A 1086 Deutsches Ärzteblatt
|
Jg. 109|
Heft 21|
25. Mai 2012DDR-GESCHICHTE
Familientreffen der Aufarbeiter
Vor 20 Jahren beauftragte der Deutsche Bundestag eine Kommission mit der
„Aufarbeitung der SED-Diktatur“. Das Ergebnis, das nach sechs Jahren vorlag, kann sich heute noch sehen lassen. Falls man die 32 Berichtsbände irgendwo findet
D
en letzten Anstoß, 1992 die Enquetekommission des Deutschen Bundestages „zur Aufar- beitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“einzurichten, lieferten 1991 das Sta- si-Unterlagen-Gesetz oder auch, um das Thema zu personalisieren, der
„Fall“ des brandenburgischen Mi- nisterpräsidenten Manfred Stolpe (SPD) und dessen Verbindungen zur Staatssicherheit der DDR. Da- mals kursierten Forderungen, ein Tribunal einzurichten, das über die SED-Herrschaft und deren Akteure richten sollte, erinnert sich Markus Meckel (SPD), einer der Initiatoren der Enquete. Er hielt ein Tribunal für falsch, weil zu personenbezo- gen. Zunächst habe man sich die
nötigen Kenntnisse über die DDR verschaffen müssen, so Meckel am 8. Mai 2012.
Die Stiftung Aufarbeitung hatte die Enqueteure zu einem Jubilä- umstreffen nach Berlin eingeladen.
Eine Art Familienfeier. Bei Meckel mögen auch personelle Rücksicht- nahmen eine Rolle gespielt haben, den Enqueteauftrag zu versachli- chen. Die Enquetekommission habe jedenfalls den Auftrag gehabt,
„nicht Personen, sondern Strukturen
zu behandeln“, bestätigt Rita Süß- muth (CDU), seinerzeit Präsidentin des Deutschen Bundestages. Me- ckel, der 1990 vier Monate lang Au- ßenminister der DDR und bis 2009 SPD-Bundestagsabgeordneter war, sitzt heute dem Rat der Stiftung Aufarbeitung vor, während Rainer Eppelmann, 1990 Verteidigungsmi- nister der DDR und bis 2005 CDU- MdB und zeitweilig Vorsitzender der CDU-Sozialausschüsse, ehren- amtlich deren Vorstand leitet. „Wir wollten lernen für die Zukunft“, be- gründete Eppelmann die Mühen um die Aufarbeitung.
Auf jeden Fall lässt sich daraus lernen, wie das DDR-System funk- tionierte. In 32 Bänden, auf insge- samt 30 000 Seiten haben zwei En-
quetekommissionen – die erste von 1992 bis 1994, die zweite von 1994 bis 1998 – das Herrschaftssystem der SED untersucht und bei der Ge- legenheit auch eine unglaubliche Fülle von Fakten zusammengetra- gen – ein wahrer Steinbruch des Wissens, der sich heute noch sehen lassen kann, mag die wissenschaftli- che Forschung punktuell auch fort- geschritten sein. Der Vorzug der En- quete ist und bleibt die unmittelbare Anschauung, die aus den Aussagen
der DDR-erfahrenen Sachverständi- gen und der Zeitzeugen mit ihren frischen Erinnerungen spricht.
Obwohl das Gesundheitswesen in der DDR allgegenwärtig war und dessen Mängel zur Untergangstim- mung in der Endphase des SED- Staates erheblich beitrugen, wird es in den beiden Enqueten gerade- zu abseitig behandelt: Eine kurze Übersicht, aber fast 400 Seiten Doping, verstreute Informationen unter Politikbereichen wie Frauen, Familien, Jugend, Wissenschaft, ausführlich wiederum die Schilde- rung der gewaltsamen Erziehung
„schwieriger“ Jugendlicher. Dank der Analyse der Machtstrukturen, die im Mittelpunkt der Enqueten steht, lässt sich das Gesundheitswe-
sen besser verstehen. Vor allem die Rolle der Partei, die parallel zu den staatlichen und fachlichen Einrich- tungen ihre eigenen Strukturen un- terhielt, bis in die Kreise, Betriebe, Polikliniken und wissenschaftli- chen Institute hinein.
Dem Interessenten wird die Su- che nach den Berichten nicht leicht gemacht. Sie sind nur in großen oder spezialisierten Bibliotheken (wie der der Stiftung Aufarbeitung) einzusehen, obwohl sie doch für ei- ne breite Öffentlichkeit gedacht sind. Die CD, die die Recherche un- gemein erleichtern würde, ist ver- griffen. Wünschenswert wäre es, das gesamte Werk, einer Anregung von Bundestagspräsident Norbert Lam- mert folgend, ins Internet zu stellen.
Doch das ist „momentan nicht in Planung“, wie die Stiftung Aufarbei- tung auf Anfrage mitteilte. Immer- hin, die Schlussberichte (nicht aber die aufschlussreichen Materialien) sind als Bundestagsdrucksachen 12/7820 und 13/11000 auf der Web- site des Bundestages zu finden.
▄
Norbert Jachertz Auf 30 000
Seiten trugen zwei Enquetekommissi - onen eine unglaub- liche Fülle an Fak- ten über das DDR- System zusammen.
Foto: Stiftung Aufarbeitung