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Archiv "Hauptstadt im Herbst" (24.10.1991)

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Foto: Wulf 01m, Ostberlin

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Hauptstadt im Herbst

W

as zieht die Men- schenmassen zu Rem- brandt? Sogar hollän- dische Busse sollen in Berlin (Ost) gesichtet worden sein.

Vorm Alten Museum, auf der spreeumflossenen Mu- seumsinsel: der ungewohnte, nicht mehr gewohnte Anblick sich unendlich langsam vor- wärts bewegender Menschen- schlangen, vor bunt-improvi- sierten Kassenhäuschen, vor und auf der grau-monumenta- len Freitreppe.

Schlangestehen vor der Kunst, vor „Rembrandt — Der Meister und seine Werkstatt".

Das war bei van Gogh in Am- sterdam nicht anders oder bei Picasso in Paris. Also keine fa- tale Erinnerung an die im Ost- teil der Hauptstadt noch gar nicht so lange verschwundenen tristen Menschenschlangen vor allzu knapper Konsumware?

Aber beim Westler ein Erinne- rungsblitz: die Desorganisation manch früherer Schalterabfer- tigung an Mauer und Zaun:

Die Menschen vor einem der heutigen Schalter müssen resi- gnieren — „Keine Karten mehr!

Die Sicherheit ist nicht mehr gewährleistet!" An zwei ande- ren Schaltern geht der Verkauf munter weiter.

Geduld, Warten, und dann endlich Rembrandt. Bei den Ausstellungsmachern mag der wissenschaftliche Aspekt dieser

Schau im Vordergrund gestan- den haben, die Präsentation eines „bereinigten" Rembrandt und die Zuschreibung vieler

„seiner" Werke an Schüler und zeitgenössische Kollegen.

Dieses Abschminken hat in Berlin ja schon vor Jahren beim „Mann mit dem Gold- helm" begonnen. Immerhin sind hier jetzt 46 gesicherte Ge- mälde Rembrandts zu sehen, dazu 28 Bilder seiner Schüler, schließlich vierzig Zeichnungen und Druckgrafiken (Radierun- gen).

Jenseits aller Wissenschaft- lichkeit: Das Farb- und Licht- fest für die Augen, im Alten Museum exzellent inszeniert, lohnt allen Betrachtern jedes Ungemach. *)

Am Ufer der Spree An einem frühherbstlich- sonnigen Samstag- (Sonn- abend-)nachmittag: die S-Bahn Richtung Osten voller Ausflüg- ler mit Fahrrädern. Endstation Erkner, dann mit einem Schiff der Weißen Flotte (Ost) auf der Spree vom Dämenitzsee (Kreis Fürstenwalde) zum Müggelsee (Stadt Berlin) — hier existiert das Arbeiter- und

Bauernparadies real. Für Ar- beiter und Bauern?

Links und rechts der schwa- chen Strömung: Edel-Datschen in manikürten Ufergärtchen, alte Villen in gepflegten Mini- parks (auch Marlene Dietrich, heißt's, hatte hier ein Haus, lang ist's her, viel hat sich gewendet, mehrfach). Hier scheint die Zeit still zu stehen, auch die heutige. Verhangene Kanäle führen weg vom Haupt- strom wie Nebenstraßen, Ber- lins „Klein-Venedig". Viele verhüllte Jachten an den Hausanlegestellen. Hollywood- Schaukeln, auch funkelnagel-

*) Übrigens: Der Zugang zu Rembrandt mag im späteren Herbst leichter sein. Die Bilder und Druckgrafiken sind bis 10. No- vember in Berlin zu sehen, die Zeichnungen — aus konservatori- schen Gründen — leider nur bis 27.

Oktober. Die Ausstellung der Bil- der und Radierungen im Rijksmu- seum zu Amsterdam schließt sich vom 4. Dezember bis zum 1. März 1992 an (Zeichnungen nur bis 19.

Januar). Die National Gallery in London zeigt Bilder und Radierun- gen dann vom 26. März bis zum 24.

Mai, das British Museum aus eige- nen reichen Beständen Zeichnun- gen bis zum 14. August 1992.

• Vor dem Alten Museum in Ost- berlin endlose Menschenschlan- gen im Herbst '91: die Präsentation eines ubereinigten" Rembrandt neue, in vielen Gärtchen. Ru- hende darin, meist passen nur zwei, wie von Botero gemalt.

