im Zusammenhang mit dem Maastrichter Unionsvertrag wurde die Frage nach der „Staatswerdung Europas?“ (Wildenmann) breit und kontrovers diskutiert. Die „Post-Maastricht- Krise“ (Deppe/Felder) und das (vorläufi ge) Scheitern des Verfassungsvertrags im Frühsommer 2005 hatten jedoch schnell die Grenzen dieser Debatte aufgezeigt.

Mit der 2008 einsetzenden europäischen Finanz- und Eurokrise stellte sich – noch ehe der Vertrag von Lissabon in Kraft getreten war – sowohl der Wissenschaft wie auch der Politik und den Bürgerinnen und Bürgern die Frage nach der Zukunft der EU und der Überlebenschance der Währungsunion jedoch wieder von Neuem.

Dies war für uns und die Autorinnen und Autoren dieses Bandes der Anlass, die Frage nach Stand und Perspektiven einer „Europäischen Staatlichkeit“, die sich,

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8 Vorwort

so unsere These, im Zuge der Krise in den letzten Jahren herausgebildet hat, noch- mals ganz neu zu stellen. Wir sprechen bewusst von „Europäischer Staatlichkeit“, wenn wir die Folgen der Krise für die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten diskutieren, und nicht von „Staat“; damit wollen wir vorschnelle und falsche Ana- logieschlüsse zu nationalen Staatswerdungsprozessen vermeiden.

Da die Europawissenschaften ganz unterschiedliche Antworten auf die Frage, wie die Folgen der Finanz- und Eurokrise für das EU-Mehrebenensystem zu bewerten sind, gegeben haben, war es unser Ziel, Autorinnen und Autoren für diesen Band zu gewinnen, die von unterschiedlichen analytischen und normativen Prämissen ausgehen und jeweils andere Erklärungen für die komplexen Zusammenhänge von Krise, Integration und Staatlichkeit anbieten. Wir hoffen, dass ein pluraler und multidisziplinärer Zugang zum Thema die akademische wie öffentliche Debatte über die Chancen und Probleme einer sich im Zuge der Krise herausschälenden

„Europäischen Staatlichkeit“ bereichern kann, zumal unterschiedliche Perspektiven auf die immer wiederkehrende Frage nach der Zukunft der EU zwingend sind.

Bedanken möchten wir uns ganz herzlich bei Lena Bersch, die uns beim Redi- gieren und Formatieren der Beiträge unterstützt hat und bei Sebastian Schöneck, der bei der Recherche geholfen hat. Ebenso danken wir Madeleine Hankele und Maximilian Clar, die die Endfassung der Beiträge ebenfalls Korrektur gelesen haben.

Und schließlich wollen wir Rüdiger Voigt und Samuel Salzborn, den beiden Heraus- gebern der Reihe, in der dieser Band erscheinen kann, für die Einladung danken, sich mit der „Europäischen Staatlichkeit“ in Zeiten der Krise auseinanderzusetzen.

Tübingen, im März 2015

Hans-Jürgen Bieling und Martin Große Hüttmann

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Teil 1 Konzeptionen und Modelle

des neuen Europas

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Zur Einführung:

Staatlichkeit der Europäischen Union in Zeiten der Finanzkrise

Hans-Jürgen Bieling und Martin Große Hüttmann

Zur Einführung

1 Einleitung: kategoriale Annäherungen

„Europa hat den Staat erfunden“. Mit diesem Satz eröff net der Historiker Wolf- gang Reinhard (2002, S. 15) seine „Geschichte der Staatsgewalt“. Der moderne Staat in unserem heutigen Verständnis, hat sich – von Italien ausgehend – im 15. Jahrhundert nach und nach herausgebildet und wurde in Europa und Nord- amerika zum Modell politischer Ordnung. Er ist nach dieser Th ese das Produkt der historischen und somit kontingenten Verhältnisse, wie sie nur in Europa in dieser Zeit zu fi nden waren. In den vergangenen Jahrhunderten ist der „Staat“

dabei als Idee und politische Praxis aber auch immer wieder neu gedacht und den jeweiligen Herausforderungen angepasst worden. Nach John Micklethwait und Adrian Wooldridge (2014) gab es mehrere „Revolutionen“, die unterschiedliche Staatsdenker ausgelöst hatten: Zunächst hatte Th omas Hobbes im 17. Jahrhun- dert mit seinem Leviathan das Konzept des Nationalstaates vertragstheoretisch hergeleitet. Im 19. Jahrhundert folgten dann John Stuart Mill als Begründer des liberalen Staates, Beatrice Webb als Erfi nderin des Wohlfahrtsstaates und Milton Friedman als radikalliberaler Vordenker eines Rückzuges des Staates. Ob es zu Beginn des 21. Jahrhunderts gelingt, den „Staat“ mit einer weiteren Revolution nochmals neu zu erfi nden, ist für die britischen Autoren ungewiss. Wir gehen jedoch davon aus und wollen dies im Folgenden erläutern, dass die Europäische Union inzwischen selbst eine spezifi sche Form von „Staatlichkeit“ ausgebildet hat, die es genauer zu betrachten lohnt.

Tatsächlich werden im Zusammenhang mit der Europäischen Gemeinschaft die Begriff e „Staat“ und „Staatlichkeit“ eher selten und wenn, dann in unterschiedlicher Verwendung gebraucht. So schreiben manche Autoren der Europäischen Union bereits seit den 1990er Jahren Staatsqualität oder eine „Quasi-Staatlichkeit“ zu.

Hans-Jürgen Bieling, M. Große Hüttmann (Hrsg.), Europäische Staatlichkeit, Staat – Souveränität – Nation, DOI 10.1007/978-3-658-03790-1_1,

© Springer Fachmedien Wiesbaden 2016

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12 Hans-Jürgen Bieling und Martin Große Hüttmann

Begründet wird dies in der Regel damit, dass der EU mit dem 1993 in Kraft getrete- nen Vertrag von Maastricht (und den nachfolgenden EU-Verträgen) eine Reihe von Kompetenzen zugewachsen sind, die zu den staatlichen Kernaufgaben gehören: etwa die Einführung einer gemeinsamen Währung, die schrittweise Vergemeinschaftung und verstärkte Zusammenarbeit in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspo- litik, die Supranationalisierung und Europäisierung der Innen- und Justizpolitik sowie ansatzweise auch die Steuerpolitik und vieles andere mehr (vgl. From/Sitter 2006; Genschel/Jachtenfuchs 2014) – also alles „klassische“ Staatsaufgaben, die die Mitgliedstaaten in unterschiedlich dichten und „differenzierten“ Formen der Integration nun zusammen mit den supranationalen Organen (z. B. Kommission und Europäisches Parlament) und im intergouvernementalen Rahmen ausüben.

