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Bürger und Organisationen - Ost- und Westdeutschland:vereint und doch verschieden?

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FS IB 92-204

Bürger und Organisationen - Ost- und Westdeutschland:

vereint und doch verschieden?

Bernhard Weßels

Berlin, Juni L992

Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung gGmhH (WZB)' Reichpietschufer 50, D-1000 Berlin 30,

Telefon (030)25 49 1-0

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Bürger und Organisationen - Ost- und

Westdeutschland: vereint und doch verschieden?

Discussion Paper FS IH 92-204 Wissenschaftszentrum Berlin

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zelne Verbände ausgerichtet, untersuchen5. Zum anderen werden Aufbau und Reorganisa­

tion der Interessenvermittlung auf der Systemebene untersucht. Hier geht es um die Frage der Entwicklung und zukünftigen Gestalt des Systems der Interessenvermittlung und seiner Verknüpfung mit dem politischen System6 *.

Schaubild 1: Analyseebenen der Verbändeforschung

Bürger

(Interessen, Bindungen)

Aggregation/

Artikulation,

Organisationen---Koalitionen (Organisations-

Probleme, Mitglied­

schafts- vs. Einfluß­

logik)

Konfliktkon­

stellationen, Cleavages

System der --- Interessen­

vermittlung

(Konzertierung, Kartel­

lierung, Wettbewerb)

Großschrift: Analyseobjekte; Kleinschrift: Analysegegenstände.

Die Unterscheidung von Allianzen und Koalitionen geht auf Stinchcombe zurück und unterscheidet feste Verbindungen zwischen Individuen und Organisationen oder Organisationseliten (Allianz) und feste Verbin­

dungen zwischen Organisationseliten oder Organisationen (Koalition). Die Unterscheidung Mitgliedschafts­

und Einflußlogik wurde von Streeck übernommen und unterscheidet die Anforderungen an Organisationen, die sich aus den Imperativen der Sozialintegration (Integration unterschiedlicher Interessen von Mitgliedern oder potentiellen Mitgliedern) und aus den Imperativen der Systemintegration (Fähigkeit zum Tausch im in­

termediären System) ergeben.

S. Stinchcombe, Arthur L., Social Structure and Politics, in: Fred I. Greenstein/Nelon W. Polsby (Hrsg.), Macropolitical Theory, Handbook of Political Science Vol. 3, Reading, Mass.: Addison-Wesley 1975, S.

557-622; Streeck, Wolfgang: Vielfalt und Interdependenz, in: KZfSS, H.3, Jg. 39 (1987), S. 452-470.

5 S. zum Beispiel: Seideneck, Peter, Die soziale Einheit gestalten - Über die Schwierigkeiten des Aufbaus gesamtdeutscher Gewerkschaften, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B13/91, Beilage zur Wochenzei­

tung Das Parlament, S. 3-11; Bauer, Jürgen, Aktivitäten des BDI in den neuen Bundesländern, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B13/91, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, S. 12-19. Der von Frank Löbler, Josef Schmid und Heinrich Tiemann herausgegebene Band (Wiedervereinigung als Organisati- onsproblem: Gesamtdeutsche Zusammenschlüsse von Parteien und Verbänden, Bochum: Brockmayer 1991) thematisiert auch die zweite Problemebene.

6 Vgl. zum Beispiel Kleinfeld, Vom demokratischen Zentralismus zum liberalen Korporatismus? (Anm.

1); Löbler/Schmid/Tiemann, Wiedervereinigung als Organisationsproblem (Anm. 5).

(5)

Es lassen sich aber auch eine Reihe von Gründen anführen, die dafür sprechen, daß die Unterschiede zwischen den Bürgern der neuen und der alten Bundesländer nicht so gravie­

rend sind:

1. Tradierung: Die Deutschen haben eine gemeinsame Geschichte und eine gemeinsame politische Tradition, die sich auch und gerade auf die Beziehungen zwischen Bürgern und Organisationen richtet. Sie greifen auf gleiche Kulturbestände zurück und spre­

chen die gleiche Sprache.

2. Westeinfluß: Die Bürger der ehemaligen DDR waren immer mit Westdeutschland konfrontiert. Zum einen durch persönliche Kontakte spätestens seit der Liberalisie­

rung der Besuchsrechte, zum zweiten wurden sie über die Westmedien, insbesondere das Fernsehen permanent mit Informationen über die Bundesrepublik versorgt10 11. Der offizielle Feindbildcharakter und der informelle Charakter des Wunschbildes Bundes­

republik haben die Aufmerksamkeit gegenüber westdeutschen Verhältnissen eher er­

höht als geschmälert.

3. Westorientierung: Empirische Ergebnisse zeigen, daß die ehemaligen Bürger der DDR bereits vor der Wende relativ stark ausgeprägte Bindungen an westdeutsche Parteien entwickelt hatten. So gaben 78 Prozent der Bürger Jenas an, daß bundesdeut-

ö v u v l a i t v i v u S v i t u t l v u t u v t i v v u u v t u t u i v v i g v i i C ü p v i b v m u v u v l l k z i i v H u v F u u g v u u v -

deutsam waren11.

4. Systemtransfer: Die ehemalige DDR verfügte schon zur Volkskammerwahl am 18.

März 1990 über ein "geliehenes Parteiensystem"12. Die rechtlichen, politischen und organisationsbezogenen Strukturen wurden dann im Zuge der Vereinigung von West nach Ost transferiert. Der Organisationstransfer bzw. der Aufbau von Organisationen in Ostdeutschland war von "vomeherein auf eine Integration in das deutsche Interes­

sengruppenspektrum angelegt."13

Zusammengenommen gibt es gute Gründe, Unterschiede zwischen Ost- und Westdeut­

schen in ihrem jeweiligen Verhältnis zu den Organisationen der Interessenvermittlung zu erwarten, aber es gibt auch ebenso gute Gründe für die Annahme, daß die Unterschiede eher minimal sind.

Von der Stärke der Unterschiede in den Organisationsorientierungen der Bürger in Ost- und Westdeutschland hängt es letztlich ab, wie problemlos oder wie voraussetzungsvoll sich der mit der Einheit formell vollzogene, gesellschaftlich aber erst begonnene Vereini- gungs- und Integrationsprozeß für das System der Interessenvermittlung darstellt.

Diese Ausgangslage zur Vereinigung im Herbst 1990 soll hier vergleichend analysiert werden. Als Datenbasis dienen zwei Umfragen, die jeweils auf die Beziehung zwischen Individuen und Organisationen besonders abstellen. Zum einen handelt es sich um die als

10 Vgl. Kurt R. Hesse, Westmedien in der DDR, Köln: Verlag Wissenschaft und Politik 1988; Roller, Edeltraud/Rolf Hackenbroch/Hans-Dieter Klingemann/Jürgen Lass/Carolin Schöbel/Bemhard Weßels, Bürger und Politik: Grundlegende politische Orientierungen, in: Datenreport 1991, hrsg. v. Statistischen Bundesamt, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung (im Erscheinen).

11 S. Bluck, Carsten/Henry Kreikenbom, Die Wähler in der DDR: Nur issue-orientiert oder auch parteige­

bunden?, in: Zeitschrift für Pariamenlsfragen, H. 3,1990, S. 494-502.

12 Pappi, Franz Urban: Wahrgenommenes Parteiensystem und Wahlentscheidung in Ost- und West­

deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament B 44/91,25.

O kt 1991, S. 15-26, hier S. 18.

13 Kleinfeld, Vom demokratischen Zentralismus zum liberalen Korporatismus? (Anm. 1), S. 15.

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Wahlpanel (Wiederholungsbefragung) angelegte Umfrage des von der Deutschen For­

schungsgemeinschaft geförderten Projekts "Vergleichende Wahlstudie - Bundestagswahl 1990 in West- und Ostdeutschland". Ein jeweils repräsentativer Querschnitt der wahlbe­

rechtigten Bevölkerung wurde in der ersten Welle im Oktober 1990, in der zweiten Welle im November 1990 befragt. Aus diesem Projekt wird im wesentlichen auf die November- Umfrage zurückgegriffen. Die zweite Umfrage beruht auf einer Einschaltung von einigen Fragen zu Organisationsorientierungen der Bürger in die Eurobarometerstudie Nr. 34, die vom WZB, Abteilung "Institutionen und sozialer Wandel" finanziert wurde. Auch hier wurde ein jeweils repräsentativer Querschnitt der wahlberechtigten Bevölkerung im Ok­

tober 1990 in Ost- und Westdeutschland befragt.

