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Die Bedeutung von Altersbildern für ein gesundes und langes Leben
Prof. Dr. Susanne Wurm
Institut für Community Medicine, Abt. Präventionsforschung und Sozialmedizin CM-Ringvorlesung WiSe 2020/21
07.12.2020
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20.01.21
“...am besten kaum noch Kontakte zu den ganz Alten, weil sie eben besonders gefährdet sind.“
18.3.2020: Fernsehansprache von
Bundeskanzlerin Merkel zur Pandemie-Lage
Präventionsforschung und Sozialmedizin, Institut für Community Medicine
Fürsorge? Paternalismus?
Ausgrenzung?
Unnötige Beschränkung der Jüngeren und der Wirtschaftskraft Deutschland?
Gesellschaftliche Alter(n)sstereotype
Altersbilder = Grundlage solcher Aussagen
= Vorstellungen vom Älterwerden, Altsein und alten Menschen im Allgemeinen
Quellen: Wissen, Erfahrungen, Einstellungen
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Welche Stichworte / Adjektive fallen Ihnen spontan ein,
wenn Sie an alte Menschen denken?
Wie viel Prozent der älteren Bevölkerung (ab 65 Jahre) in Deutschland sind...
(a) unter 10 % (b) 10 – 20 % (c) 20 – 30 % (d) 30 – 40 % (e) über 40 %
einsam?
Pflegebedürftig (nach SGB XI)?
(a) 16 % (b)21 % (c) 26 % (d)31 % (e) 36 %
5
3,8 6,4 11,5
23,3
44,5
70,7
0 10 20 30 40 50 60 70 80
65 - 70 70 - 75 75 - 80 80 - 85 85 - 90 90 und mehr
PROZENT
ALTER (IN JAHREN) (Quelle: Statistisches Bundesamt: Pflegestatistik, 2018) 6
Anteil der Pflegebedürftigen nach SGB XI
Richtig ist: 16 %
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Wie viel Prozent der älteren Bevölkerung (ab 65 Jahre) in Deutschland sind einsam?
Einsam sind...
(a) unter 10 % (b) 10 – 20 % (c) 20 – 30 % (d) 30 – 40 % (e) über 40 %
Daten: Mikrozensus 2017 (Alleinlebende) und Deutscher Alterssurvey 2017 (Einsamkeit) 30,3
34,4
38,4
49,6
11 8,9 8,1 7,5
0 10 20 30 40 50 60
45-54 55-64 65-74 75-84
Alter
Alleinlebende Einsame Personen Prof. Dr. Susanne Wurm | 10.1.2020
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Einsamkeitsquoten 2008 bis 2017
Bevölkerungsrepräsentative Daten
Einsamkeitsrisiko im Alternsverlauf
Quelle: DEAS 1996-2017, n = 16.151 Studienteilnehmende mit insgesamt n = 25.992 Beobachtungen; modellbasierte Schätzungen kontrolliert für Region; der Geschlechtereffekt ist signifikant.
Die Wahrscheinlichkeit, im Alter von 90 Jahren einsam zu sein, beträgt für Frauen ca. 14 Prozent und für Männer ca. neun Prozent.
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Bevölkerung nach Altersgruppen und Geschlecht 2019
Quelle: IAQ/Sozialpolitik aktuell; Daten: Statistisches Bundesamt (2020) 11
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20.01.21
„Wir retten Menschen, die möglicherweise sowieso bald sterben“
Präventionsforschung und Sozialmedizin, Institut für Community Medicine
Wahrscheinlichkeit, innerhalb eines Jahres zu versterbennach Alter:
Im Alter von...
65 Jahren: 1,5%
70 Jahren 2,3%
75 Jahren 3,4%
80 Jahren 5,5%
85 Jahren 10,2%
90 Jahren 18,2%
„Ich sage es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einen halben Jahr sowieso tot wären - aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen“.
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Bei Geburt…
78,4 Jahre
83,2 Jahre
Sterbetafel 2015/2017, Statistisches Bundesamt (2019)
Lebenserwartung:
bei Geburt und fernere Lebenserwartung
Im Alter von 65 Jahren… 80 Jahren...