Angesichts dieser Entwicklungen ist es kein Zufall, dass der Maastrichter Ver- trag die Frage nach der „Staatlichkeit“ und der „Staatswerdung Europas?“ (Wil- denmann 1991; Schuppert 1994) befeuert hat. Das Fragezeichen im Titel des von Rudolf Wildenmann herausgegebenen Sammelbandes macht gleichzeitig deutlich, dass diese Themen auch mit einer gewissen Zögerlichkeit aufgegriffen wurden. Die Debatten wurden nicht nur in der Wissenschaft ausgetragen, sondern beschäftigten auch die Öffentlichkeit. In Deutschland führte dies zu Verfassungsklagen gegen den Vertrag von Maastricht. Das Bundesverfassungsgericht übernahm damit eine wichtige europapolitische Rolle und verschaffte sich mit einer Begriffsneuschöpfung im Maastricht-Urteil vom Oktober 1993 einen Ehrenplatz in der konzeptionellen Staats-Diskussion. Der von Karlsruhe eingebrachte Begriff des „Staatenverbundes“

(Bundesverfassungsgericht 1993) wurde von manchen wegen seiner technisch anmutenden Färbung – er erinnere an den Begriff „Stromverbund“, war einer der Kritikpunkte – zwar zum Teil heftig kritisiert, prägte als Referenzbegriff nachfol- gend jedoch die staatsrechtlichen Diskussionen.

Zugleich trat ein anderer Begriff aus den 1960er Jahren, der ebenfalls aus der Feder eines deutschen Juristen stammt, zunehmend in den Hintergrund. Damals hatte Walter Hallstein, der erste Präsidenten der Kommission, vom „unvollendeten Bundesstaat“ (Hallstein 1969)1 gesprochen. Er hatte damit nicht nur eine klare föderale Perspektive der europäischen Einigung beschrieben (zur historischen Entwicklung föderaler Leitbilder vgl. auch die Beiträge von Thiemeyer und Hrbek in diesem Band), sondern auch einen Ausweg aus dem Dilemma aufgezeigt, die Staatsqualität der Gemeinschaft und gleichzeitige Einzigartigkeit ihrer Strukturen zu bestimmen. Bei Hallstein (1969, S. 365) tauchte bereits ein Begriff zur Kategorisierung der Europäischen Gemeinschaft auf, welcher bis auf den heutigen Tag in zahlreichen

1 In späteren Auflagen wurde der Titel geändert und seine föderale Perspektive – zumin- dest auf dem Buchcover – gestrichen.

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Zur Einführung 13

Beiträgen zu finden ist und gemäß dem die EG ein politisches System oder einen politischen Ordnungsverband „sui generis“ darstellt. Dieser lateinische Begriff macht einerseits darauf aufmerksam, dass Vergleiche mit ‚normalen‘ politischen Systemen dazu neigen, zu hohe Ansprüche an die funktionale Leistungsfähigkeit und normative Legitimation des EU-Systems – Stichwort „Demokratiedefizit“

– zu stellen. Andererseits ist der „sui generis“-Begriff eine Verlegenheitslösung, weil damit nur deutlich wird, was die EU (noch) nicht ist, er bietet also nur eine Definition ex negativo.

Das Unbehagen, das entsteht, wenn über die Staatsqualität der Europäischen Gemeinschaft nachgedacht wird, ist alt. Die Vielzahl der Begriffe zur Erfassung und Beschreibung des (staatlichen) „Wesens“ der Europäischen Gemeinschaft, die in den vergangenen Jahrzehnten in die Diskussion eingebracht wurden, steht für die Versuche, staatliche „Präjudizierungen“ zu vermeiden. Auf diese methodolo- gischen Schwierigkeiten hatte Hans Peter Ipsen, der Nestor der deutschsprachigen Europarechtswissenschaft, bereits Anfang der 1970er Jahre hingewiesen (Ipsen 1972, S. 997). Die nachfolgende kleine Auswahl an Begriffen und Konzeptionen der vergangenen Jahrzehnte verdeutlicht, dass die Suche nach einem passenden analytischen Begriff für das, was in der Selbstbeschreibung als „Europäische Ge- meinschaft“ firmiert, immer wieder neu aufgenommen wurde.

So hatte Ipsen (1972, S. 196ff) die Europäischen Gemeinschaften in seinem europarechtlichen Standardwerk als „Zweckverbände funktioneller Integration“

beschrieben. Thomas Oppermann (1977, S. 696ff) prägte den Begriff der „parastaatli- chen Superstruktur“. Die Politikwissenschaftler Donald Puchala (1972, S. 277ff) und Rudolf Hrbek (1981) beschrieben die EG als „Konkordanzsystem“. Andere Autoren versuchten mit ihren Begriffen, die Ambivalenz – postmodern gesprochen: das

„Dazwischen“ – der institutionellen, supranationalen wie intergouvernementalen Strukturen oder deren innovativen Charakter sowie insbesondere die Verflechtung und Interdependenz der mitgliedstaatlichen und supranationalen Strukturen und Akteursnetzwerke zu betonen. In der wissenschaftlichen Literatur sind in den letzten Jahrzehnten unter anderem folgende Formulierungen bemüht worden: „A New Kind of Political Entity“ (Marquand 1981, S. 223), „Less than a Federation, More than a Regime“ (Wallace 1983), „partially-integrated policy-making system at the regional level“ (Webb 1983, S. 9), „Verflechtungssystem“ (Grabitz et al. 1988, S. 59ff), „Nationalitätenstaat“ (Lepsius 1991), „partial polity“ (Sbragia 1992, S. 13),

„institutionalized intergovernmentalism in a supranational organization“ (Cameron 1992, S. 66), „Verbundsystem“ (Hrbek 1993, S. 85), „a Lop-sided Political Regime“

(Wallace 1993, S. 302), „supranationale Union“ (Bogdandy 1993, S. 218) oder auch

„intergovernmental regime designed to manage economic interdependence through negotiated policy coordination“ (Moravcsik 1993, S. 474). Diese Aufzählung ist

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14 Hans-Jürgen Bieling und Martin Große Hüttmann

alles andere als vollständig. Sie gibt jedoch einen kleinen Eindruck von den per- manenten Bemühungen, das Spezifische der EU zu benennen, ohne auf klassische staatsrechtliche Kategorien zurückzugreifen.