2. Organisationsbindung und Interessenprofile in Ost- und Westdeutschland

An die Bindung von Bürgern an Interessenorganisationen lassen sich in Ost- und West­

deutschland unterschiedliche Erwartungen knüpfen. Für Westdeutschland wie für westli­

che Industrienationen generell wird überspitzt die Krise14, mit stärkerer Berechtigung die Transformation intermediärer Systeme15 vor dem Hintergrund der Veränderung und Ab­

schwächung traditionaler Bindungen von Individuen an Organisationen konstatiert. Da­

hinter verbirgt sich nicht nur ein Prozess der "Rationalisierung" von Bindungen, sondern auch eine Umstrukturierung von Interessen in Richtung auf das Policy-Bündel "Neue Poli­

tik"16. In Ostdeutschland ist die Ausgangslage und Situation eine andere: zum einen han­

delte es sich bei der DDR-Gesellschaft um eine extrem organisierte Gesellschaft. Im Be­

reich des FDGB betrug der Organisationsgrad 97 Prozent17, ca. 75 Prozent aller Jugendli­

chen zwischen 14 und 25 Jahren waren Mitglied der FDJ, 97 Prozent aller Genossen­

schaftsbauern waren in der VdgB, der Vereinigung der gegenseitigen Bauemhilfe, organi­

siert18. Jedoch kann man die Organisationen nach der Wende, den Volkskammerwahlen, der Währungsunion und zur Zeit der formellen Vereinigung nicht mehr gleichsetzen mit den Organisationen vor der Wende. Zum einen hatte sich das intermediäre System in die­

14 Vgl. z.B. Haungs, Peter/Eckhard Jesse (Hrsg.) Parteien in der Krise?, Köln: Verlag Wissenschaft und Politik 1987.

15 Vgl. Alemann, Ulrich von: Der Wandel der organisierten Interessen in der Bundesrepublik, in: Aus Po­

litik und Zeitgeschichte, B49/85, 1985, S. 3-21; Streeck, Wolfgang: Vielfalt und Interdependenz, in:

Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, H. 3, Jg. 39 (1987), S. 452-470; Weßels, Viel­

falt oder strukturierte Komplexität? (Anm. 9).

16 Hierzu zählen insbesondere auf ökologische, Selbstverwirklichung und stärkere unmittelbare Beteili­

gung ausgerichtete Zielsetzungen.

17 Vgl. Glaesner, Gert-Joachim, Die andere deutsche Republik, Opladen: Westdeutscher Verlag 1989, S.

211.

18 Ebd., S. 212,189.

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sem Jahr grundlegend erweitert. Seit Anfang September 1989 vergingen keine vierzehn Tage ohne Gründung neuer Organisationen. Zudem hatten sich beträchtliche Veränderun­

gen in den alten Organisationen ergeben, bzw. existierten sie als alte Organisationen durch westlichen Transfer nicht mehr19.

Hätte man vor der Wende in der DDR eher mit Organisationsskepsis gerechnet, so kann man in der Situation der Vereinigung wohl vom Gegenteil ausgehen: die Erwartung, es mit demokratischen Organisationen mit entsprechender demokratischer Wirksamkeit in der Interessen Vermittlung zu tun zu haben, dürfte eher positive Organisationsorientierungen hervorgebracht haben. Demgegenüber müßte - vor dem Hintergrund des sozialen Wandels und Transformation der Interessen - in Westdeutschland mit vergleichsweise geringerer Bindung an traditionelle, und stärkerer Bindung an Akteure der "Neuen Politik" zu rechnen sein.

Derartige Bindungen von Bürgern an Organisationen können unterschiedlichen Charak­

ters sein. Zwei Aspekte sollen hier untersucht werden: die psychologische und die formale Bindung an Organisationen. Angesichts der Thesen von der Organisationsverdrossenheit der Bürger in westlichen Demokratien und angesichts des Repräsentationsbedarfs nach über 50 Jahren nicht vorhandener Möglichkeiten der Selbstorganisation in Ostdeutschland ist eine zentrale Frage, ob sich die Bürger von Organisationen mit ihren Interessen vertre­

ten fühlen.

Das Ergebnis auf diese Frage ist angesichts der Diskussionen über die Zukunft von Ver­

bänden und Parteien für die alten Bundesländer und angesichts der notwendigen Umorien­

tierungen in den neuen Bundesländern verblüffend: Jeweils mehr als 90 Prozent der Bürger fühlen sich von mindestens einem Verband vertreten, mindestens eine Partei nennen in Ostdeutschland 75, in Westdeutschland 67 Prozent. Umweltschutzgruppen, Gewerkschaf­

ten und Bürgerinitiativen werden am häufigsten genannt.

Das Gefühl vertreten zu werden, ist ein, wenngleich wichtiger, so doch relativ schwa­

cher Ausdruck für Bindung an Organisationen. Zudem lassen sich über die jeweiligen in­

dividuellen lntcressenprioritäten auf dieser Grundlage keine Aussage treffen. Aus diesem Grunde wurden die Bürger auch befragt, welche der Organisationen, von denen sie sich vertreten fühlen, die für die persönlichen Interessen wichtigste Organisation ist. Unter die­

sem Blickwinkel zeigt sich, daß sich in Ostdeutschland zwar ein größerer Anteil der Be­

fragten von den Umweltschutzgruppen vertreten fühlt, als von den Gewerkschaften, letz­

tere aber in der Interessenpriorität für einen größeren Teil der Bürger an erster Stelle ste­

hen (35.1 Prozent) als Umweltschutzgruppen (12.8 Prozent)(s. Tab. 1). An dritter Stelle steht in der Interessenpriorität der ostdeutschen Bürger mit deutlichem Abstand die evan­

gelische Kirche (5.4 Prozent). Werden zusätzlich die Parteien betrachtet, steht die CDU

19 Vgl. die Chronik bei Föister/Roski, DDR zwischen Wahl und Wende, Berlin: Linksdruck 1990, S. 179ff.

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bzw. DSU an zweiter Stelle (14.9 Prozent), die SPD mit 7.3 Prozent an vierter Stelle. Im Gegensatz zur generellen Vertretenheit stehen nach persönlicher Wichtigkeit in Ost­

deutschland also nicht Organisationen der "Neuen Politik" an der Spitze, sondern Organi­

sationen der "Alten Politik".

Tabelle 1: Vertretenheit durch Organisationen in Ost- und Westdeutschland

Ostdeutschland Westdeutschland

fühle mich vertreten

%a

ist wichtigste Organisation

%b

fühle mich vertreten

ist wichtigste Organisation

%b Verbände/Institutionen:

Gewerkschaften 68.4 35.1 (1) 48.1 14.0 (2)

Umweltschutzgruppen 80.1 12.8 (2) 75.1 27.5 (1)

Evangelische Kirche 22.1 5.4(3) 23.9 2.6(7)

Bürgerinitiative 64.1 4.9 (4) 59.2 4.8 (4)

Seniorengruppen 20.4 2.5 (5) 35.1 3.0 (6)

Frauengruppen 33.3 2.4(6) 37.1 4.2 (5)

katholische Kirche 8.1 1.8(7) 26.3 9-1 (3)

Arbeitgeberorgan. 16.0 1.0 (8) 25.1 1.0(8)

Bauernverbände 16.5 1-0(9) 24.4 -9 (9 )

Politische Parteien

CDU/CSU/DSU 39.4 14.9 (1) 35.4 10.4 (1)

SPD 32.6 7.3 (2) 36.5 9.1 (2)

Linke Liste/PDS 12.8 4.0 (3) 5.2 0.0 (5)

F.D.P. 25.9 1.7(4) 22.0 1.3 (4)

Die Grünen 34.0 •9(5) 24.0 1.4 (3)

Verbandsnennungen

insgesamt 93.8 66.9 90.5 67.1

Parteinennungen

insgesamt 75.1 28.8 67.3 22.2

keine Vertretenheit/

keine wicht. Organ. 3.0 4.4 7.1 10.5

n = 100 % 1021 1002

a) "Sagen Sie mir bitte für jede dieser Gruppen und Organisationen - egal, ob Sie darin Mitglied sind oder nicht - ob sie Ihrer Meinung nach Ihre Interessen vertritt oder Ihren Interessen entgegensteht".

b) Welche eine von diesen Gruppen und Organisationen ist für Sie persönlich am wichtigsten?"

Quelle: WZB - Abteilung "Institutionen und sozialer Wandel"/Einschaltung in den Eurobarometer 34 (Okt./Nov. 1990)

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In Westdeutschland stimmen persönliche Wichtigkeit von Organisationen und Vertreten- heit stärker überein. Umweltschutzgruppen stehen mit 27.5 Prozent der Nennungen an der Spitze, gefolgt von Gewerkschaften (14.0 Prozent), der CDU/CSU (10.4 Prozent), der SPD (9.1) und der katholischen Kirche (9.1 Prozent). Die große Bedeutung "Neuer Politik" für die Interessen westdeutscher Bürger bestätigt sich also durch diese Frage.