Des Kolumbianers Fernando Botero unwirklich dicke Bilder- figuren sah man erst jüngst in der Galerie Brusberg am Kur- fürstendamm.

Nichts für ungut: Vielleicht gehen auch die Leute vom schönen Spreeufer noch zu Rembrandt, abends? Die Aus- stellung ist an manchen Tagen bis 22 Uhr geöffnet.

Ein malerisches Fest Um 22 Uhr fing die Vernis- sage bei Wolfgang Petrick erst richtig an. Der Professor an der (West-)Berliner Hochschule der Künste, eine aus der Viel- falt Berliner Maler herausra- gende Künstler-Persönlichkeit, eröffnete am Lützowplatz ein eigenartiges, sein eigenes Kul- turforum. „Die Szene" Berlins traf sich am Eröffnungsabend in sorgsam renovierten Räu- men eines riesigen Diploma- tenhauses aus der Gründer- zeit mit Kunstkennern und -sammlern aus allen Teilen der Republik. Keine öffentliche Angelegenheit, aber auch kei- ne „alternative". Berlins Kul- tursenator war schließlich da- bei, er ist ein liberaler Mann.

Aus Petricks Atelierforum wer- den künftig auch Impulse auf die Kulturpolitik ausgehen.

Jetzt war alles noch „an- ders": Ein renommierter Künstler hält 1991 in Berlin Hof, natürlich in anderem Stil als Max Liebermann zu Kaisers Zeiten. Avantgarde-Künstler, selbst international anerkann- te, zählen in Neu-Deutschlands subventioniertem Kulturbe- trieb ohnehin eher zur Sub- Kultur, erst recht ein Punk-Ma- ler wie Wolfgang Petrick. Der inszenierte sich und seinen Gä- sten ein malerisches Fest.

Seine farbaggressiven Ge- mälde und Zeichnungen, star- ke Bilder seiner Frau, Helma, seiner Schüler und Freunde ringsum, aktuelle Berliner Kunst. Inmitten brodeln Ge- spräche über kommende Aus- stellungen, über die Bebauung des Potsdamer und des Leipzi- A-3644 (76) Dt. Ärztebl. 88, Heft 43, 24. Oktober 1991

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ger Platzes, über die Zukunft Kreuzbergs wie des Prenzlauer Bergs und überhaupt des gan- zen neuen Berlin. Skeptisch, doch voller Gestaltungswillen.

Lena Braun, eine schillern- de Gestalt der Berliner (sei's drum: Sub-)Kulturszene, führt den Mann als gezähmtes Kro- kodil vor, eine provozierende Allegorie Schwarz in Schwarz, und ihr Ensemble, ihre über- schlanken Models, in durch- brochenen Häkelmaschen als kühl-verführerische Futuristin- nen. Perfekt intonieren junge Sängerinnen und Sänger fünf- stimmige Madrigale in Altfran- zösisch (und in phantasievollen Kostümen); zwei glitzerhäutige Akrobatinnen schwingen am Trapez. Diese hohen Alt-Berli- ner Räume!

Variantenreicher Bauch- tanz eines jungen Mannes, bis zur Erschöpfung, begeistert Männer und Frauen. Ein rau- schendes Künstlerfest, diese Ateliervernissage, indes mit ei- ner provinziellen Pointe: Ein SPD-Mann aus Köln, im be- nachbarten Parteihaus über- nachtend, erstattet Anzeige wegen Ruhestörung, in der Hauptstadt (West), die bisher keine Polizeistunde kannte.

Menschenlärm an warmen Abenden und Nächten auch vor und aus der riesigen chrom- und spiegelblinkenden Lützow-

platz-Bar im Parterre. Kalt- blaue Neon-Leuchtschrift, das Lokal ist „in". Ganz Berlin ist in! Nicht nur eine Vision: Spä- tere Generationen werden vom heutigen Berlin und seiner Sze- ne, von den Neunzigern als von wilden Jahren sprechen, nicht nur wegen der herrschenden Kunstrichtung. Auch von gol- denen?

Berlin ist in .

Golden, vergoldet, leuchtet heute nur die Kuppel des Neu- baus der Synagoge an der Ora- nienburger Straße über die Stadt. Innerhalb kurzer Zeit entsteht hier ein stolzes Judai- cum. Und gegenüber wird aus der Ruine eines alten Viel-Branchen-Kaufhauses ein

„Kunsthaus" gemacht, Kunst- haus Tacheles. Berlin lebt auf mit der Kunst.