Tatsächlich gab es in den 1990er Jahren nur wenige Versuche, den Staatscharak- ter der EU kategorial hervorzuheben und etwa vom „postmodern state“ (Ruggie 1993) oder „Konstruktionen von Staatlichkeit“ (Diez 1995) zu sprechen. Sehr viel prominenter blieben hingegen – in Anknüpfung an die sui generis-Konzeption – all jene Ansätze, die die EU als „Mehrebenensystem“ oder spezifische Form der

„Multi-level Governance“ betrachteten (vgl. Marks et al. 1996) und dabei eine wie auch immer geartete Konnotation von „Staat“ und „Staatlichkeit“ vermieden. Die hierbei entwickelte Perspektive thematisiert vor allem die Verflechtung der politi- schen Entscheidungs- und Implementationsebenen (EU, Nationalstaat, Regionen, Kommunen), die ihrerseits dazu führt, dass eine Differenzierung zwischen Innen- und Europapolitik mehr und mehr obsolet wird. In vielen Politikbereichen ist die eine politische Ebene nicht mehr ohne die andere handlungsfähig. Dies kommt auch, allerdings mit einer staatstheoretischen Akzentuierung, im Konzept des „fusionierten Föderalstaates“ von Wolfgang Wessels (1992, S. 40) zum Tragen, der beobachtet, dass „die Regierungen und Verwaltungen interdependenter westeuropäischer Wohlfahrts- und Dienstleistungsstaaten in wachsendem Maße innerhalb und durch die Europäische Gemeinschaft staatliche Handlungsinstrumente“ verschmelzen.

Diese etwas ausführlicheren Erläuterungen führen uns zu einigen Fragen, die wir in dieser Einleitung aufwerfen wollen. Sie lauten:

t Lassen sich die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) in den frühen 1950er Jahren und die nachfolgenden Integrationsschritte bis zum Vertrag von Lissabon (2009) und darüber hinaus als (macht-)politisches und intellektuelles Ringen um die Schaffung einer supranationalen, das heißt

„Europäischen Staatlichkeit“ verstehen?

t Wenn dies der Fall ist, hat sich dieses Ringen im Zuge der europäischen Finanz- krise seit 2010 verändert?

t Und schließlich: Welche staatstheoretischen Konzeptionen und welche analyti- schen Heuristiken helfen uns, diese Entwicklung in Richtung einer „Europäischen Staatlichkeit“ zu verstehen?

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Zur Einführung 15

2 Europäische Staatlichkeit?

Wir sprechen hier bewusst von „Staatlichkeit“ und nicht von „Staat“, weil der Begriff der Staatlichkeit in analytischer Hinsicht offener und anpassungsfähiger ist. In den Sozialwissenschaften wird diese Unterscheidung eher selten explizit vorgenommen:

Der Bremer Sonderforschungsbereich spricht zwar in seinem Titel von „Staatlichkeit im Wandel“, das Forschungsprogramm des SFB zielt jedoch nicht auf Staatlichkeit in einem offen verstandenen Sinne, sondern auf einen ganz bestimmten Typus von Staat, nämlich den „demokratischen Rechts- und Interventionsstaat (DRIS)“ (vgl.

Schuppert 2010, S. 128).

Ein „semantic shift“ von Staat zu Staatlichkeit, für den wir hier im Anschluss an Gunnar Folke Schuppert (ebd.) plädieren, ermöglicht es, dass „auch Gebilde erfasst werden können (…) die entweder im Rechtssinne keine Staaten sind oder nur teilweise oder defizitär das erfüllen, was wir normalerweise mit dem Staatsbe- griff verbinden und von einem modern-westlich verstandenen Staat als Typus an Leistungen erwarten.“ Der Vorteil ist, so Schuppert weiter, dass sich mithilfe des Staatlichkeitsbegriffs „die ganze bunte Welt der ‚varieties of statehood‘“ eröffnet und damit auch die „configurations of statehood“ (Zürcher 2005) erfasst werden können.

Gerade in der Debatte um den Staatscharakter der Europäischen Union bietet sich ein „weiter Begriffsmantel von Staatlichkeit“ (Schuppert 2010, S. 129) an, da die EU eine spezifische, historisch kontingente, institutionelle und dynamisch sich wandelnde Ausprägung eines möglichen politischen Ordnungsmodells in der Welt der „varieties of statehood“ darstellt, das eben nicht als defizitäre oder unterentwickelte Form eines „Staates“ am Maßstab von OECD-Staaten zu fassen ist. Die zentrale These, die wir hier zur Diskussion stellen wollen und die die oben gemachten Überlegungen aufgreifen will, lautet entsprechend: Die mit der Grün- dung der Europäischen Gemeinschaft angestoßene schrittweise Herausbildung einer „Europäischen Staatlichkeit“ geht zurück auf das Spannungsverhältnis, das sich – vor dem Hintergrund einer seit den 1980er Jahren forcierten politökono- mischen Integrationsdynamik – aus der wachsenden Supranationalisierung und Verflechtung ehemals nationalstaatlicher Kompetenzen auf der einen Seite und der begrenzten, direkten „europäischen“ Legitimation des neu entstandenen suprana- tionalen politischen Systems und seiner Organe, Instrumente und Kompetenzen auf der anderen Seite ergibt.

Die staatstheoretischen Diskussionen über die hier angedeutete Vergemeinschaf- tungsdynamik sind im deutschen Sprachraum noch immer sehr stark durch die von Georg Jellinek und Max Weber entwickelten Interpretationsfolien geprägt. Das mag überraschen, weil die beiden miteinander gut befreundeten Gelehrten in ihrem Denken tief verwurzelt sind in einer staatstheoretischen und staatssoziologischen

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16 Hans-Jürgen Bieling und Martin Große Hüttmann

Vorstellungs- und Erfahrungswelt der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert – einer Zeit, als die Erfahrung und das „Wunder“ der deutschen Reichsgründung von 1871 noch sehr präsent und prägend waren. Stutzig machen sollte die anhaltende Domi- nanz ihres Denkens darüber hinaus, weil Staat und Staatlichkeit gerade im Verlauf des 20. Jahrhunderts einen immensen Bedeutungswandel durchlaufen haben, der die Prämissen der Lehren von Weber und Jellinek zumindest als problematisch erscheinen lässt (vgl. Anter 2011).

Tatsächlich gibt es aber unterschiedliche Linien der Weber- und Jellinek-Re- zeption, die divergierende Perspektiven auf eine sich herausbildende europäische Staatlichkeit implizieren (vgl. Bieling 2010, S. 30ff). Die eine, in der wissenschaft- lichen und politischen Diskussion zumeist dominante Linie sieht in Weber (1966, S. 27ff) vor allem den Theoretiker eines homogenen, nach innen integrierten und nach außen abgeschlossenen „anstaltsmäßigen Herrschaftsverbands“, der durch spezifische hoheitliche Kompetenzen gekennzeichnet ist: z. B. durch das Monopol legitimer physischer Gewalt, die Festlegung kollektiv bindender Rechtsvorgaben, das Steuermonopol und eine einheitliche Geldpolitik oder die nach innen wie nach außen gerichtete Kontrolle staatsgefährdender Prozesse (vgl. Weber 2006, S. 994). Dieser machtpolitisch-realistischen Weber-Interpretation entspricht eine statisch-apodiktische Lesart der „Drei-Elemente-Lehre“ des Juristen Jellinek (1922).