+ 17,8 Jahre (à82,7 Jahre) + 7,9 (à87,9 Jahre)
+ 21 Jahre (à85,9 Jahre) + 9,4 (à89,4 Jahre)
Altersbilder
Individuelle Altersbilder Altersselbstbild Gesellschaftliche
Alter(n)sstereotype: Altersfremdbild
Altersbilder sind Fremd- und Selbstbilder
Vorstellungen vom Älterwerden, Altsein und alten Menschen im Allgemeinen
Vorstellungen vom eigenen Älterwerden und Altsein
Quellen: (mangelndes, nicht mehr aktuelles) Wissen, Erfahrungen, Einstellungen
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à
Stereotype Embodiment Theory (Levy, 2009) Altersstereotype werden im Laufe des Lebens zu Selbst-Stereotypisierungen
Alters- stereotype
Zeit….
Alters- Selbstbild
“Internalisierung”
Levy, 2003
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Was fällt Ihnen als Erstes ein, wenn Sie
an Ihr eigenes Älterwerden oder Altsein denken?
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Vorstellungen von alten Menschen
Vorstellungen vom eigenen Älterwerden
Gesundheit und Langlebigkeit
Warum sind unsere Vorstellungen
vom Älterwerden und Altsein wichtig?
Negative Altersstereotype im jungen Erwachsenenalter erhöhen das Risiko für Herzkreislauf-Ereignisse
Levy, B. R., Zonderman, A. B., Slade, M. D., & Ferrucci, L. (2009). Age stereotypes held earlier in life predict cardiovascular events in later life. Psychological Science, 20(3), 296-298.
25%
13%
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Vorstellungen vom eigenen Älterwerden und Langlebigkeit
Levy, B. R., Slade, M. D., Kasl, S. V., & Kunkel, S. R. (2002). Longevity increased by positive self-perceptions of aging. Journal of Personality and Social Psychology, 83(2), 261-270.
7.6 Jahre Unterschied in der Lebenszeit Positivere Vorstellungen vom Älterwerden
Negativere Vorstellungen vom Älterwerden
20 20
Prof. Dr. Susanne Wurm | 10.1.2020 | 1. INTRO | 2. LONGITUDINAL | 3. INTERVENTION | 4. OUTLOOK
Vorstellungen vom eigenen Älterwerden
und Sterblichkeit bei Menschen mit Krebserkrankung
Positivere Vorstellungen vom Älterwerden
Negativere Vorstellungen vom Älterwerden
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Prof. Dr. Susanne Wurm | 10.1.2020 | 1. INTRO | 2. LONGITUDINAL | 3. INTERVENTION | 4. OUTLOOK
Schroyen, S., Letenneur, L., Missotten, P., Jerusalem, G., & Adam, S. (2020). Impact of self- perception of aging on mortality of older patients in oncology. Cancer Med, 9(7), 2283-2289.
doi:10.1002/cam4.2819
3,6 – fach höhere Wahrscheinlichkeit, zu versterben
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Betrachtung der Wirkrichtung: „Was wirkt auf was stärker“?
(a) Positive Sicht auf das Älterwerden
Beeinflussen Vorstellungen vom Älterwerden
wirklich die Gesundheit – oder ist es vielmehr umgekehrt?
Wurm, S., Tesch-Römer, C., & Tomasik, M. J. (2007).Journals of Gerontology: Psychological Sciences Sargent-Cox, K. A., Anstey, K. J., & Luszcz, M. A. (2012). Psychology and Aging.
Erkrankungen Erkrankungen
gewinnorien^erte Vorstellungen vom Älterwerden
Zeit...
Zeit... gewinnorien^erte Vorstellungen vom Älterwerden
Ziele, Pläne haben Neues lernen Ideen umsetzen, Fähigkeiten erweitern
Wurm, S., Tesch-Römer, C., & Tomasik, M. J. (2007).Journals of Gerontology: Psychological Sciences Sargent-Cox, K. A., Anstey, K. J., & Luszcz, M. A. (2012). Psychology and Aging.
Gesundheit Gesundheit
Verlustorien^erte Vorstellungen vom Älterwerden
Zeit...