Faßt man die Verbände zu Problembereichen zusammen, wird das unterschiedliche In­

teressenprofil ostdeutscher und westdeutscher Bürger noch stärker deutlich. Zu diesem Zwecke wurden Wirtschaft und Arbeit (Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Bauern­

verbände), Soziales (Senioren- und Frauengruppen), Religion (katholische und evangeli­

sche Kirche) und "Neue Politik" (Umweltschutzgruppen, Bürgerinitiativen) unterschieden:

Tabelle 2: Persönlich wichtigste Organisation nach Problembereichen (Verbände/Institutionen)

Problembereich Ostdeutschland

%

Westdeutschland

%

Wirtschaft und Arbeit 37.1 15.9

Soziales 4.9 7.2

Religion 7.2 11.7

"Neue Politik" 17.7 32.3

Zusammenfassung aus Tab. 1, "wichtigste Organisation" unter Verbänden

Das unterschiedliche Interessenprofil in Ost- und Westdeutschland - starke Dominanz der Interessen im Problembereich Wirtschaft und Arbeit einerseits, im Problembereich "Neue Politik" andererseits - ist ohne weiteres, wenngleich spekulativ, auf die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen beider Gesellschaften bei der Vereinigung zurückzuführen. Zum einen mag die (existentielle) Unsicherheit der ostdeutschen Bürger insbesondere in arbeits- und wirtschaftsbezogenen Fragen, die mit Währungsunion und Einführung der Marktwirt­

schaft entstand, ein wichtiger Erklärungsfaktor für die persönliche Bedeutung von Ge­

werkschaften sein. Zum anderen wurden Erfahrungen, wie sie in Westdeutschland mit der kulturellen Revolution der späten 60er Jahre, in deren Gefolge Bürgerinitiativen, neue so­

ziale Bewegungen, neue Parteien und Verbände entstanden, "ausgelassen", das

"Wachstumsparadigma"20 erst spät und gesellschaftlich nicht dominant in Frage gestellt21.

20 Vgl. zum Begriff Weßels, Bernhard: Erosion des Wachstumsparadigmas: Neue Konfliktstrukturen im politischen System der Bundesrepublik?, Opladen: Westdeutscher Verlag 1991, Kap. 3.

21 S. Rink, Dieter, Soziale Bewegungen in der DDR: Die Entwicklung bis Mai 1990, in: Roland Roth/Dieter Rucht (Hrsg.), Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn:

Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung Bd. 152,19912, S. 54-70.

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Tabelle 3: Mitgliedschaft in Organisationen und politischen Parteien in Ost- und Westdeutschland (ohne Gewerkschaften)

Organisation Ost­

deutschland West­

deutschland Wirtschafts- oder

Berufsverband 5.9 7.6

Frauenorganisation 2.0 3.1

Jugendorganisation .4 1.8

Altenorganisation 2.0 1.6

Bauern- oder Landwirt­

schaftsverband 2.4 2.0

Vertriebenenverband .4 1.3

Religiöse Organisation 6.3 5.3

Umweltschutzorganisation .0 3.6

Bürgerinitiative .8 1.8

Mitglied einer poli­

tischen Partei:

CDU 2.0 2.0

CSU (West)/DSU (Ost) .0 .4

SPD .0 3.3

F.D.P. .8 .4

Grüne .0 .2

Bündnis 90 (nur Ost) .0 -

Republikaner .0 .0

PDS 1.2 .0

andere Partei .0 .0

verweigert 1.2 .4

nicht Mitglied 93.1 93.7

N = 100 % 449 253

Missing Cases 0 3

Quelle: Projekt "Vergleichende Wahlstudie - Bundestagswahl 1990 in West- und Ostdeutschland", 2. Welle (Nov. 1990).

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Diese Struktur psychologischer Organisationsbindungen findet allerdings eine nur mäßige Entsprechung in den formalen Organisationsbindungen durch Mitgliedschaften (vgl. Tab. 3 und 4).

Zwar ergeben sich im Vergleich von Ost und West die erwarteten Unterschiede: eine sehr viel höherer Grad formaler Mitgliedschaften in den Organisationen des Arbeits- und Wirtschaftsbereichs in Ostdeutschland, eine deutlich höhere Organisierung in Organisatio­

nen der "Neuen Politik" in Westdeutschland. Der hohe Organisationsgrad in den arbeits- und wirtschaftsbezogenen Organisationen in Ostdeutschland entspricht also auch dem Ausmaß zugemessener Wichtigkeit. In Westdeutschland weisen ebenfalls die arbeits- und wirtschaftsbezogenen Verbände, die in der persönlichen Wichtigkeit mit deutlichem Ab­

stand erst an zweiter Stelle rangieren, den höchsten Grad formaler Mitgliedschaften auf.

Die hohe Interessenpriorität der Bürger für die Organisationen der "Neuen Politik" findet jedoch keinen Ausdruck im Organisationsgrad.

Diese "Organisationsschwäche" im Bereich "Neuer Politik" ist ein häufig konstatiertes Phänomen. Neue Interessen zeichnet im Vergleich zu den traditionellen eine Eigenart aus, die ohne Zweifel in der sozialen Basis der Interessen zu suchen ist. Während im Bereich traditioneller Interessen - insbesondere Gewerkschaften - ein beachtlicher Teil deijenigen, die sich vertreten fühlen, auch formal Mitglied der entsprechenden Organisationen sind, spielen traditionelle Merkmale von Bindungen, wie sie in Form formaler Mitgliedschaften vorliegen, bei Organisationen der "neuen Politik" eine geringe Rolle22. Dafür lassen sich mehrere Erklärungen finden. Zum einen sind formale Organisationen und formale Organi­

sierung in diesem Interessensegment, das vorwiegend postmaterialistischen Werten zuzu­

rechnen ist, stärker umstritten23. Auch verlangen diese Organisationen in der Regel in stär­

kerem Maße die eigene Beteiligung. Dies könnte den Bürgern zeitlich oder in anderer Weise zu kostenträchtig sein. In diesem Falle läge das Problem der "free-rider" vor, die zwar die von den Organisationen produzierten kollektiven Güter schätzen, nicht aber die Beteiligung an der Produktion dieser Güter. Letztlich darf auch nicht außer acht gelassen werden, daß Organisationen, insbesondere wenn sie aus Bewegungen hervorgegangen sind, Zeit brauchen, um sich zu formieren: Sie müssen die eigenen Organisationsstrukturen entwickeln, Politisierungen von Sozialstrukturen erzeugen und formale Bindungen erst aufbauen24. Im Hinblick auf neue Organisationen trifft dies auf Ostdeutschland allein schon aus zeitlichen Gründen in stärkerem Maße zu, als auf Westdeutschland. Aber in bei­

den Teilen Deutschlands haben die Organisationen in diesem Bereich ein Ressourcenpro­

blem und damit Einflußproblem. Sie können nur in geringem Maße auf die eigene Mit­

22 Vgl. Weßels,, Vielfalt oder strukturierte Komplexität? (Anm. 9), S. 472ff.

23 Streeck, Vielfalt oder Interdependenz (Anm. 15), S. 476.

24 Weßels, Bernhard, Krise der Interessenvermittlung? in: WZB-Mitteilungen 54 (Dez. 1991), S. 30-34, hierS. 32f.

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gliedsstärke als Ressource zurückgreifen und sind damit auf "Ersatzstrategien" angewiesen (Demonstrationen, Proteste).

Wenngleich das Interessensegment "Neuer Politik" bisher nur schwach formal-organi­

satorisch abgestützt ist, ist an seiner Bedeutung kaum zu zweifeln. In Westdeutschland er­

scheint es nicht übertrieben, bereits jetzt von einer neuen Konfliktlinie zu sprechen, in Ostdeutschland ist das bisher noch nicht der Fall, die Bedeutung allerdings nicht zu unter­

schätzen.

Tabelle 4: Anteil der Gewerkschaftsmitglieder in der Bevölkerung

Ostdeutschland

%

Westdeutschland

% Anteil Gewerkschaftsmit­

glieder insgesamt 54.4 19.7

Anteil Mitglieder im Be­

reich Dienstleistungen, OD 22.7 8.1

- als Anteil an Gewerkschaftsmitgliedern (41-8) (41.1)

Anteil Mitglieder im Be­

reich Industrie 28.0 8.3

- als Anteil an Gewerkschaftsmitgliedern (51-5) (42.1)

Sonstige Gewerkschaften (DAG

und nicht klassifiziert) 3.6 3.3

- als Anteil an Gewerkschaftsmitgliedern (6.7) (16.8)

n = 100 % 1021 1002

Quelle: WZB - Abteilung "Institutionen und sozialer Wandel/Einschaltung in den Eurobarometer 34 (Okt/Nov. 1990).

3. Gewerkschaften: Repräsentationsdefizite traditioneller Organisationen?

Die Gewerkschaften sind, gemessen daran, welcher Anteil der Bürger sich durch sie ver­

treten fühlt, sie als die persönlich wichtigste Organisation ansieht und nach den Mit­

gliedschaftszahlen die bedeutendsten Organisationen im intermediären System der Politik.