Danach sei die Existenz eines Staates abhängig davon, ob die Trias von Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt vorhanden ist, und kann gewissermaßen „geprüft“

werden. Fehlt eine der genannten Voraussetzungen, würde man mit Jellinek davon ausgehen, dass wir es nicht mit einem Staat in einem engeren Sinne zu tun haben.

Die andere Linie der Weber-Rezeption – und im übertragenen Sinne gilt dies auch für die Jellinek-Interpretation – setzt sich von dieser Lesart deutlich ab und stellt die Homogenitäts-, Integritäts- und Autonomie-Annahmen des modernen, durch fixe Grenzen und einheitliche Regeln charakterisierten Staates infrage. Im Gegenzug fordert die post-weberianische Diskussion (vgl. Migdal und Schlichte 2005; Hobson und Seabrooke 2001) eine stärker soziologische Perspektive, die insbesondere die interaktive, zivilgesellschaftliche Einbettung des Staates ins Zentrum der Überlegungen stellt. Hierdurch werden in mehrfacher Hinsicht deutlich andere Akzente gesetzt: Erstens werden gegenüber einer weitreichenden, oftmals eindimensionalen Autonomie-These sehr viel stärker die Dimensionen und Aspekte eines heteronomen Staatshandelns beleuchtet. Zweitens tritt an die Stelle einer zentralisierten eine stärker dezentralisierte Staats-Konzeption, die – unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Diskurse, Praktiken und Kulturformen – auch die Mechanismen staatlicher Machtdiffusion mit in den Blick nimmt. Und drittens lenkt die interaktive Einbettung des Staates die Aufmerksamkeit auch auf

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Zur Einführung 17

die Prozesse der politisch-institutionellen Veränderung und Transformation, ver- langt mithin das statische durch ein dynamischeres Staatsverständnis zu ersetzen.

Für die Diskussion über eine entstehende Europäische Staatlichkeit sind die hier nur sehr knapp umrissenen Interpretationslinien folgenreich. Die erste Li- nie führt recht unmittelbar zu der Auffassung, dass – implizit oder explizit die Drei-Elemente-Lehre Jellineks aufgreifend – zwischen Demokratie, Verfassung und Volk ein zwingender Zusammenhang besteht. So sei eine „echte“ Demokratie und Verfassung ohne ein homogenes, in einem Nationalstaat organisiertes (Staats-)Volk mit gemeinsamer Sprache und gemeinsamen politischen Kommunikationskanälen (Medien, Öffentlichkeit, Parteien) nicht vorstellbar und in normativer Hinsicht auch nicht wünschenswert. Prominente Vertreter dieser „Schule“ sind das Bundesver- fassungsgericht in Deutschland, der Politikwissenschaftler Peter Graf Kielmansegg (2011) oder der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht Dieter Grimm (2012). Für sie ist das „Demokratiedefizit“ der Europäischen Union struktureller Natur und kann durch institutionelle Reformen wie etwa durch die Stärkung der Kontroll- und Mitwirkungsrechte des Europäischen Parlaments abgebaut, nicht jedoch aufgehoben werden, da eine echte demokratische Mitwirkung in deren Logik nur im nationalstaatlichen Rahmen vorstellbar ist.

Die Annahme eines derart engen Zusammenhangs zwischen Territorialstaat und Demokratie wird von all jenen Theoretikern, die sich der zweiten Interpretati- onslinie anschließen oder zumindest von einem heteronomisierten, dezentrierten und dynamisierten Staatsverständnis geprägt sind, nicht geteilt. So können sich Autoren wie Joseph Weiler (1999) und Jürgen Habermas (2014) durchaus eine

„europäische“ Demokratie vorstellen und machen diese nicht von der Existenz eines Staates und eines (homogenen) Staatsvolkes abhängig (zu den Perspektiven der Demokratisierung vgl. auch den Beitrag von Abels und Wilde in diesem Band).

In eine ähnliche, demokratiepolitisch allerdings weniger optimistische Richtung weisen Überlegungen, die europäische Staatlichkeit als Ausdruck eines heterogenen Ensembles von auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelten, teils komplementären, teils konkurrierenden Staatsapparaten konzeptualisieren (vgl. Bieling 2010; Buckel 2013, sowie die Beiträge von Wissel und Wolf sowie Oberndorfer in diesem Band), dessen Operationsweise seinerseits auf spezifische gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse verweist (vgl. hierzu auch den Beitrag von Lang und Sauer in diesem Band). Institutionell umfasst das europäische Staatsapparate-En- semble inzwischen einige sehr einflussreiche supranationale Organisationen wie die Europäische Kommission, das Europäische Parlament, den Europäischen Gerichtshof (EuGH), die Europäische Zentralbank (EZB) und eine Vielzahl spe- zifischer Regulierungsausschüsse. Diese wurden ihrerseits durch eine Abfolge konstitutioneller Prozesse etabliert und bilden die Kernelemente eines neuartigen

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18 Hans-Jürgen Bieling und Martin Große Hüttmann

supranational-technokratischen Regimes, d. h. eines „komplex institutionalisierten Gefüges autonomisierter Regierungstätigkeit“ (Hueglin 1997, S. 95).

Die Konstitutionalisierung der europäischen Staatlichkeit wird dabei nicht selten im Anschluss an die staatstheoretischen Überlegungen von Nicos Poulantzas (1978, S. 126) als materielle Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse begriffen.

Auch die europäische Staatlichkeit repräsentiert demzufolge ein „strategisches Feld“, einen „strategischen Prozess“, „in dem sich Machtknoten und Machtnetze kreuzen, die sich sowohl verbinden als auch Widersprüche und Abstufungen zeigen“ (ebd.).

Im Unterschied zum Modell des Nationalstaats ist die Europäische Staatlichkeit jedoch durch einige Besonderheiten gekennzeichnet: Erstens handelt es sich bei der Genese supranationaler Staatlichkeit um eine „Verdichtung zweiter Ordnung“

(Brand/Görg 2003, S. 222ff), die sich zum Teil über die nationalstaatlichen Apparate, zum Teil aber auch über transnationale Kommunikations- und Koordinationsare- nen vermittelt. Zweitens sind die supranationalen Staatsapparate sehr stark durch die von Stephen Gill (1998) beschriebene Logik eines „neuen Konstitutionalismus“

geprägt. Dieser wirkt vornehmlich darauf hin, privatkapitalistische Eigentums- rechte zu verankern und die wirtschaftliche Liberalisierung zu fördern, um diese zugleich der demokratischen Kontrolle zu entziehen und die Regierungen, die Tarifparteien und NGOs der Disziplinierung durch Markt- und Wettbewerbskräfte zu unterwerfen. Und drittens handelt es sich bei der Europäischen Staatlichkeit nicht um einen umfassenden Staat, sondern nur um eine fragmentierte, unvollstän- dige Rechtsstaatlichkeit, die sich primär auf die supranationale Verankerung von Rechtssicherheit konzentriert. Dabei verfügt sie selbst aber nur über bescheidene Verwaltungsstrukturen, begrenzte demokratische Partizipations- und Kontrollfor- men und geringe Finanzressourcen, um die gesellschaftliche Kohäsion zu fördern.

