Einleitende Überlegungen für Enquete-Kommission Niedersächsischer Landtag
Reinhard Busse, Prof. Dr. med. MPH
FG Management im Gesundheitswesen, Technische Universität Berlin (WHO Collaborating Centre for Health Systems Research and Management)
&
European Observatory on Health Systems and Policies
6,2
2,5
7,6 -20%
6,3
2,8
-55%
5,3
3,8
-30%
4,3 -45%
2,4
-45%
+ 45%
+ 65%
und i.V. steigende Bettendichte …
Deutschland: Die im internationalen Vergleich hohe
2,2
-50%
+ 180%
+ 50%
4,6
17,8 23,6
+33%
17,0 15,5
10,8
-30%
13,1
-23%
15,3 15,6
13,9
-17%
16,8 15% +
+ 50%
… führt zu hohen und steigenden
Fallzahlen …
Durchschnittliche jährliche Veränderung der Fallzahlen
Zur Erinnerung:
durchschnittlich 1,7%
Unsere Fallzahlen steigen fast überall,
aber doch regional unterschiedlich (2007-2012) …
Schreyögg J, … Busse R … (2014): Forschungsauftrag zur Mengenentwicklung nach § 17b Abs. 9 KHG.. Hamburg/ Berlin
Durchschnittliche jährliche Veränderung der Fallzahlen
… u.a. signifikant in Nord-Niedersachsen (hier nach
Berücksichtigung Änderungen Altersstruktur, Morbidität …)
Schreyögg J, … Busse R … (2014): Forschungsauftrag zur Mengenentwicklung nach § 17b Abs. 9 KHG.. Hamburg/ Berlin
+/- 10%
+/- 15%
Aber auch im ambulanten Sektor sehen wir überdurch-
schnittlich viele Fälle … Deutschland ist generell überversorgt
Berlin
Hamburg Baden-
Württemberg
Brandenburg
Sachsen-Anhalt Sachsen
Thüringen
Saarland
Bayern HessenRheinland-
Pfalz
NRW
Amb ulan te Arz tk on tak te G KV / V er sic he rt en (2 00 7)
Stationäre Fälle/ 100 Einw. (2017) Mecklenburg-
Vorpommern
19,7 21,4 23,5 30,9
Bremen
Niedersachsen Schleswig-
Holstein
15,3 17,1 17,3 18,9
Verhindert unser (großer) ambulanter Sektor zumindest
Krankenhausfälle aufgrund “ambulant-sensitiver Diagnosen?
NEIN!
5,5x so viele wie in Italien,
2x so viele wie in Dänemark,
1,5x so viele wie in Frankreich
2017 2015
2015
2015
2016 2015
2015 2015
2016
50 60 70 80 90 100 110 120
2.000 2.250 2.500 2.750 3.000 3.250 3.500 3.750 4.000 4.250 4.500 4.750 5.000 5.250 5.500 5.750 6.000 6.250 6.500 6.750 7.000 7.250 7.500 7.750 8.000
Vermeidbare Sterblichkeit, alle Personen, 0-74 Altersstandardisierte Raten je 100.000
Gesundheitsausgaben, gesamt, US$ PPP, pro Kopf
Österreich Dänemark Frankreich Deutschland Niederlande UK Schweiz Belgien Schweden
Datenquelle: Eigene Darstellung basierend auf den Quellen: Vermeidbare Sterblichkeit, alle Personen (0-
74 Jahre), SDR pro 100.000 Einwohner: WHO detailed mortality files, veröffentlicht im Dezember 2018, Diagnosen für vermeidbare Sterblichkeit basieren auf der Krankheitsliste nach Nolte &
McKee, 2004;
zusammengestellt von:
Marina Karanikolos, European Observatory on Health Systems and Policies (2019).
Gesundheitsausgaben:
Laufende Gesundheitsausgaben (Alle Finanzierungssysteme, alle Leistungserbringer, Pro-Kopf, aktuelle Preise, US$, aktuelle PPPs); Quelle: OECD Health Statistics, Datenzugriff am 09.01.2019.
Das deutsche Gesundheitssystem wird teuer, aber nicht besser – und fällt i.V. zu Nachbarn immer weiter zurück: Ausgaben pro
Kopf vs. “vermeidbare Sterblichkeit”, letztverfügbare 10 Jahre
Besser
Teurer Deutschland
Schweiz
Dänemark
Natürlich müssen wir die ambulante Versorgung verbessern
(durch Stärkung Hausärzte,
Verbesserung Notdienste, Delegation an andere Berufsgruppen …),
aber so lange wir den stationären
Sektor nicht radikal umbauen, wird
das kaum etwas nützen!
Zurück zum stationären Sektor und seinen drei, miteinander verzahnten Problemen:
(1) unangemessen viele Patienten, die oft gar keine stationäre Behandlung brauchen &
(2) zu einer niedrigen Personalzahl pro Patient führen;
(3) notwendige stationäre Fälle verteilen sich über zu viele personell und technisch nicht
adäquat ausgestattete Krankenhäuser
Stationäre Fälle
Eingewiesene Patienten insgesamt:
9,4 Mio. (55%)
„Notfälle“:
6,6 Mio. (38% der Fälle)
NOT- AUFNAHME
12,6 Mio. 50%
KV-
NOTDIENST
Notfälle: 24,9 Mio.