Zeit... Verlustorien^erte Vorstellungen vom Älterwerden
Weniger vital fit, Gesundheit schlechter, Einbußen schlechter ausgleichbar, weniger belastbar Betrachtung der Wirkrichtung: „Was wirkt auf was stärker“?
(b) Negative Sicht auf das Älterwerden
Beeinflussen Vorstellungen vom Älterwerden
wirklich die Gesundheit – oder ist es vielmehr umgekehrt?
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Studien zeigen einheitlich: Altersbilder haben einen Effekt auf
• Langlebigkeit
• Krankheiten
• Funk^onale Einschränkungen
• Subjek^ve Gesundheitseinschätzungen
• Depressivität
• Kogni^ve Fähigkeiten
• Stürze
• Krankenhauseinweisungen
• ...
...aus vielen verschiedenen Längsschnittstudien ...aus vielen verschiedenen Länder und Altersgruppen ...von unterschiedlich langen Untersuchungszeiträumen
Inzwischen gibt es viele Befunde...
Meta-Analyse 2014: 19 Längsschnij-Studien
Westerhof, G., Miche, M.,. . . Wurm, S. (2014). The influence of subjective aging on health and longevity: A meta-analysis of longitudinal data. Psychology and Aging, 29(4), 793-802. http://dx.doi.org/10.1037/a0038016
Systematische Übersicht über 45 Studien
(Westerhof & Wurm, 2018)
Derzeit: Vorbereitung einer neuen Meta-Analyse mit inzwischen > 100 Studien
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Vorstellungen von alten Menschen
Vorstellungen vom eigenen Älterwerden
Gesundheit und Langlebigkeit Wie?
(Mechanismen)
WIE tragen Altersbilder zu unserer
Gesundheit bei?
Wirkmechanismen: 3 Prozesse
Psychologische Prozesse Physiologische Prozesse
Gesundheitsverhalten
Vorstellungen
vom Älterwerden Gesundheit
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Wirkmechanismen: 3 Prozesse
Psychologische Prozesse Physiologische Prozesse
Gesundheitsverhalten Vorstellungen
vom Älterwerden Gesundheit
Wirkmechanismen: Physiologische Prozesse
Negative Vorstellungen vom Älterwerden tragen zu erhöhtem Cortisol-Level bei
Anstieg des Cortisol-Levels um 44%
Kein Anstieg des Cortisol-Levels
Levy, Moffat, S., Resnick, Slade, & Ferrucci, L. (2016)
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Physiologische Prozesse
Wirkmechanismen: 3 Prozesse
Psychologische Prozesse Gesundheitsverhalten Vorstellungen
vom Älterwerden Gesundheit
Wirkmechanismen: Gesundheitsverhalten
Gewinnorientiertes Altersbild und körperliche Aktivität im Alter (ab 65 Jahre)
Wurm, S., Tomasik, M. J., & Tesch-Römer, C. (2010). On the importance of a positive view on aging for physical exercise among middle-aged and older adults: Cross-sectional and longitudinal findings. Psychology and Health, 25, 25-42.
Häufigkeit des Spaziergehens
seltener häufiger
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Physiologische Prozesse
Wirkmechanismen: 3 Prozesse
Psychologische Prozesse Gesundheitsverhalten Vorstellungen
vom Älterwerden Gesundheit
Inwieweit verändern ältere Menschen innerhalb
von 6 Monaten nach einem schweren Krankheitsereignis ihren Lebenss^l?
Annahmen
Personen MIT Krankheitsereignis
wenig Bemühungen, gesunden Lebensstil
zu führen mit
verlustorien^erter Sicht auf das Älterwerden
Personen OHNE Krankheitsereignis
Posi^vere Sicht auf Älterwerden
Vermehrt Bemühungen, gesunden Lebensstil
zu führen
Sicht auf Älterwerden = ohne Relevanz
ohne Veränderung der Bemühung, gesunden Lebenss^l
zu führen
34
Wurm, S., Warner, L. M., Ziegelmann, J. P., Wolff, J. K., & Schüz, B. (2013). How do negative self-perceptions of aging become a self-fulfilling prophecy? Psychology and Aging, 28(4), 1088-1097.