3 Transformation der Europäischen Union in historischer Perspektive

In der wissenschaftlichen Literatur zu Prozessen der Staatswerdung werden unter- schiedliche Impulse oder Logiken genannt, die zur Entwicklung und Gründung von Nationalstaaten geführt haben (vgl. Reinhard 2002). Eine Erklärung stellt einen Zusammenhang her zwischen Kriegen und der Gründung von Staaten: „How War Made States, and Vice Versa“ lautet die zentrale Erklärung bei Charles Tilly (1992).

Andere gehen davon aus, dass es vornehmlich Krisen und Revolutionen sind, die den Anstoß geben für die Staatswerdung, und wieder andere stellen vor allem konkrete Probleme und ihre Lösung in den Mittelpunkt ihrer Analysen; in diesem

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Zur Einführung 19

Falle sind sozialtechnologische Entwicklungen der funktionalen Differenzierung zu nennen. Eine kursorische und skizzenhafte Illustrierung dieser drei Erklärungen für die Entstehung von Staaten zeigt, dass sie auch auf die Entwicklung der EU übertragen werden können.

Es gehört zu den weit verbreiteten „Narrativen“ der Gemeinschaft, dass die Integration, die mit der Montanunion ihren Anfang genommen hat und damit den Nukleus für die heutige Europäische Union bildet, auf den sprichwörtlichen Trümmern des Ersten und vor allem des Zweiten Weltkrieges gebaut wurde – das Motto „Nie wieder Krieg!“ war im weitgehend zerstörten Europa ein wesentlicher Antrieb für die europäischen „Gründerväter“, diesen politisch mutigen Schritt, nur wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, zu gehen. Der Histo- riker Winfried Loth nennt insgesamt vier „Antriebskräfte“, die auf dem Haager Kongress im Mai 1948 die beteiligten Akteure zur Gründung des Europarates und damit zur Schaffung der ersten „europäischen“ Institution geführt haben: Erstens, das Bestreben, das „Problem der zwischenstaatlichen Anarchie“ und die damit verbundene Kriegsgefahr zu beseitigen, also Friedens- und Europapläne nicht nur zu entwerfen, sondern in praktische Politik zu übersetzen. Die zweite, machtpo- litische Antriebskraft, stellte für Loth die Antwort auf die „deutsche Frage“ dar, also die dauerhafte Einbindung Deutschlands in ein europäisches und atlantisches Werte- und Sicherheitssystem. Eine dritte Motivation war ökonomischer Natur und hängt mit den Bemühungen zusammen, die Enge der nationalen Märkte zu überwinden, um die Entfaltung rationaler Produktionsweisen zu ermöglichen.

Und schließlich nennt Loth als vierte Motivation für die europäische Integration das „Streben der Europäer nach Selbstbehauptung“ gegenüber den USA und der Sowjetunion (Loth 2014, S. 11).

Eine alternative bzw. komplementäre Erklärung für den stop-and-go-Prozess der europäischen Integration sind die immer wiederkehrenden Krisen, die oftmals als Katalysatoren für weitere Integrationsschritte gewirkt haben (vgl. Deppe 1993;

Kaelble 2013; Kirt 2001). Das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemein- schaft (EVG) im Jahr 1954 führte wenig später zu den Pariser Verträgen und zum Nato-Beitritt Westdeutschlands. De Gaulles „Politik des leeren Stuhls“ in den Jahren 1965-66 wurde durch den „Luxemburger Kompromiss“ überwunden, bevor auf dem Gipfel von den Haag weitere integrationspolitische Initiativen ergriffen wurden: u. a. eine gemeinsame Finanzverfassung, die Vollendung der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP), die Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ) oder die

„Norderweiterung“. In den 1970er Jahren hatte das Scheitern des „Werner-Plans“

und das Ende der Währungsschlange die Gründung des Europäischen Währungs- systems (EWS) zur Folge. Der Krisendiskurs über die sog. „Eurosklerose“ ging dem EG-Binnenmarktprojekt und der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA)

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voran. Die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) bildete die Antwort auf die zunehmende Instabilität des EWS und die schwierige europäische Einbindung des vereinigten Deutschlands; und die Finanzmarktintegration sollte dazu beitragen, die Probleme einer erlahmenden Investitionstätigkeit und unsicheren Altersver- sorgung zu überwinden.

Schließlich lassen sich noch einige – im Vergleich zu den großen Krisen –

„Mini-Krisen“ in der Geschichte der Integration identifizieren. Solche kleineren Krisen stellen relativ überschaubare Probleme dar und betreffen vornehmlich einzelne Politikbereiche wie die Agrarpolitik, die Finanzmarktpolitik oder auch die Außen- und Sicherheitspolitik, in denen ein „Versagen“ der Gemeinschaft konstatiert und dann der Versuch unternommen wird, solche Probleme zu lösen.

Einmal waren es „Butterberge“ und „Milchseen“, die beispielhaft stehen für die landwirtschaftliche Überproduktion in Europa; ein anderes Mal die – im Vergleich zur Finanzmarktdynamik – relativ langwierigen finanzmarktpolitischen Bera- tungs-, Verhandlungs- und Entscheidungsprozesse; und im Fall der Außen- und Sicherheitspolitik war es das Versagen der Europäer, den Krieg in Ex-Jugoslawien zu verhindern. Derartige Wahrnehmungen und Erfahrungen haben im Prozess der europäischen Integration immer wieder politische Lernprozesse ausgelöst, die im Sinne einer funktional-organisierten Differenzierung am Ende zu punktuellen – rechtlichen und institutionellen – Reformen und einer tendenziellen Erweiterung supranationaler Kompetenzen geführt haben.