Aber es kommt teurer. Ein erfolgreicher Kölner Maler wä- re gerne in die neue alte Hauptstadt umgezogen. Nahe der Synagoge, angeblich in Parklage, wurden ihm Atelier und Wohnung angeboten, zu aberwitzigem Mietpreis, eine Bruchbude ohne Heizung.

Vielleicht geht er doch besser nach Brüssel?

Überhaupt: die allgemeine Wohnkultur! S-Bahn-Fahrten

(kreuz und quer durch Berlin, Ost und West, für eine Familie zu ganzen zehn D-Mark pro Tag) verschaffen einen groben Überblick: Es wird gewiß Jahr- zehnte dauern, die Stadt insge- samt zu sanieren.

Ein Personenzug rollt vor- bei, zierliche Spitzenvorhänge an den Fenstern, Zielort:

Moskwa. Ein Güterzug, tat- sächlich Richtung Ost, mit fest- gezurrten Panzerwagen, Last- wagen, Mannschaftswagen, alle Fenster mit Karton verdeckt für die lange Reise. Und wieder ist der Blick frei auf lange Zei- len traurig-grauer Wohnge- häuse.

z. B. Prenzlauer Berg S-Bahn-Station am Prenz- lauer Berg. Ein kurzer Spazier- gang, nur um ein paar Blocks, für diejenigen westlichen Touristen sehr zu empfehlen, die so ver- zückt sind ob der Betonschön- heiten am gar nicht weit entfern- ten Alexanderplatz. Hier am Prenzlauer Berg dokumentiert sich kraß die Not der Vergan- genheit — und der Gegenwart.

Verfallende Fassaden und Dächer, in den Hausgängen noch Reste grüner Kacheln aus dem Jugendstil, geschnitzte Geländerreste in den Treppen- häusern. Unsagbar miese Hin-

terhöfe und Hinterhäuser, schon von Heinrich Zille kari- kiert, aber auch verklärt. Es ist, als hätte man schon seit dem Ersten Weltkrieg nichts mehr für diese Häuserblocks getan.

Plötzlich leuchtet Weiß, an der Fassade eines alten Hauses an der Hiddenseer Straße, knapp bemessen, nur die Par- terrehöhe deckend. Wie mögen die beiden Kollegen, Fachärzte für innere Medizin, hier zu- rechtkommen?

Und dann die Dunckerstra- ße, Hausbesetzer mit vertragli- chen Perspektiven, Kiez-Ver- sammlung zum Protest gegen mehrere Dachstuhlbrände und deren vermutete Urheber. Hier dokumentieren sich Gegenwart und Zukunft noch ohne allzu große Hoffnung.

Und dennoch: Ein fröhliches Kinderfest in der „Kulturbraue- rei" an der Dimitroffstraße. An- rührend schon die Vorbereitun- gen der Erwachsenen, zwischen stillgelegten Produktionsstätten mit bescheidenen Mitteln Farbe und Glanz — im wahren und im übertragenen Wortsinn — in den grauen Alltag auch der Kinder vom Prenzlauer Berg zu brin- gen. Selbstinitiative zu wahrer Kultur, abseits aller Repräsen- tation.

Vielleicht wird Berlin doch auch zur Kulturhauptstadt wer- den. R/r-h

Ein Künstlerfest in Berlin 1991 - anders als zu Liebermanns und Kaiser Wilhelms Zeiten.

Bei der Ateliervernissage am Lützowplatz: intensive Begegnung vor Wolfgang Petricks

„Sonnenbild" (1991, 2,95 x 1,30 Meter); Honka Tandoäan, türkisch-polnischer Bauch- tänzer, elektrisiert Männer wie Frauen. Qa c'est - Berlin, weltoffene Hauptstadt

Dt. Ärztebl. 88, Heft 43, 24. Oktober 1991 (79) A-3645

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1) Mike Hall © (Mike.Hall@mail.austria.com) schrieb am 12.03.2003 um 12:27:46: Wie steht ihr dazu, dass es eigentlich keine Zeichnungen und Bilder der drei ??? gibt? Früher

nisten, mit Beckmann im Zentrum, jetzt in London gezeigt wurden, hatten die Engländer geradezu ein Aha-Erlebnis, nicht anders als die Franzosen 1976/77 bei der Ausstellung