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Tagebuch in Zahlen

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www.netzwoche.ch © netzmedien ag 16 / 2014 35

Tagebuch in Zahlen

Neben die Vermessung der Welt tritt zunehmend die Vermessung des Selbst – Quantified Self. Immer mehr Gadgets stehen zur Verfügung, um die eigenen Körperfunktionen aufzuzeichnen und in einen Vergleich mit den Messwerten anderer zu setzen.

Selbstoptimierung ist das Ziel. Ein Essay.

Nathalie Baumann

Swatch plant eine Fitnessuhr. Das neue Gad- get soll 2015 auf den Markt kommen und ge- mäss Swatch-Chef Nick Hayek alle gebräuch- lichen Funktionen zur Vermessung des eige- nen Körpers unterstützen. Damit steigt das Schweizer Unternehmen in den äusserst zu- kunftsträchtigen Markt der Wearables ein, der am Körper getragenen, vernetzten Geräte.

Die Website Quantifiedself.com stellt über 500 Self-Tracking-Tools vor, die der Selbstvermes- sungsgemeinde mittlerweile zur Verfügung stehen.

Quantified Self ist keine Randerschei- nung. Inzwischen gibt es 160 Gruppen in mehr als 120 Städten, wie Jan Willmroth, Journalist bei der «Süddeutschen Zeitung», ermittelte.

Die Self-Tracker zu Nerds zu erklären, die ger- ne neue Gadgets testen, würde als Erklärung für das zeitintensive Hobby unterschiedlichs- ter Menschen zu kurz greifen. Vielmehr muss es sich hierbei um ein Phänomen des Zeitgeis- tes handeln.

Selbsterkenntnis durch Zahlen

Nachdem die Menschen während langer Zeit in religiösen oder philosophischen Praktiken Selbsterkenntnis suchten – und immer noch suchen –, scheint sich heute, im digitalen Zeit- alter, zunehmend die «Selbsterkenntnis durch Zahlen» zu etablieren. «Self-knowledge trough numbers», lautet die Devise. Eigentlich nicht weiter erstaunlich, herrscht doch heute grund- sätzlich das Prinzip vor, die Welt in Zahlen auszudrücken und darauf basierend zu erklä- ren. Nur was quantifizierbar ist, scheint über- haupt zu existieren. Warum sollten wir ausge- rechnet uns und unsere Körper von diesem Prinzip ausnehmen?

Die meisten Self-Tracker behalten die von sich ermittelten Datenreihen nicht für sich, sondern tauschen sich darüber rege auf entsprechenden Plattformen oder in sozialen Netzwerken aus.

Darüber, dass ein Vergleich mit anderen statt- findet, täuscht der Begriff Quantified Self erst einmal hinweg. Was sich auf den ersten Blick wie eine Beschäftigung mit sich selbst präsen- tiert, ist auf den zweiten eine in hohem Masse gemeinschaftsbezogene Handlung: Die gemes- senen Werte sind nur aussagekräftig im Ver- gleich – mit gesellschaftlichen Normen (zum Beispiel Normalgewicht), mit offiziellen Emp- fehlungen (wie der Lebensmittelpyramide der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung) oder mit den Werten anderer Self-Tracker.

Die Sorge um sich

Die Quantified-Self-Anhänger führen ihre Sammelleidenschaft auf den Wunsch nach Selbstermächtigung zurück. So fordert zum Beispiel Gary Wolf, Journalist und Mitbegrün- der der QS-Bewegung, das «Recht auf den eige- nen Datenhaufen» ein. Aber wo ist die Grenze zwischen eigenständigem Handeln und inter- nalisierter Anpassungsleistung an die gesell-

schaftliche Norm? Ich trage selbst dafür Sorge, dass ich ein leistungsfähiges Subjekt der Ar- beitsgesellschaft bleibe. Ausgestattet mit einem EEG-Headset, das meine Gehirnaktivität misst, mit einem Stimmungsbarometer – auch das gibt es – und mit einer intelligenten Körperwaage.

Der Umkehrschluss bedeutet nichts ande- res, als dass, wer krank wird, sich nicht genü- gend um sich gekümmert hat. Die Autorin und Quantified-Self-Kritikerin Julie Zeh schreibt in ihrem Artikel «Der vermessene Mann»: «Schon jetzt freut sich das überforderte Gesundheits- system darauf, Quantified Self zu einer allge- meinen Verpflichtung zu erheben, um auf die- ser Grundlage Versicherungsleistungen nach dem Selber-schuld-Prinzip zu verweigern.»

Wenn es einen optimalen Lebensstil gebe, der zum optimalen Körper führe, so Zeh, gebe es auch messbare Abweichungen, an die sich Be- lohnung und Strafe knüpfen liessen.