4 Prozesse und Dimensionen einer

krisenkonstitutionalistischen Staatswerdung

Von den aufgeführten Erklärungen und Triebkräften kommt den kriseninduzierten Prozessen supranationaler Staatswerdung derzeit die größte Bedeutung zu. Dies ist nicht so zu verstehen, dass in den jüngeren europapolitischen Diskussionen geopo- litische Fragen und kriegsbedingte Neuordnungsprozesse – ein Blick in die Ukraine belehrt rasch eines besseren – und inkrementell funktionalistische Anpassungen überhaupt keine Rolle spielen. Sie stehen seit dem Ausbruch der transatlantischen Finanzkrise in den Jahren 2007/2008 jedoch deutlich im Schatten substanzieller politökonomischer Krisen- und Notstandsdynamiken und des hierauf bezogenen politischen Managements (vgl. hierzu auch den Beitrag von Punktscher-Riekmann in diesem Band). Dieses Krisenmanagement, das sich für die Mitgliedstaaten der EU und der Eurozone sehr unterschiedlich darstellt, lässt sich sehr grob in zwei

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Zur Einführung 21

Phasen unterteilen, in denen jeweils spezifische Prioritäten definiert und hierauf bezogene Sets an Instrumenten entwickelt und bemüht wurden.

Die erste Phase, in den Jahren 2008 und 2009, stand ganz im Zeichen der Finanz- krise und des hierdurch ausgelösten tiefen wirtschaftlichen Einbruchs. Um diesen abzuwehren und das Finanzsystem zu stabilisieren, waren die nationalen Regierungen bestrebt, das Kreditsystem durch eine staatliche Rekapitalisierung – Aktienkäufe, Kredite oder Bürgschaften und die Einrichtung spezifischer Fonds – zu stabilisie- ren und die Rezession durch zum Teil sehr umfangreiche Konjunkturprogramme abzufedern (Schelkle 2012). Der supranationalen Ebene kam in dieser ersten Phase einer staatsinterventionistischen Stabilisierungspolitik eine eher nachgeordnete Funktion zu. So beschränkte sich die Europäische Kommission im Wesentlichen darauf, eine gewisse Koordination der konjunkturpolitischen Aktivitäten zu unterstützen und erste Überlegungen – Richtlinien und Verordnungen – einer veränderten Finanzmarktregulierung zu entwickeln; und die EZB ging – mit einer gewissen Zeitverzögerung – zu einer deutlich gelockerten, liquiditätssichernden Geldpolitik über, um das Austrocknen des Interbankenmarktes zu kompensieren und die wirtschaftliche Erholung zu unterstützen. Eine Folge des insgesamt, für einige Staaten extrem kostenintensiven Krisenmanagements – vor allem dann, wenn sie die auf europäischer Ebene fehlende „Lender of last resort“-Funktion für das Bankensystem übernehmen mussten – bestand nun freilich darin, dass die Verschuldung der öffentlichen Haushalte nach oben schnellte und sich der Krisenfokus entsprechend verschob.

Seit dem Frühjahr 2010 war die zweite Phase des Krisenmanagements demzu- folge durch den Übergang zur sogenannten Staatsschulden- und Eurokrise geprägt.

Die Aufmerksamkeit richtete sich fortan weniger auf die inhärente Instabilität des europäischen Finanzmarktkapitalismus, als vielmehr auf die gestiegene Staatsver- schuldung. Das veränderte Krisennarrativ identifizierte letztere als Problem einer unsoliden Haushaltspolitik, zumeist in Kombination mit einer unzureichenden volkswirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit der betroffenen Defizit- und Krisen- länder (Jessop 2010; Matthijs und McNamara 2015). Im Umkehrschluss definier- ten die Überschuss- und Gläubigerstaaten in Kooperation mit der Europäischen Kommission, der EZB und den transnationalen Wirtschaftsverbänden – nicht ausschließlich, aber doch maßgeblich – die europapolitische Agenda; und zwar dahingehend, dass eine Vielzahl von Reformpaketen geschnürt wurden, denen im weiter oben beschriebenen Sinne eine krisenkonstitutionalistische Qualität zukommt. So sind im Zuge des europäischen Krisenmanagements viele zusätzliche gemeinsame Kompetenzen und Instrumente geschaffen worden, die sich in den unterschiedlichen Handlungsfeldern wie folgt darstellen:

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t Zunächst kam es im Anschluss an die Berichte und Empfehlungen einer von Van Rompuy (2012), dem damaligen Ratspräsidenten, geleiteten task force zu einer Proliferation neuer Instrumente und Verfahren im Kontext des „Euro- pean Economic Governance“ (Konecny 2012; vgl. dazu auch die Beiträge von Hufeld und Oberndorfer in diesem Band). Um das Risiko künftiger Finanz- und Staatsschuldenkrisen zu reduzieren, verständigten sich die politischen Entscheidungsträger auf mehrere Reformen. Seit 2010 zielen das „Europäische Semester“ und seit 2013 das sog. „Two-Pack“ auf eine europäische ex-ante-Koor- dination der nationalen Wirtschaftspolitiken, im Rahmen derer die Europäische Kommission und der Europäische Rat – unter Umgehung des Europäischen Parlaments – frühzeitig auf die nationalen Haushaltspläne Einfluss nehmen.

Ferner wurde ein „Six-Pack“ verabschiedet, das die Kriterien das Stabilitäts- und Wachstumspaktes (SWP), vor allem die Staatsverschuldung, restriktiver definiert und einer effektiveren Kontrolle und Sanktionierung unterwirft, bis hin zu umgekehrten qualifizierten Mehrheitsverfahren im Fall übermäßiger Defizite. Außerdem orientiert sich der seit Anfang 2013 wirksame Fiskalpakt am deutschen Modell einer Schuldenbremse, während der 2011 vereinbarte

„Euro-Plus-Pakt“ – weniger verbindlich – das Programm einer verbesserten Wettbewerbsfähigkeit durch Kostensenkung propagiert.

t In Ergänzung zur austeritätspolitisch orientierten Reform des europäischen Wirtschaftsregierens wurden angesichts der fortbestehenden Risiken und Instabilitäten der Eurozone auch einige Elemente einer europäischen Haf- tungsgemeinschaft etabliert (Bieling 2015). Konfrontiert mit den unmittelbaren Finanzierungsnotständen einiger Mitgliedstaaten hatten sich die Regierungen der Eurozone bereits im Frühjahr 2010 darauf verständigt, einen gemeinsamen Fonds einzurichten: die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF), die 2013 in den Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM) überführt wurde, wobei die Inanspruchnahme dieser Fonds durch die Auflagen der Troika – be- stehend aus EU-Kommission, IWF und EZB – zumeist sehr hart austeritätspo- litisch konditionalisiert ist. Außerdem wurde eine Bankenunion ausgehandelt, die mehrere Elemente umschließt: eine direkte, nicht über die Regierungen laufende ESM-Unterstützung einzelner Banken, eine gemeinsame bei der EZB angesiedelte Aufsicht transnationaler Banken, ein Verfahren zur Abwicklung insolventer Banken und ein gemeinsames Einlagensicherungssystem.