In Ostdeutschland ist (immer noch) die Mehrheit der Bevölkerung in den Gewerkschaften organisiert (54.4 Prozent), in Westdeutschland sind es etwa 20 Prozent. Dennoch wird die Situation der Gewerkschaften in westlichen Demokratien seit den achtziger Jahren als -

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gelinde gesagt - schwierig angesehen. Es wird der rapide Verfall von Gewerkschaftsmacht und Handlungsmöglichkeiten25 konstatiert und teilweise von einer "Mitgliederkrise" der Gewerkschaften gesprochen26. Zurückgefiihrt werden diese Entwicklungstendenzen auf die Beschäftigungskrise, technologische Innovationen, Deregulierung der Arbeitsbezie­

hungen und auf den beschäftigungsstrukturellen Wandel. Die in diesem Zusammenhang formulierte These von der Erosion oder Transformation traditioneller Sozialbeziehungen im Zuge des sozialen Wandels27 geht zumindest implizit von Repräsentationsdefiziten der traditionellen Großorganisationen einschließlich der Gewerkschaften aus28. Eine derartige an Entwicklungen in westlichen Industriegesellschaften ausgerichtete These kann nicht umstandslos auf beide Teile Deutschlands bezogen werden. In Ostdeutschland wären, wenn, andere Gründe für Repräsentationsdefizite zu vermuten, die eher in der Rolle der Gewerkschaften in der ehemaligen DDR zu suchen wären. Damit stellt sich, vor jeweils unterschiedlichem Hintergrund, die Frage, wie zufrieden Gewerkschaftsmitglieder mit ih­

ren Organisationen sind und ob sie sich mit ihren Interessen bei den Gewerkschaften ver­

treten sehen oder nicht.

Die Ergebnisse fallen in den alten und neuen Bundesländern durchaus positiv für die Gewerkschaften aus: 88.3 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder in den alten Bundeslän­

dern und 82.6 Prozent der Mitglieder in den neuen Bundesländern fühlen sich von ihren Organisationen vertreten (s. Tab. 5). Große Unterschiede zwischen den verschiedenen Or­

ganisationsbereichen gibt es nicht. In Ostdeutschland entfällt der größte Teil der Gewerk­

schaftsmitglieder auf Industriegewerkschaften (51.5 Prozent), etwas mehr als 40 Prozent sind in Gewerkschaften des Dienstleistungsbereichs und des öffentlichen Dienstes organi­

siert, ein kleiner Teil in nicht nach Branchen organisierten Gewerkschaften wie z.B. die DAG. In Westdeutschland sind Industrie- und Dienstleistungsbereich einschließlich des öf­

fentlichen Dienstes gemessen an der Zahl der Mitglieder etwa gleichbedeutend (etwas mehr als 40 Prozent), allerdings sind hier deutlich mehr Bürger in nicht dem DGB zuzu­

rechnenden Gewerkschaften organisiert (16.8 Prozent) (s. Tabelle 4). Das Vertretenheits-

25 Vgl. Lecher, Wolfgang: Deregulierung der Arbeitsbeziehungen - Gesellschaftliche und gewerkschaftli­

che Entwicklungen in Großbritannien, den USA, Japan und Frankreich, in: Soziale Welt, Jg. 38 (1987), S. 148-165; ders, Gewerkschaften in Europa - Zwischen Resignation und Widerstand, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B51-52/84, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, S. 29-46.

26 Vgl. hierzu Armingeon, Klaus: Arbeitsbeziehungen und Gewerkschaftsentwicklung in den achtziger Jahren: Ein Vergleich der OECD-Länder, in: Politische Vierteljahresschrift, 30. Jg., H. 4,1989, S. 603- 628, hier S. 603. Seine Ergebnisse sprechen jedoch gegen diese These.

27 Vgl. Streeck, Vielfalt und Interdependenz (Anm. 15); Alemann, Ulrich von: Der Wandel der organisier­

ten Interessen in der Bundesrepublik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B49/85,1985, S. 3-21.

28 In Bezug auf politische Parteien hat Elmar Wiesendahl diese These explizit formuliert. S. Wiesendahl, Elmar: Der Marsch aus den Institutionen - Zur Organisationsschwäche politischer Parteien in den acht­

ziger Jahren, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B21/90, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, S.

3-14.

(14)

gefühl im Bereich Industrie einerseits und Dienstleisungen sowie öffentlicher Dienst ande­

rerseits ist etwa gleich hoch ausgeprägt (s. Tabelle 5).

Tabelle 5: Die Gewerkschaften vertreten persönliche Interessen (Prozent Zustimmung)

Ostdeutschland Westdeutschland

% (n=100%) % (n=100%)

Alle Befragten 68.8 (1012) 48.4 (996)

Nicht-Gewerkschafts­

mitglieder 51.2 (459) 38.3 (800)

Gewerkschaftsmitglieder

insges. 82.6 (553) 88.3 (196)

- Mitglieder im Bereich

Dienstleistungen, OD 85.3 (231) 90.0 (80)

- Mitglieder im

Bereich Industrie 81.4 (285) 89.2 (83)

Quelle: WZB - Abteilung "Institutionen und sozialer Wandel/Einschaltung in den Eurobarometer 34 (Okt./Nov. 1990).

Aber nicht nur existieren keine oder allenfalls marginale Repräsentationsdefizite der Ge­

werkschaften, der überwiegende Teil der Mitglieder sieht sie auch als die für sie jeweils persönlich wichtigste Organisation an: In Ostdeutschland 53 Prozent der befragten Ge­

werkschaftsmitglieder, in Westdeutschland 47.2 Prozent. Ein weiterer großer Teil der Ge­

werkschaftsmitglieder erachtet zwar nicht seine Gewerkschaft, aber eine politisch ver­

wandte Partei als persönlich wichtigste Organisation an: 11.2 Prozent der Gewerkschafts­

mitglieder in Westdeutschland nennen die SPD, und 4.5 bzw. 5.4 Prozent der Gewerk­

schaftsmitglieder in Ostdeutschland die PDS bzw. die SPD als die persönlich wichtigste Organisation. Gewerkschaftsmitglieder in Westdeutschland sehen also insgesamt zu 58.1 Prozent die Gewerkschaften oder eine verwandte politische Partei als persönlich wichtigste Organisationen an, in Ostdeutschland sind es 62.9 Prozent.

(15)

Werden noch die Umweltgruppen als interessenbezogen verwandte Organisationen hin­

zugerechnet - was sicherlich umstritten ist29 die von 18.8 der westdeutschen und von 8.6 Prozent der ostdeutschen Gewerkschaftsmitglieder genannt werden, erachten insgesamt 77.2 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder in Westdeutschland und 71.5 Prozent in Ost­

deutschland Gewerkschaften oder ihnen verwandte Organisationen als die persönlich wichtigsten Organisationen. Angesichts der Differenziertheit von Interessen in modernen Gesellschaften und der Vielzahl jeweils individuell - zumindest potentiell - relevanter Or­

ganisationen erscheinen diese Werte recht hoch. Eine "Mitgliederkrise" aufgrund von Re­

präsentationsdefiziten der Gewerkschaften erscheint damit unwahrscheinlich. Weder in Ost- noch in Westdeutschland ergeben sich Hinweise auf eine Erosion der Bindung an Gewerkschaften. Zwar lassen sich mit Querschnittsdaten keine Prozeßaussagen überprü­

fen. Jedoch könnte man begründet erwarten, zumindest Anzeichen von Unzufriedenheit von Gewerkschaftsmitgliedern in ihren Orientierungen auf Gewerkschaften ausmachen zu körmen, wenn derartige Thesen zutreffen.

Vielmehr tritt ein anderes Phänomen auf, das die Bedeutung der Gewerkschaften für die Bürger in beiden Teilen Deutschlands unterstreicht und gleichzeitig auf ein

"Organisationsproblem" der Gewerkschaften verweist: Es fühlen sich deutlich mehr Bür­

ger von den Gewerkschaften vertreten oder sehen sie sogar als die für sie persönlich wich­

tigsten Organisationen an, als tatsächlich Mitglied sind. 51.2 Prozent der Nichtmitglieder von Gewerkschaften in Ostdeutschland und 38.3 Prozent der Nichtmitglieder in West­

deutschland fühlen sich von den Gewerkschaften vertreten, 13.7 Prozent der Nichtmitglie­

der in Ostdeutschland und 5.8 Prozent der Nichtmitglieder in Westdeutschland sehen sie sogar als die für sie persönlich wichtigsten Organisationen an. Dieses Phänomen hat Olson als das "Free Rider"-Problem der Organisationen bezeichnet, das immer dann auftritt, wenn die Güter und Dienstleistungen von Organisationen kollektiven Charakter tragen, d.h. auch Nichtmitgliedem zur Verfügung stehen, und damit ein vernünftiger Grund, Mit­

glied zu sein oder zu werden, entfällt30. Das "Free Rider"-Problem kann für Organisatio­

nen bedeuten, daß die Mitglieder ausbleiben. Die Frage ist, ob die Ergebnisse so zu deuten

29 Meiner Meinung nach läßt sich die Zuordnung von Umweltgruppen zu den in den Zielsetzungen den Gewerkschaften verwandten Organisationen damit rechtfertigen, daß die Gewerkschaften zwar insbe­

sondere in der wirtschaftlichen Rezession 1976ff. sehr ambivalent zu Umweltbelangen standen, soweit sie sie als Trade-Off zu Arbeitsplätzen und wirtschaftlicher Entwicklung sahen (vgl. Siegmann, Hein­

rich: Gewerkschaften contra Umweltschützer?, in: Wissenschaftszentrum Berlin, Intern. Inst. f. Umwelt u. Gesellschaft [Hrsg.], HUG report 85-4, Berlin 1985; ders., The conflict between labor and environ­

mentalism in the Federal Republic of Germany and the United States, Aldershot: Gower 1985, Kap. 2.).