34
0 0,2 0,4 0,6 0,8 1 1,2 1,4 1,6 1,8
No Yes
"Aging is not necessarily associated with physical loss"
"Aging is strongly associated with physical loss"
Krankheit/Unfall
Ans^eg in Bemühung um gesunden Lebenss^l
Veränderung der Bemühung um einen
gesunden Lebensstil innerhalb von 6 Monaten:
Ergebnisse
Negativere Sicht auf das Älterwerden
Posi^vere Sicht auf das Älterwerden
n.s.
sig.
Wurm, et al. (2013)
Ältere Menschen (80 + Jahre) die ihre gesundheitlichen Probleme auf ihr Alter zurückführen, haben eine mehr als doppelt so hohe Wahrscheinlichkeit innerhalb eines Zweijahres- Zeitraumszu versterben- unabhängig von ihrem Gesundheitszustand.
Stewart, Chipperfield, Perry, & Weiner, 2012 36
Führen Menschen ihre gesundheitlichen Probleme auf ihr Alter zurück hat das Folgen für ihre
Langlebigkeit/Sterblichkeit
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Vorstellungen von alten Menschen
Vorstellungen vom eigenen Älterwerden
Gesundheit und Langlebigkeit Wie?
(Mechanismen)
Praktische Implikationen
Hinterfragen Sie Ihre Vorstellungen vom eigenen Älterwerden kritisch:
• Was verbinden Sie selbst mit dem Älterwerden?
Wo sehen Sie Potenziale, wo vor allem Verluste?
• Was denken Sie: ab welchem Alter werden Sie alt sein?
• Glauben Sie, Sie werden ähnlich aktiv (oder inaktiv), gesund (oder krank) sein wie Ihre Großmutter/Ihr Großvater?
Was können Sie tun?
Selbstreflektion
Vorstellungen vom eigenen Älterwerden
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Achten Sie im (beruflichen) Alltag auf Altersstereotype, also a. Ihre eigenen
b. jene Ihrer Kolleg*innen Sprache:
„In Ihrem Alter lohnt sich das nicht mehr...“.
“Für Ihr Alter sind Sie ja noch recht fit...“
Denken:
„Oh je, jetzt habe ich gleich einen alten Patienten...“
Verhalten:
„Bei dem Alter sollten wir diese Therapie nicht mehr machen...“.
à Machen Sie sich solche automatischen Reaktionen bewusst
à Hinterfragen Sie diese Reaktionen darauf, ob sie wirklich begründet sind
Was können Sie tun?
Stereotypenbeobachtung
Vorstellungen von alten Menschen
Achten Sie im (beruflichen) Alltag auf Selbst- Stereotype von älteren Menschen
Viele ältere Patienten denken selbst, dass vieles im Alter „normal“ und deshalb unveränderbar ist
àÄrzte und Patienten können
sich darin also einig sein, ohne dass dies gut ist.
Ist es normal, Schmerzen zu haben oder unter Schlaflosigkeit zu leiden?
àDiese und ähnliche Symptome können z.B. auch Ausdruck einer (behandelbaren) Depression sein
Was können Sie tun?
Beobachtung der Selbststereotype älterer Patient*innen
Vorstellungen vom eigenen Älterwerden
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Warum ist das wichtig?
Altersstruktur von Krankenhauspatient*innen
Quelle: Schelhase, T. (2019). Statistische Krankenhausdaten. In: J. Klauber et al. (Hrsg.), 42 Krankenhaus-Report, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58225-1_18
Bei älteren Menschen erhöhtes Risiko von:
• Unterversorgung: Nicht-Behandlung behandelbarer / behandlungsbedürftiger Erkrankungen oder Beschwerden (Schmerzen)
• Überversorgung: Behandlung bei älteren Menschen z.B. mit Vielzahl von Medikamenten, ohne ausreichende Berücksichtigung von Neben- und Wechselwirkungen
Fazit (take home message)
„70 ist nicht gleich 70“
• Das Alter ist oft wenig aussagekräftig bei alten Menschen – es gibt große Unterschiede zwischen Menschen gleichen Alters
• frailtysagt z.B. Komplikationen bei Krankenhausbehandlungen besser vorher als das chronologische Alter
(Joseph et al. 2014; JAMA surgery)
Zentrales Ziel im Alter: Erhalt von Lebensqualität und Selbständigkeit 43