t Doch nicht nur die aufgeführten Elemente einer europäischen Haftungsge- meinschaft, auch die veränderte Funktionsweise der EZB (Krampf 2014) steht für eine partielle Vergemeinschaftung der zuvor nationalen „Lender of last resort“-Aufgaben. So beschränkt sich die EZB im Zuge der Krise nicht mehr allein darauf, die Preisstabilität zu sichern, sondern übernimmt vielfach auch

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Zur Einführung 23

eine gewisse Mitverantwortung für die wirtschaftliche Entwicklung und die Stabilität des Finanzsystems. Der Übergang zu einer Niedrigzinspolitik in Verbindung mit dem „Outright Monetary Transaction Programme“ (OMTP), d. h. dem angekündigten, später dann auch praktisch vollzogenen Ankauf staatlicher Schuldpapiere, die Einrichtung einer Bankenaufsicht und die Betei- ligung am Troika-Management des ESM verweisen auf ein deutlich erweitertes Aufgabenspektrum der EZB.

t Schließlich sind auch auf dem Gebiet der Finanzmarktregulierung eine ganze Reihe von Initiativen gestartet worden, um das europäische Sozialmodell zu stabilisieren (vgl. hierzu den Beitrag von Platzer in diesem Band) und den Risiken des anglo-amerikanischen Kapitalismusmodells entgegenzuwirken: unter ande- rem durch eine stärkere Kontrolle der Ratingagenturen, eine Einhegung des sog.

Schattenbanken-Systems – bestehend aus Hedge Fonds, Private Equity Fonds, Versicherungen etc. –, die Einführung einer Finanzmarkttransaktionssteuer, die Begrenzung des „Over the Counter“ (OTC)-Handels und ein umfassenderes, auf neue supranationale Aufsichtsbehörden gestütztes Überwachungs- und Kontrollsystem. Eine Zwischenbilanz der hierauf bezogenen Aktivitäten und Ergebnisse fällt bislang allerdings eher ernüchternd aus (vgl. Rixen 2013; Bieling 2014), sind die meisten Vorschläge durch das Lobbying der Börsen und der transnationalen Finanzverbände doch immer wieder verwässert und deren Umsetzung verzögert worden.

Die hier nur sehr knapp aufgelisteten Handlungsfelder deuten darauf hin, dass das europäische Krisenmanagement der letzten Jahre beträchtliche Auswirkungen auf das Gefüge der Europäischen Staatlichkeit gehabt hat. Es wurden neue gemeinschaft- liche Verfahren, Kompetenzen und Instrumente geschaffen, die ihrerseits auf die nationalstaatlichen, oftmals auch regionalen und lokalen politischen Handlungs- bedingungen – besonders deutlich in den sog. Troika-Ländern – zurückwirken (vgl. auch den Beitrag von Kerwer in diesem Band). Im Zusammenhang mit der krisenkonstitutionalistischen Staatswerdung entfalten sich mithin „tektonische Machtverschiebungen“ (Hofmann und Wessels 2013) innerhalb des Institutionen- gefüges der Europäischen Union, deren Dynamiken sich bislang nur sehr allgemein und andeutungsweise beschreiben lassen.

Der Europäische Rat und das mit dem Vertrag von Lissabon neu geschaffene Amt des Präsidenten des Europäischen Rates gehören zu den großen „Krisengewinnlern“

(vgl. Hofmann und Wessels 2013; Schwarzer 2015). Der Europäische Rat, also die Versammlung der Staats- und Regierungschefs, hatte die Euro-Krisenrettungspoli- tik spätestens mit dem EU-Gipfel im Mai 2010, als die europäischen Staatenlenker den ersten „Rettungsschirm“ aufgespannt haben, zur „Chefsache“ erklärt. Von da

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24 Hans-Jürgen Bieling und Martin Große Hüttmann

an hat er die Fäden nicht mehr aus der Hand gegeben. Der erste Amtsinhaber der Ratspräsidentschaft, Herman Van Rompuy, hatte still und leise, aber sehr effektiv, seinen Teil dazu beigetragen, dass der Europäische Rat zu einem neuen Zentrum der Macht in der EU wurde (Puetter 2014). Allgemein gingen wichtige inhaltliche Anstöße für die Euro-Krisenpolitik von den „Vier EU-Präsidenten“ – also den Präsidenten des Europäischen Rates, der Kommission, der EZB und der Euro- gruppe – aus, aber Van Rompuy (2012) und sein Team waren federführend bei der Entwicklung des Master- und Zeitplans, der in der Folge abgearbeitet wurde – bis hin zur Bankenunion. Die wesentlichen Anstöße kamen also nicht, wie etwa beim Projekt des Binnenmarktes mit dem Weißbuch von 1985, von Seiten der Kommission, sondern vom Ratspräsidenten und von einzelnen Regierungen, insbesondere der deutschen Bundesregierung. Die dem Europäischen Rat im Vertrag zugeschriebene Aufgabe, der EU „die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse“ zu geben und die „allgemeinen politischen Zielsetzungen und Prioritäten“ (Art. 15 Abs.1 EUV) festzulegen, sind in der Krisenpolitik dem Präsidenten zugewachsen.

Die Kommission erhielt neue Aufgaben bei der Überwachung des reformierten Stabilitäts- und Wachstumspaktes oder auch im Verfahren des „Europäischen Semesters“ (vgl. Cisotta 2013), sodass ihre Nebenrolle im unmittelbaren Krisen- management relativiert wird. Die Monitoring-Aufgaben verstärken nicht nur das Technokraten-Image der Kommission, sondern stärken mittelfristig auch ihre machtpolitische Position, weil offensichtlich ist, dass bei der Interpretation der Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspaktes ein politischer Spielraum vorhanden ist, den die 2014 ins Amt gekommene Juncker-Kommission nutzen will. Dies zeigte sich bereits darin, dass zum Jahresbeginn 2015 sowohl Italien als auch Frankreich erneut ein zeitlicher Spielraum für die angekündigten Strukturreformen und die Haushaltskonsolidierung eingeräumt wurde. Der neue Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat darüber hinaus mehrfach öffentlich darauf hingewiesen, dass seine Kommission „politischer“ agieren werde als ihre Vorgängerinnen. Au- ßerdem ist auch die Rolle der EU-Kommission im Rahmen der „Troika“ nicht zu unterschätzen.

Die wohl größte Machtverschiebung innerhalb des EU-Systems zeigt sich jedoch an der Rolle, die der Europäischen Zentralbank inzwischen zugewachsen ist (vgl.