Aber schon 1972 veröffentlichte der DGB seine Leitsätze zum Umweltschutz und betonte in seinen Grundsatzprogramm von 1981 nachdrücklich die Bedeutung des Umweltschutzes für die Lebenslage der Arbeitnehmer (s. Grundsatz Nr. 23); vgl. die Dokumente bei Leminsky, Gerhard/Otto, Bernd: Politik und Programmatik des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Köln: Bund 1984. Seitdem werden die Forde­

rungen aktualisiert und bekräftigt, z.B. im DGB-Aktionsprogramm '88 (s. S. 12ff.)

30 Olson, Mancur: The Logic of Collective Action, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1971, S.

2.

(16)

sind. Hierüber ließen sich nur Aussagen machen, wenn im Zeitverlauf der Anteil derjeni­

gen, die sich vertreten fühlen, aber nicht Mitglied sind, größer und gegebenenfalls die Mit­

gliederzahlen kleiner werden. Die Zahlen sprechen jedenfalls für die große Bedeutung der Gewerkschaften und dafür, daß sie unter Umständen selbst in den hochorganisierten neuen Bundesländern mehr Mitglieder gewinnen könnten. Allerdings ist wenig bekannt darüber, wie weit derartige Mitgliederpotentiale tatsächlich ausgeschöpft werden können und wo die Grenzwerte der Organisierbarkeit liegen. Bisher ist dieses Problem der "organizational capacity of populations" von der Organisationssoziologie nur wenig thematisiert worden31.

Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß Gewerkschaftsmitglieder weder in Ost- noch in Westdeutschland in nennenswertem Umfang Repräsentationsdefizite bei ihren Organi­

sationen wahmehmen. Die Bedeutung der Gewerkschaften für die Mitglieder wird durch den hohen Anteil deijenigen, die sie auch als persönlich wichtigste Organisation ansehen, unterstrichen, ihre Bedeutung für die Bürger insgesamt durch den beachtlichen Teil deije­

nigen, die nicht Mitglied sind, sich aber dennoch vertreten fühlen.

4. Partizipation in Organisationen

Angesichts der rapiden Veränderung in Ostdeutschland, der Transformation und des Trans­

fers von Organisationen von West nach Ost stellt sich die Frage, ob es den veränderten oder neu gegründeten Organisationen gelungen ist, ihre Erreichbarkeit für die Mitglieder zu sichern. Die Voraussetzungen sind dafür in einer Periode des massiven Umbruchs nicht gerade die besten. Organisatorische, infrastrukturelle, informationsbezogene und psycho­

logische Probleme bei der Umorientierung können dagegen stehen. Die veränderten politi­

schen Rahmenbedingungen, andere Vernetzungen und Tauschbeziehungen im Organisati­

onssystem und zum politischen System verlangen von den Verbänden und Parteien schon allein eine große Anpassung in Bezug auf die organisationsmtörnen Strukturen. Ebenso wichtig ist es aber, den Anforderungen des primären Organisationszwecks, der Aggrega­

tion und Artikulation von Mitgliederinteressen zu entsprechen. Dies ist eine zweifach vor­

aussetzungsvolle Herausforderung: sie verlangt sowohl von den Mitgliedern als von der Organisation ein entsprechendes Handeln32.

31 Ein früher Ansatz zum Verhältnis von Sozialstruktur und Organisation stammt von Stinchcombe.

Stinchcombe, Arthur L.: Social Structure and Organizations, in: James G. March, Handbook of Organi­

zations, Chicago: Rand McNally 1965, S. 142-193, hier S. 145-153. Ähnliche Ergebnisse hinsichtlich des Free Rider-Problems erbrachte auch eine Studie über die alte Bundesrepublik mit Daten vom De­

zember 1989. Vgl. Weßels, Vielfalt oder strukturierte Komplexität (Anm. 9).

32 Bodo Zeuner faßt die psychologischen Voraussetzungen auf Seiten der Mitglieder (Mitbestimmungswille, Mitbestimmungsfähigkeit) zusammen. S. Zeuner, Bodo: Innerparteiliche Demo­

kratie, Berlin: Colloquium Verlag 1970, S. 32-41.

(17)

Ein Gradmesser, inwieweit es den Organisationen in Ostdeutschland in der Situation der Vereinigung gelungen ist, erreichbar für die Mitglieder zu bleiben, ist in diesem Sinne die Beteiligung der Mitglieder an den Organisationsaktivitäten und der Grad der Information der Mitglieder durch die Organisation33. Beide Faktoren sind als zentrale Voraussetzungen innerorganisatorischer Willensbildung anzusehen. Damit ist die demokratische innerorga­

nisatorische Willensbildung noch nicht garantiert. Aber beide Faktoren sind zumindest notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingungen für die demokratische Willens- bildung. Insofern bietet sich, jenseits aller wie auch immer berechtigten Kritik an den Hemmnissen für innerorganisatorische Demokratie in den westdeutschen Organisationen, der Vergleich der Erreichbarkeit der Organisationen für die Mitglieder in Ost- und West­

deutschland an.

Die Teilnahme der Mitglieder an Versammlungen, Treffen oder sonstigen Aktivitäten der Organisation ist hierfür ein Indikator34. Ganz allgemein liegt das Beteiligungsniveau in den neuen Bundesländern etwas höher als in den alten. Insgesamt haben 40 Prozent der Organisationsmitglieder in Ostdeutschland und 32 Prozent in Westdeutschland in der letz­

ten Zeit oft oder zumindest manchmal an den Organisationsaktivitäten teilgenommen. Al­

lerdings sind die Beteiligungsraten der formalen Mitglieder in den einzelnen Organisati­

onssegmenten höchst unterschiedlich. Am höchsten sind sie in Ostdeutschland in den Be­

rufeverbänden (68 Prozent), am niedrigsten in den Gewerkschaften (34 Prozent). In West­

deutschland sind sie am höchsten in den Sozialverbänden (56 Prozent) und am niedrigsten in den Berufeverbänden (13 Prozent)(s. Schaubild 2). Im Vergleich von Ost- und West­

deutschland fällt darüber hinaus auf, daß von den drei Organisationsbereichen in Ost­

deutschland, die überdurchschnittliche Beteiligungsraten aufweisen, zwei auf Arbeite- und Wirtschaftsprobleme bezogen sind (Berufeverbände, Wirtschafteverbände), in West­

deutschland die beiden Organisationsbereiche mit überdurchschnittlicher Partizipation den Problemfeldem Soziales und Religion zuzurechnen sind (Sozialverbände, religiöse Orga­

nisationen). Die vergleichsweise hohe Beteiligung in den wirtschaftsbezogenen Verbänden in Ostdeutschland verweist auf einen hohen Orientierungsbedarf der Bürger, insbesondere unter denjenigen, die die neuen Möglichkeiten, die sich mit der Einführung der Marktwirt­

schaft ergeben, nutzen wollen (Freiberufler, Selbständige). Zudem zeigt das in den ost­

deutschen Organisationen insgesamt höhere Partizipationsniveau, daß es den veränderten

33 Vgl. ebd. S. 120f.

34 Die Frageformulierung ist: "Wir möchten jetzt etwas über Ihre Kontakte zu der (den) Organisationen) wissen, in der (denen) Sie Mitglied sind. Zunächst: Wie häufig haben Sie in der letzten Zeit an Ver­

sammlungen, Treffen oder sonstigen Aktivitäten der/des [INT.: Namen der Organisation nennen] teilge­

nommen: oft, manchmal, selten, nie". Diese Frage wurde in der 2. Befragungswelle des Projekts

"Vergleichende Wahlstudie - Bundestagswahl 1990 in West- und Ostdeutschland" im November 1990 den Befragten vorgelegt.

(18)
(19)

Quelle: Projekt "Vergleichende Wahlstudie - Bundestagswahl 1990 in West- und Ostdeutschland.

2. Welle (Nov. 1990).

Bernhard Weßels

w

(20)

und neuen Organisationen im Vergleich gut gelungen ist, die Mitglieder in ihre Aktivitäten einzubeziehen.

Hinsichtlich der Information der Mitglieder bestehen insgesamt gesehen Unterschiede zwischen Ost und West zu Lasten der ostdeutschen Mitglieder von Organisationen. Im Durchschnitt geben 82 Prozent der Mitglieder in Westdeutschland, aber nur 58 Prozent der Mitglieder in Ostdeutschland an, in der letzten Zeit Veröffentlichungen der eigenen Orga­

nisation gelesen zu haben35. Allerdings ist das Informationsniveau in den Organisations­

sektoren sehr unterschiedlich. Bei den Berufe- und Wirtschaftsverbänden, die in Ost­

deutschland auch überdurchschnittliche Partizipationsraten aufweisen, ist es fast genauso hoch, wie in Westdeutschland (über 85 Prozent). Größere Unterschiede existieren jedoch bei den religiösen Organisationen, den Sozialverbänden und den Gewerkschaften. Letztere stehen in Ostdeutschland auch im Partizipationsniveau an letzter Stelle (s. Schaubild 3).