Ohne dem Individuum ein gewisses Mass an Selbstbestimmungsfähigkeit absprechen zu wollen, so ist sein Handeln dennoch ein gesell- schaftliches Handeln, es sei denn, sie oder er lebt als Einsiedlerin oder Selbstversorger. Es orientiert sich an Normen. Besonders heute, wo Quantified Self treibt die kostenlose Selbstpreisgabe gewissermassen auf die Spitze. Seine Anhänger ergänzen mit dem Austausch ihrer Körperwerte jene Lücken, die in ihren Profilen vielleicht bisher noch existierten. Bild: Fotolia

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Nathalie baumann ist Historikerin und arbeitet am Institut für Wirtschaftsin- formatik der Hoch- schule für Wirt- schaft FHNW in den Bereichen Kommu- nikation und Wei- terbildung

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wir eine Vernetzung in allen Lebensbereichen vorfinden, wie es sie nie zuvor gab. Was ein zu sich Sorge tragendes Individuum ist und wie man ein «richtiges» Leben führt, das definiert nicht jeder für sich, sondern wird gesellschaft- lich verhandelt. Vor diesem Hintergrund prä- sentieren sich die umfangreichen Selbstver- messungstätigkeiten, die mit anderen geteilt werden, in einem ganz anderen Licht.

Für alle verfügbar

Die Quantified-Self-Bewegung ist vergleichs- weise jung. Als «Gründungsmanifest» gilt die bereits zitierte Website Quantifiedself.com, die 2007 von den Journalisten Gary Wolf und Kevin Kelly aufgeschaltet wurde. Für Wolf ist Quanti- fied Self «wie eine Art Spiegel, um sich selbst darin zu erkennen und zu verbessern.» Unwei- gerlich denkt man dabei an «Erkenne Dich selbst», den berühmten Orakelspruch zu Del- phi. Ein Fingerzeig an die Menschen, sich selbst nicht zu überschätzen, sich ihrer Gren- zen bewusst zu sein. Das ist gleichsam die Ge- genthese zum Menschen im digitalen Zeitalter, der, mit immer neuen Technologien ausgestat- tet, beständig über seine biologischen Grenzen hinauswächst.

Quantified Self wurde erst dadurch mög- lich, dass heute viele Messgeräte nicht mehr Ärzten vorbehalten, sondern zu einem er- schwinglichen Preis für alle verfügbar sind. In dieser Entwicklung möchte man nun gerne eine Selbstermächtigungstendenz erkennen:

Die Körpermessdaten und ihre Auswertung sind nicht mehr das Privileg des Arztes. Damit verfügt er auch nicht mehr die ausschliessliche Definitionsmacht darüber, was gesund und was krank ist. Aber wer hat sie dann? Wie geht ein Laie mit selbst erhobenen Datenreihen um?

Wie interpretiert er sie?

Zur Orientierungshilfe und Handlungsan- leitung werden das Wissen und die Meinungen der Community, in der man sich bewegt. Ob der interessierte Laie dadurch unabhängiger und selbstbestimmter wird, ist zu bezweifeln.

Angesichts des kakophonen Stimmengewirrs über Gesundheitsthemen wohl eher desorien- tierter.

Stärkung der Prävention

Auf der einen Seite ist die zunehmende Ten- denz zur Selbstvermessung zu beobachten, auf der anderen nehmen die Bestrebungen von Unternehmen zu, auch Daten über das Innere unseres Körpers zusammenzutragen – mit der erhabenen Absicht, den medizinischen Fort- schritt zu beschleunigen. So arbeitet Google derzeit an einem neuen Projekt namens «Base- line», in dessen Rahmen die genetischen und molekularen Informationen von 175 Personen anonym gesammelt werden. Ziel des Projekts ist die Früherkennung von tödlichen Krankhei- ten und die Stärkung der Prävention.

Vom Präventionsgedanken inspiriert sind auch Unternehmen und Institutionen, die ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Wearables

zur Verfügung stellen, damit sie ihre tägliche Schrittzahl erfassen können. Selbstverständ- lich auf freiwilliger Basis. Es fragt sich nur, wer zurückstehen wird, wenn die meisten in einem Team sich dafür entscheiden, mitzumachen.

Die Wirksamkeit von Gruppenzwang wird oft unterschätzt. Hier trifft der Trend der Selbstver- messung auf heute übliche Massnahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements.

«Die Daten über uns sind das Erdöl des 21. Jahrhunderts», schreibt der Wirtschaftsjour- nalist Hannes Grassegger, der jüngst mit sei- nem Buch «Das Kapital bin ich» für Aufmerk- samkeit sorgte. Darin fordert er, dass wir unse- re Daten schützen und verkaufen sollten, an- statt sie gratis preiszugeben. Wennschon, dennschon. Quantified Self treibt die kostenlo- se Selbstpreisgabe gewissermassen auf die Spit- ze. Seine Anhänger ergänzen mit dem Aus- tausch ihrer Körperwerte jene Lücken, die in ihren Profilen vielleicht bisher noch existierten.

Quantified Self wird die eine oder den an- deren dazu motivieren, sich mehr zu bewegen oder weniger zu essen. Das sei hier gar nicht bestritten. Bezweifelt wird vielmehr, dass es sich hierbei um eine wirksame Technologie zur Selbsterkenntnis handelt. Ich delegiere die Sor- ge um mich an intelligente Geräte, dir mir sa- gen, was zu welcher Zeit gut für mich ist. Das alles läuft unter dem Label von Selbstsorge und Selbstermächtigung, fördert aber eher konfor- mistisches Verhalten, anstatt Autonomie und die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit.

Was ein zu sich Sorge tragendes Individuum ist und wie man ein «richtiges» Leben führt, das definiert nicht jeder für sich, sondern wird gesellschaftlich verhandelt. Bild: Fotolia

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