Basham und Roland 2014; Krampf 2014). Durch Interventionen an den Finanz- märkten hatte die EZB bereits seit 2007 eine neue Aufgabe als „Krisenmanager“

gefunden. Sowohl Jean-Claude Trichet als auch Mario Draghi, der amtierende Prä- sident der EZB, haben nach allgemeiner Überzeugung durch ihre Politik (Ankauf von Staatsanleihen, OMT, Mitwirkung in der Troika) und ihre Ankündigungen, sprichwörtlich „alles zu tun, was nötig ist“ – so Draghi in der berühmt gewordenen Rede im Juli 2012 in London – einen großen Anteil daran, dass die Eurozone nicht

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Zur Einführung 25

auseinandergebrochen ist. Mit ihrer Politik und ihren Maßnahmen hat die EZB ihr im EU-Vertrag niedergelegtes Mandat, das die Gewährleistung der Geldwerts- tabilität (Art. 127 AEUV) zum Ziel hat, sehr weit ausgelegt. Dies hat insbesondere in Deutschland die Anhänger des Ordo-Liberalismus auf den Plan gerufen und das Bundesverfassungsgericht zum Schiedsrichter in dieser europarechtlichen Streifrage gemacht: Nun ist es nicht mehr allein der EuGH, der darüber – als ei- gentlicher Hüter des Gemeinschaftsrechts – zu entscheiden hat, ob die EZB-Politik durch den Wortlaut des EU-Vertrags gedeckt ist, sondern ein nationales, oberstes Verfassungsgericht (zur Rolle des Bundesverfassungsgerichts vgl. auch den Beitrag von Everson, Joerges und Deters in diesem Band).

Das Europäische Parlament (EP) ist nach allgemeiner Überzeugung in der Kri- senpolitik marginalisiert worden.2 Dies ist paradox, da das EP durch den Vertrag von Lissabon in seinen Mitwirkungs- und Kontrollrechten durch die Ausweitung des Ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens erneut gestärkt worden ist und im Zuge des „Spitzenkandidaten“-Europawahlkampfes 2014 ein neues Selbst- und Machtbewusstsein an den Tag gelegt hat (Christiansen 2015; Hobolt 2014). Der Parlamentspräsident Martin Schulz bemängelte regelmäßig die „Vergipfelung“ (NZZ 20.1.2012) der Europapolitik und beklagte, dass die Staats- und Regierungschefs immer wieder auf „außervertragliche“ Regelungen in der Eurorettung zurückgrif- fen und das Straßburger Parlament damit an den Rand drängten (Hofmann und Wessels 2013, S. 237; Große Hüttmann 2015). Die Euro-Krisenpolitik stützt sich in diesem Sinne auf einen „neuen Intergouvernementalismus“ (Puetter 2014). Die im Vergleich zur Vorkrisenzeit deutlich gestiegene Zahl der formellen und informellen Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs – in großer Runde oder auch nur in der Zusammensetzung der Euro-Staaten – sowie die in Hochphasen der Krise tägliche Abstimmung zwischen den Regierungszentralen und dem EU-Präsidenten in der Zeit dazwischen, stehen symbolhaft für diese Machtverschiebung im EU-System (vgl. Gammelin/Löw 2014). Letztlich überrascht es daher wenig, dass die Legitimität der Euro-Krisenpolitik hoch-problematisch ist und nicht als dauerhaft gesichert gelten kann (zur Legitimationsproblematik vgl. auch den Beitrag von Abels und Wilde in diesem Band).

2 Neben dem EP gehört auch die rotierende Ratspräsidentschaft zu den „Krisen-Verlie- rern“. Da auch die Eurogruppe als zweites Machtzentrum der Euro-Krisenpolitik einen permanenten Vorsitzenden hat, bleiben ihr nur das Brüsseler Alltagsgeschäft und die damit verbundenen Dienstleistungen.

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26 Hans-Jürgen Bieling und Martin Große Hüttmann

5 Ausblick

Pierre Bourdieu hat in seinen posthum veröffentlichten Vorlesungen zum Staat festgestellt, der Staat sei als Untersuchungsobjekt „beinahe undenkbar“ (Bourdieu 2014, S. 17). Dass der „Staat“ als analytisches Konzept eine Reihe von Problemen aufwirft, hat diese Einleitung zu zeigen versucht. Eines der Probleme wird mit dem „methodologischen Nationalismus“ (Beck und Grande 2010) auf den Begriff gebracht. Dieser beruht auf dem unreflektierten Festhalten an vertrauten Modellen und Vorstellungen von Demokratie, Macht und Staat, die im klassischen National- staat entwickelt worden sind, jedoch unseren Blick verengen, wenn Demokratie, Staatlichkeit und Politik jenseits des Nationalstaates gedacht und erfasst werden sollen. Dieses methodologische Problem spricht auch Bourdieu (2014, S. 17) an, wenn er schreibt: „Wenn es so einfach scheint, über diesen Gegenstand einfache Dinge zu sagen, so liegt das daran, daß wir von dem, was wir untersuchen sollen, in gewisser Weise schon durchdrungen sind“.

Der kursorische Überblick über historische Staatswerdungsprozesse und die dort zu beobachtenden Triebkräfte der „Staatswerdung“ haben gezeigt, dass manche Analogieschlüsse zur Europäischen Staatlichkeit möglich sind, etwa wenn man die Bedeutung von Kriegen und Krisen als Motor für die Entwicklung von Staaten und der Europäischen Gemeinschaft betrachtet (vgl. Kaelble 2013; Lepsius 2013;

Tilly 1992). Die europäische Staatsschulden- und Finanzkrise war und ist Anlass für uns gewesen, diese grundsätzlichen Fragen neu zu stellen und Antworten zu suchen, wann und warum sich bestimmte Formen von Staatlichkeit herausbilden bzw. konsolidieren. Insofern haben wir die eingangs erwähnte These von Wolf- gang Reinhard (2002, S. 15), die Europäer hätten den Staat „erfunden“, oder die These, dass der Westen sich in einem Ideenwettbewerb um eine „Neuerfindung“

des Staates befinde, zu plausibilisieren versucht. Denn gerade in Krisenzeiten verdichten sich, so unsere Ausgangsüberlegung, bestimmte Entwicklungen und treten dadurch klarer hervor (vgl. Voigt 2014). Dies gilt unserer Ansicht nach auch für die Entwicklung, die die Europäische Union im Zuge der Staatsschuldenkrise seit 2010 bis heute durchlaufen hat. Die Krise, so schreibt der Historiker Reinhart Koselleck (1973, S. 105), beschwört „die Frage an die geschichtliche Zukunft“ herauf.

Dass sich dieser Satz mühelos auf die EU und die in ihr vereinigten Staaten und Gesellschaften übertragen lässt, liegt unserer Ansicht nach auf der Hand, wie auch die nachfolgenden Beiträge verdeutlichen.

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Zur Einführung 27

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