Welcher der beiden Aspekte - Partizipation oder Information - der ausschlaggebende Gradmesser für den gelungenen Neuaufbau oder für die - unter veränderten Bedingungen - gelungene Kontinuität der Beziehung zwischen Organisationen und Mitgliedern ist, läßt sich schwer beurteilen. Insgesamt betrachtet, sprechen das höhere Partizipationsniveau und das zwar schwächere, aber doch recht hohe Informationsniveau der Mitglieder in Ost­

deutschland dafür, daß es den neu geschaffenen und veränderten Organisationen gelungen ist, die Beziehung zu den Mitgliedern trotz aller anderen zu lösenden Probleme zu sichern.

5. Konflikte im Verbände- und Parteiensystem Ost- und Westdeutschlands 5.1. Zur Relevanz von Konfliktstrukturen für das politische System

Die mehr oder minder verfestigten Konfliktstrukturen zwischen politischen Akteuren ge­

hören zu den hervorstechenden Merkmalen eines politischen Systems. Nicht nur, daß sie Auskunft über Interessendifferenzierung und -gegensätze geben, sie sind darüber hinaus von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Repräsentativität, Stabilität und Akzep­

tanz eines politischen Systems36. Konfliktlinien beruhen in der Regel auf festen Koalitio­

nen zwischen (Organisations-) Eliten und sozialen Vergemeinschaftungen oder Vergesell­

schaftungen im Sinne Max Webers. Diese Koalitionen vermitteln und sind Ausdruck spe­

zifischer, häufig parteibezogener, gesellschaftlicher Wertorientierungen. Dadurch produ­

35 Die Frage lautet: "Haben Sie in der letzten Zeit Veröffentlichungen der/des [INT.: Namen der Organisa­

tion nennen], z.B. Mitgliederzeitschriften oder Broschüren gelesen oder nicht? Ja/Nein".

36 Vgl. zu folgendem Weßels, Bernhard: Gruppenbindungen und rationale Faktoren als Determinanten der Wahlentscheidung in Ost- und Westdeutschland, Manuskript für die Tagung des Arbeitskreises Wahl- und Einstellungsforschung der DVPW, Bamberg, 4.-5. März 1992, S. 33-36.

(21)

zieren sie Erwartungssicherheit für die beteiligten Akteure. Zentral in diesem Zusammen­

hang ist die relative Dauerhaftigkeit derartiger Konstellationen: die Akteure können mit einiger Sicherheit von relativ stabilen Grundinteressen ihrer Gegner ausgehen; die (Organisations-) Eliten kennen die generellen Interessendispositionen ihres gesellschaftli­

chen Koalitionspartners; umgekehrt wissen soziale Gemeinschaften oder Klassen, wer ihre jeweiligen Koalitionspartner im Organisationssystem und unter den politischen Eliten sind37. Gleichzeitig sind Konfliktstrukturen in der Regel Ausdruck mehr oder minder ver­

festigter Repräsentationskanäle, da die Koalitionen zwischen bestimmten gesellschaftli­

chen Gruppen und den (Organisations-) Eliten auf einer generellen Übereinstimmung in gesellschaftlichen Wertorientierungen beruhen. Die Auseinandersetzungen um und die Entscheidungen über politische Streitfragen basieren damit auf den gleichen generalisier­

ten Wertbezügen auf Seiten gesellschaftlicher Gruppen und Eliten. Die individuell-ratio­

nalen Vorteile derartiger Strukturen für die Vermittlung von Interessen zwischen Bürgern und politischem System liegen auf der Hand. Aber auch für ein politisches System als Ganzes ergeben sich aus der Erwartungssicherheit in Bezug auf die Interessendispositionen der Akteure des intermediären Systems und in Bezug auf die etablierten Wege der Ver­

mittlung und Repräsentation zwischen sozialen Gruppen und (Organisations-) Eliten gra­

vierende Vorteile: zum einen tragen funktionierende Konfliktstrukturen und funktionie­

rende Opposition positiv zur Akzeptanz und Unterstützung des politischen Systems bei, wie empirische Analysen belegen38; zum anderen bedeuten sie die Reduktion gesellschaft­

licher Interessen- und Handlungskomplexität für das politische System in zweifacher Hin­

sicht. Erstens wird Komplexität im inhaltlichen Sinne reduziert, weil individuelle Interes­

sen aggregiert, kollektiviert und "politikfähig" gemacht werden. Zweitens wird Komplexi­

tät im organisatorischen Sinne reduziert, weil mehr oder minder institutionalisierte Wege der Artikulation von Interessen existieren.

Insgesamt gesehen kann man also davon ausgehen, daß Konfliktlinien und ihnen vorge­

lagerte Koalitionen zwischen gesellschaftlichen Gruppen und (Organisations-) Eliten als fester Bestandteil der "informellen Strukturen" des politischen Systems seine Funktionsfä­

higkeit und seine Funktionsweise nachhaltig beeinflußen. Im Gegensatz zu formalen Strukturen des politischen Systems beziehen sie sich zwar nicht auf durch Verfassung oder Gesetzgebung festgelegte, sondern auf die "subkonstitutionellen Grundlagen" der Demo­

37 Auf die demokratietheoretische und stabilitätsbezogene Bedeutung von sich in Koalitionen ausdrücken­

den Gruppenbindungen verweist auch Schultze, Rainer-Olaf, Außengeleitete Innovation und innenge­

leiteter Methodenrigorismus - Deutsche Wahlsoziologie auf dem Prüfstand internationalen Vergleichs, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Heft 3/91, S. 481-494, hier S. 485.

38 S. Weil, Frederick D.: The sources and structure of legitimation in Western Democracies, in: American Sociological Review, Vol. 54 (1989), S. 682-706; Fuchs, Dieter: Trends of political support in the Fede­

ral Republic of Germany, Discussion Paper FS HI 92-201, Wissenschaftszentrum Berlin.

(22)

kratie39. Ihre positive Bedeutung für ein politisches System darf dennoch nicht unter­

schätzt werden. Positive Bedeutung haben derartige informelle Strukturen allerdings nur solange, wie durch in dauerhaften Strukturen sich leicht bildende Interessenkartelle nicht bestimmte Interessen von der Teilhabe an der Verteilung von (politischen) Gütern ausge­

schlossen werden. Derartige Tendenzen rufen Gegenbewegungen auf den Plan, wie der Zusammenhang zwischen korporatistischen Interessenkartellen und dem Entstehen neuer sozialer Bewegungen verdeutlicht40.

5.2. Konfliktstrukturen im Verbände- und Parteiensystem der Bundesrepublik

Konfliktlinien werden normalerweise in bezug gesetzt zu der Gestalt und Differenzierung von Parteiensystemen41. Die historische Forschung hat allerdings zu Recht darauf verwie­

sen, daß soziale Gegensätze nicht nur durch Parteien, sondern auch durch Verbände reprä­

sentiert werden42. Gleichwohl ist dieser Aspekt bisher wenig untersucht43 und auch das diesbezügliche Verhältnis von Parteien und Verbänden zueinander als Ausdruck eines quasi institutioneilen Unterbaus der sich in Parteiensystemen ausdrückenden Konfliktlinien wenig beachtet44.

Im Parteiensystem der alten Bundesrepublik finden sich zwei traditionelle Konfliktli­

nien: In der ökonomischen Konfliktlinie zwischen Kapital und Arbeit steht die SPD einer Koalition der "bourgeoisen" wirtschaftspolitischen Ziele in der CDU und F.D.P. gegen­

über; SPD und F.D.P. als säkularisierte Parteien stehen CDU und CSU in der religiösen

39 Der Begriff der "informellen Strukturen" des politischen Systems ist wissenschaftlich noch nicht voll ausgelotet, die Relevanz derartiger Strukturen wird dennoch betont. Vgl. Easton, David: The analysis of political structure, New York/London: Routledge 1990, S. 66f., 81; Weil, Sources and structure of Legi­

timation (Anm.38); Fuchs, Trends of political support (Anm. 38).

40 Vgl. zu diesem Zusammenhang Brand, Karl-Werner: Neue soziale Bewegungen: Entstehung, Funktion und Perspektive neuer Protestpotentiale, Opladen: Westdeutscher Verlag 1982, S. 58ff.; Hirsch, Joachim/Roth, Roland: Das neue Gesicht des Kapitalismus: Vom Fordismus zum Post-Fordismus, Ham­

burg: V S A 1986, S. 99f.; Kitschelt, Herbert: Left-Libertarian Parties, in: World Politics, Vol. XL, 1988, S. 194-234, hierS. 212ff.

41 Ausgegangen wird hier zumeist von den großen konzeptionellen Arbeiten von Upset und Rokkan. Vgl.

Upset, Seymour Martin/Stein Rokkan: Cleavage Structures, Party Systems, and Voter Alignments - An Introduction, in: Seymour Martin Upset/Stein Rokkan (Hrsg.): Party Systems and Voter Alignments, New York: Free Press 1967, S. 1-64

42 Boldt, Hans: Parteitheorie und die Vergleichende Verfassungsgeschichte, in: Albertin, Lothar/Unk, Werner (Hrsg.), Politische Parteien auf dem Weg zur parlamentarischen Demokratie in Deutschland, Düsseldorf, 1981, S. 91ff.

43 Vgl. für die "alte" Bundesrepublik Weßels, Vielfalt oder strukturierte Komplexität (Anm. 9).

44 In Bezug auf Gewerkschaften und Parteien vgl. Eliassen, Kjell A.: Politische Beteiligung und parteipo­

litische Bindung der Gewerkschaften in Westeuropa: ein Überblick, in: Soziale Welt, Jg. 25, H. 1,1974, S. 71-90.

(23)

Spannungslinie gegenüber45. Daneben sind die Grünen Ausdruck einer sich möglicher­

weise dauerhaft etablierenden neuen ökologisch-kulturellen Konfliktlinie. Verbände und Organisationen lassen sich diesen Spannungslinien ebenfalls zuordnen (s. Schaubild 4):

Gewerkschaften repräsentieren den Pol Arbeit, Arbeitgeberverände den Pol Kapital in der ökonomischen Konfliktlinie, katholische und evanglische Kirche stehen zum einen für den konfessionellen, zum anderen für den religiös-laizistischen Konflikt und Umweltschutz­

verbände und -gruppen sind Repräsentanten der ökologisch-kulturellen Konfliktlinie im Verbändesystem.

Schaubild4: Struktur und "Institutionalisierung" politischer Konfliktlinien in der Bundesrepublik3

Merkmale

Genese: T r a d i t i o n e l l N e u

Dimension: Ö k o n o m i s c h k u 1 t u r e i l

Inhalt: Arbeit Kapital religiös/

konfessio­

nell

ökologisch/

"grün"

Ebenen der Verankerung Parteien­

system: SPD FDP, CDU CDU, CSU GRÜNE

Verbände/

Institu­

tionen:

Gewerk­

schaften

Arbeitge­

berverbände

Katholische Kirche

Evangeli­

sche Kirche

Umwelt­

verbände und

-gruppen Sozial­

struktur:

Arbeiter u.

Angestellte (ausfüh­

rend)

Alter

Mittelstand

Wertgemein­

schaft kon­

fessionell Gebundener

Wertgemein­

schaft der

"Postmate­

rialisten"

a Leicht verändert übernommen aus Weßels, Vielfalt (Anm. 9), S. 464.

Während Konfliktstrukturen sich makrosoziologisch anhand von Koalitionen und Geg­

nerschaften zwischen Organisationen identifizieren lassen, sind sie auf der Mikroebene des

45 Vgl. Pappi, Franz Urban: Konstanz und Wandel der Hauptspannungslinien in der Bundesrepublik, in:

Joachim Matthes (Hrsg.), Sozialer Wandel in Westeuropa, Frankfurt a.M./New York: Campus 1979, S.

465-479.

(24)

individuellen Bürgers dadurch gekennzeichnet, daß er für sich einen Interessenstandpunkt positiv definiert hat und seinen Interessen entgegenstehende Standpunkte ebenfalls benennt

oder benennen kann.

Bezogen auf Verbände und Parteien heißt das, daß der Befragte sich positiv im Sinne der Vertretenheit mit einem kollektiven Akteur identifiziert und andere oder zumindest einen anderen kollektiven Akteur als den eigenen Interessen entgegenstehend ansieht.

Betrachtet man die durch die Bürger wahrgenommenen Gegnerschaften im Verbände- und Parteiensystem insgesamt über alle Konfliktlinien hinweg, zeigt sich, daß in den alten Bundesländern von den Bürgern in etwas größerem Umfang Interessengegnerschaften wahrgenommen werden, als in den neuen Bundesländern. Darüberhinaus gilt in beiden Teilen Deutschlands, daß mehr Gegnerschaften im Parteiensystem als im Verbändesystem benannt werden (s. Tab. 6). Auf dieser allgemeinen Ebene ergeben sich also keine bedeut­

samen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland.

Tabelle 6: Umfang wahrgenommener Gegnerschaften3 im Verbände- und Partei­

ensystem

Ostdeutschland Westdeutschland Gegnerschaft im Verbände-

systemb nehmen wahr 39.9 42.7

Gegnerschaft im Parteien-

systemc nehmen wahr 45.6 50.4

a) Gegnerschaften sind definiert durch wahrgenommene Vertretenheit durch eine bestimmte Organisation und wahrgenommenen Interessengegensatz zu einer zweiten Organisation.

b) Kapital-Arbeit: Gewerkschaften-Arbeitgeber; Ökonomie-Ökologie: Gewerkschaften-Umweltorgani- sationen; Arbeitgeber-Umwelt; Konfessionen: evangelische-katholische Kirche; traditional-modern:

evangelische Kirche-Umwelt; katholische Kirche-Umwelt (max. 6).

c) im linken Spektrum: Kommunisten-Sozialisten; Kommunisten-Grüne; Sozialisten-Grüne; Links vs.

Liberal/Rechts: Kommunisten-Liberale; Kommunisten-Christliche; Sozialisten-Uberale; Sozialisten- Christliche; Grüne-Liberale; Grüne-Christliche; im Mitte/Rechts-Spektrum: Liberale-Christliche (max. 10).

Quelle: WZB - Abteilung "Institutionen und sozialer Wandel/Einschaltung in den Eurobarometer 34 (Okt./Nov. 1990).

Es kommt aber darauf an, wie die konkreten Konfliktlinien individuell besetzt werden.

Hierzu sollen die gesellschaftliche Bedeutung und die Stärke des Konflikts der verschie­

denen konfliktlinienbezogenen Gegnerschaften betrachtet werden. Die gesellschaftliche Bedeutung von Konflikten ist mikroanalytisch dadurch bestimmt, wie groß der Bevölke­

rungsanteil ist, der die jeweiligen Gegnerschaften wahmimmt. Die Stärke eines Konflikts

(25)

ist mikroanalytisch dadurch gekennzeichnet, wie hoch der Anteil der jeweils an eine Kon­

fliktlinie gebundener ist, der eine Gegnerschaft wahmimmt. Die Stärke des Konflikts wird also gemessen am Anteil der Befragten, die sich von einer der Organisationen einer Kon­

fliktdimension vertreten fühlt und die jeweils andere Organisation als den eigenen Interes­

sen entgegenstehend definiert.

Die wahrgenommenen Gegnerschaften im Verbändesystem lassen sich in folgender Weise auf Konfliktlinien beziehen:

- ökonomischer Konflikt: Gewerkschaften vs. Arbeitgeberorganisationen;

- konfessioneller Konflikt: katholische vs. evangelische Kirche;

- Modernismus-Konflikt: katholische und evangelische Kirche als Repräsentanten tradi- tionaler Wertorientierungen vs. Umweltorganisationen als Repräsentanten stark säkula­

rer postmaterialistischer (moderner) Wertorientierungen46;

- ökologischer Konflikt: Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände als Repräsentanten des

"Wachstumsparadigmas" gegenüber Umweltverbänden.

Die Stärke und gesellschaftliche Bedeutung der unterschiedlichen Konflikte variiert sehr stark. Danach ist der Modernismus-Konflikt (zwischen [postmaterialistischen] Umwelt­

gruppen und katholischer Kirche) in beiden Teilen Deutschlands am stärksten, gefolgt vom ökonomischen Konflikt zwischen Kapital und Arbeit. Jeweils rund ein Viertel der von den Organisationen Vertretenen nimmt in beiden Konfliktlinien Gegnerschaften wahr. An dritter Stelle steht, mit etwa 20 Prozent der Nennungen, der ökologische Konflikt zwischen Umweltgruppen und Arbeitgeberorganisationen. Der Konflikt zwischen Gewerkschaften und Umweltgruppen weist die geringste Stärke auf47. Der konfessionelle Konflikt liegt in der Stärke dicht hinter dem Konflikt zwischen Umwelt und Wirtschaft (ca. 17 Prozent der Nennungen)(s. Tab. 7).

Die gesellschaftliche Bedeutung der jeweiligen Konfliktgegnerschaften entspricht in beiden Teilen Deutschlands im wesentlichen der Stärke der Konflikte, weicht aber an ei­

nem Punkt von dieser Rangfolge wesentlich ab. Der konfessionelle Konflikt ist zwar rela­

tiv stark, in seiner gesellschaftlichen Bedeutung liegt er jedoch an letzter Stelle (lediglich etwas mehr als 8 Prozent aller Befragten benennen ihn).

Bezogen auf die wahrgenommenen Konflikte im Verbändesystem ergibt sich insgesamt eine sehr hohe Übereinstimmung zwischen den Bürgern der alten und der neuen Bundes­

46 Gegenüber der ursprünglichen Fassung habe ich Dank des Hinweises von Ulrich von Alemann diesen Konflikt jetzt klarer und allgemeiner begrifflich als Modemismuskonflikt gefaßt. Ursprünglich hatte ich ihn verengt als Konflikt zwischen religiösen Institutionen und säkularisierten Organisationen interpre­

tiert.

47 Damit rechtfertigt sich die Zuordnung von Umweltschutzgruppen als in den Zielsetzungen mit denen der Gewerkschaften partiell vergleichbar, die in Abschnitt 3 (vgl. Fußnote 27) vorgenommen wurde: der Anteil deijenigen Gewerkschaftsmitglieder, die Umweltgruppen als die persönlich wichtigste Organisa­

tion ansehen, übertrifft den Anteil deijenigen, die hier eine Gegnerschaft wahmehmen, bei weitem.

(26)

länder. Sowohl der Rangfolge, als auch im wesentlichen den konkreten Zahlen für Stärke und Bedeutung der Konflikte nach, sind allenfalls marginale Unterschiede festzustellen.

Tabelle 7: Gegnerschaften im Verbändesystem in Ost- und Westdeutschland

Gegnerschaftspaar Gesellschaftliche Bedeutung des

Konflikts

Stärke des Konflikts

Nennungen in Nennungen in

% v. Gesamt % v. Vertre-

tenen

Rangordnung nach Verbreitung der Gegnerschaft unter jeweils Vertretenen

A. Ostdeutschland (n = 1021)

Gewerkschaften vs. Umwelt 6.8 6.8

Umwelt vs. evangel. Kirche 12.8 12.8

Evangel, vs. kathol. Kirche 5.4 17.9

Arbeitgeber vs. Umwelt 19.4 20.2

Gewerkschaften vs. Arbeitgeber 18.3 21.7

Umwelt vs. kathol. Kirche 22.5 25.5

B. Westdeutschland: (n = 1002)

Gewerkschaften vs. Umwelt 8.5 8.5

Umwelt vs. evangel. Kirche 11.0 11.1

Evangel, vs. kathol. Kirche 8.8 17.5

Arbeitgeber vs. Umwelt 21.0 21.0

Gewerkschaften vs. Arbeitgeber 17.6 24.0

Umwelt vs. kathol. Kirche 24.1 24.1

Durchschnitt für Gegnerschaften

Ostdeutschland 14.2 17.5

Westdeutschland 15.2 17.7

Quelle: WZB - Abteilung "Institutionen und sozialer Wandel", Einschaltung in den Eurobarometer 34 (Okt/Nov. 1990).

Die Konfliktkonstellationen im Parteiensystem lassen sich zwar auch unschwer unter­

schiedlichen Spannungslinien zuordnen (s. Schaubild 4). Einige Komplikationen in der eindeutigen Zurechnung können sich jedoch durch die doppelte Position der CDU/CSU er­

geben: sie repräsentiert sowohl bourgeoise wirtschaftspolitische Ziele, als auch die tradi- tionale und konfessionelle Dimension. Ob wahrgenommene Gegnerschaften zwischen SPD und CDU/CSU von den Befragten auf die ökonomische oder die religiös-konfessionelle Spannungslinie bezogen definiert werden, kann mithilfe der zur Verfügung stehenden Da­

ten nicht geklärt werden. Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich bei der Betrachtung von

(27)

auf Spannungslinien bezogenen Gegnerschaften: bestimmte Konflikte geraten gar nicht in den Blick. Die allgemeine Parteienkonkurrenz und die ideologische Differenzierung macht jedoch innerhalb bestimmter Spektren des Parteiensystems nicht halt. Es bietet sich daher an, Konflikte auf der Links-Rechts Dimension zu betrachten. Danach können Konflikte existieren:

- zwischen linken und liberal/rechten Parteien-. Kommunisten (PDS) vs. Liberale (F.D.P.);

Kommunisten vs. Christliche (CDU/CSU/DSU); Sozialisten (SPD) vs. Liberale; Soziali­

sten vs. Christliche; Grüne vs. Liberale; Grüne vs. Christliche;

- im linken Parteienspektrum’. Kommunisten vs. Sozialisten; Kommunisten vs. Grüne; So­

zialisten vs. Grüne;

- im liberal/rechten Parteienspektrum-. Liberale vs. Christliche.

Werden zunächst nur die in der alten Bundesrepublik im Bundestag repräsentierten Par­

teien betrachtet, entsprechen die Ergebnisse in Ost- und Westdeutschland den zu erwarten­

den Strukturen. Am stärksten ist der Konflikt zwischen Links und Rechts, also zwischen SPD und CDU/CSU bzw. /DSU, am zweitstärksten der zwischen Grünen und Christdemo­

kraten, an dritter Stelle steht der Konflikt zwischen Sozialdemokraten und Liberalen. Die schwächsten Konflikte ergeben sich zwischen (potentiellen) Koalitionspartnern, im linken Spektrum also zwischen SPD und Grünen, im liberal-rechten Spektrum zwischen F.D.P.

und Christdemokraten. Es besteht zwar hinsichtlich der Strukturen der Konflikt- oder Geg- nerschaftswahmehmung vollständige Übereinstimmung zwischen alten und neuen Bun­

desländern, nicht jedoch, was die Stärke der Wahrnehmungen angeht. In Westdeutschland nimmt ein weitaus größerer Teil der Bürger Interessengegnerschaften wahr, als in Ost­

deutschland. Im Durchschnitt sind es bezogen auf Gegnerschaften zwischen nicht-kommu- nistischen Parteien in Westdeutschland 23.7 Prozent deijenigen, die sich von einer Partei vertreten fühlen, in Ostdeutschland 14.8 Prozent. Die Differenz bezogen auf die Gegner­

schaft zwischen Sozialdemokraten und Christdemokraten liegt in Westdeutschland fast 10 Prozentpunkte höher, als in Ostdeutschland (33.1 Prozent vs. 24.4 Prozent)(s. Tab. 8).

In einer besonderen Situation befindet sich die reformkommunistische PDS. In beiden Teilen Deutschlands ist die Stärke der wahrgenommenen Gegnerschaften zwischen allen Parteien und PDS höher, als zwischen allen anderen Parteien. Am stärksten ist auch hier wieder der Links-Rechts Gegensatz (PDS vs. Christdemokraten), der in Ostdeutschland von 54.2 Prozent deijenigen, die sich von einer der beiden Parteien vertreten fühlt, wahr­

genommen wird und in Westdeutschland von 58.4 Prozent. Daneben ergeben sich aber in­

teressante Unterschiede. Während in Ostdeutschland die Gegnerschaften zwischen Libe­

ralen, SPD und Grünen auf der einen und PDS auf der anderen Seite deutlich schwächer sind (31.2 bis 37.7 Prozent), werden Gegnerschaften zwischen PDS und SPD und PDS und

(28)

F.D.P. in Westdeutschland fast im gleichen Ausmaß wahrgenommen, wie zwischen PDS und Christdemokraten (52.6 bis 54.4 Prozent).

Tabelle 8: Gegnerschaften im Parteiensystem in Ost- und Westdeutschland

Gegnerschaftspaar Gesellschaftliche Bedeutung des

Konflikts

Nennungen in

% v. Gesamt

Stärke des Konflikts

Nennungen in

% v. Vertre­

tenen

Rangordnung nach Verbreitung der Gegnerschaft unter jeweils Vertretenen

A. Ostdeutschland: (n = 1021)

Sozialisten vs. Grüne 5.3 8.0

Liberale vs. Christliche 6.1 9.3

Grüne vs. Liberale 7.9 13.2

Sozialisten vs. Liberale 8.8 15.0

Grüne vs. Christliche 13.9 18.9

Sozialisten vs. Christliche 17.6 24.4

Kommunisten vs. Grüne 14.6 31.2

Kommunisten vs. Sozialisten 15.3 33.7

Kommunisten vs. Liberale 17.3 37.7

Kommunisten vs. Christliche 28.3 54.2

B. Westdeutschland: (n = 1002)

Liberale vs. Christliche 3.8 6.6

Sozialisten vs. Grüne 9.9 16.4

Grüne vs. Liberale 12.4 27.0

Sozialisten vs. Liberale 16.4 28.0

Grüne vs. Christliche 18.6 31.3

Sozialisten vs. Christliche 23.8 33.1

Kommunisten vs. Grüne 11.6 39.7

Kommunisten vs. Liberale 14.3 52.6

Kommunisten vs. Sozialisten 22.7 54.4

Kommunisten vs. Christliche 23.7 58.4

Durchschnitte für Gegnerschaften Ostdeutschland

1. Zwischen nicht-kommistischen

Parteien 9.9 14.8

2. Zwischen kommunistischen und

anderen Parteien 18.9 39.2

3. Gesamtdurchschnitt 135 24.6

Westdeutschland

1. Zwischen nicht-kommistischen

Parteien 14.2 23.7

2. Zwischen kommunistischen und

anderen Parteien 18.1 51.3

3. Gesamtdurchschnitt 15.7 51.3

Quelle: WZB - Abteilung "Institutionen und sozialer Wandel", Einschaltung in den Eurobarometer 34 (Okt./Nov. 1990)

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