50% 50%
12,3 Mio.
50%
Nach Hause: 18,3 Mio.
In anderen Ländern
22-33%
(1) Woher kommen die vielen Patienten?
Immer häufiger über die Notaufnahmen (2009)
Erweitert nach: Geissler A, Quentin W, Busse R (2017): Umgestaltung der Notfallversorgung: Internationale Erfahrungen und Potenziale für Deutschland. In: Klauber J, GeraedtsM, Friedrich J, Wasem J (Hrsg.) Krankenhausreport 2017: Schwerpunkt Zukunft gestalten. Stuttgart: Schattauer, S. 41-59 & WahlsterP, CzihalT, GibisB, Henschke C (2018). Sektorenübergreifende Entwicklungen in der Notfallversorgung –Eine umfassende Analyse ambulanter und stationärer Notfälle von 2009 bis 2015. Das Gesundheitswesen
Stationäre Fälle
Eingewiesene Patienten insgesamt:
8,9 Mio. (47%)
„Notfälle“:
8,5 Mio. (45% der Fälle)
NOT- AUFNAHME
16,9 Mio.
KV-
NOTDIENST
Notfälle: 27,4 Mio.
60% 40%
10,5 Mio.
50%
Nach Hause: 18,9 Mio.
50%
In anderen Ländern
22-33%
(1) Woher kommen die vielen Patienten?
Immer häufiger über die Notaufnahmen (2015)
Erweitert nach: Geissler A, Quentin W, Busse R (2017): Umgestaltung der Notfallversorgung: Internationale Erfahrungen und Potenziale für Deutschland. In: Klauber J, GeraedtsM, Friedrich J, Wasem J (Hrsg.) Krankenhausreport 2017: Schwerpunkt Zukunft gestalten. Stuttgart: Schattauer, S. 41-59 & WahlsterP, CzihalT, GibisB, Henschke C (2018). Sektorenübergreifende Entwicklungen in der Notfallversorgung –Eine umfassende Analyse ambulanter und stationärer Notfälle von 2009 bis 2015. Das Gesundheitswesen
Und was für Diagnosen haben die stationären Patienten?
Insbesondere ambulant behandelbare Diagnosen … deutlich mehr als in Dänemark oder dem EU12-Schnitt
Darstellung nach: Busse R, Berger E (2018) Vom planerischen Bestandsschutz zum bedarfsorientierten Krankenhausangebot? In: Klauber J, GeraedtsM, Friedrich J, Wasem J (Hrsg.) Krankenhausreport 2018: Schwerpunkt Bedarf und Bedarfsgerechtigkeit. Stuttgart: Schattauer, S.149-170
Angina
Pectroris Bronchitis &
COPD Diabetes Gonarthrose Herzinsuffi-
zienz Hypertonie Katarakt Rückenschmer- zen
DK -68 -26 -58 -39 -74 -85 -97 -78
EU 12 -61 -37 -56 -23 -55 -78 -61 -73
-100 -80 -60 -40 -20 0
Reduktion in %
Mögliche Fallzahlreduktion in Deutschland bei Angleich an die Fallzahlen in Dänemark oder den EU 12-Mittelwert (2016)
Eigene Darstellung nach IGES 2019, basierend auf OECD Health Statistics; Gonarthrose EU 12: Basierend auf 11 Ländern
Lesehilfe:
Wir haben 30x (!) so viele stationäre Fälle wie in Dänemark!
Lesehilfe:
Wir haben 4x (!) so viele stationäre Fälle wie in Dänemark!
Lesehilfe:
Wir haben
„nur“ 1,3x so viele stationäre Fälle wie in Dänemark!
Lesehilfe:
Wir haben
> doppelt so viele stationäre Fälle wie in Dänemark!
Lesehilfe:
Wir haben
7x (!)
so viele
stationäre
Fälle wie in
Dänemark!
(2) Trotz überdurchschnittlicher Personalzahlen pro 1.000 Einwohner: viele Fälle = zu wenig Personal am Krankenbett (2006)
AU BE
CZ
DK
EST FR
DE HU
IRL NL
SVK
CH
AU BE*
CZ
DK
EST FR
DE
HU
IRL
NL
SVK
CH
0 10 20 30 40 50
0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20
Pf le ge fach kr äf te in kl . He bamme n p ro 1000 Fäl le
Ärzte pro 1000 Fälle
2006 2015
x 2,0
x2,2
(2) Trotz überdurchschnittlicher Personalzahlen pro 1.000 Einwohner: viele Fälle = zu wenig Personal am Krankenbett (2015)
AU BE
CZ
DK
EST FR
DE HU
IRL NL
SVK
CH
AU BE*
CZ
DK
EST FR
DE
HU
IRL
NL
SVK
CH
0 10 20 30 40 50
0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20
Pf le ge fach kr äf te in kl . He bamme n p ro 1000 Fäl le
Ärzte pro 1000 Fälle
2006 2015
x2,7
x 2,4
(2) … obwohl wir über durchschnittlich viel Personal pro 1.000 Einwohner haben
OECD/European Observatory on Health Systems and Policies (2017), Deutschland: Länderprofil Gesundheit 2017, State of Health in the EU. OECD Publishing, Paris/ European Observatory on Health Systems and Policies, Brussels
Verteilung der Fälle mit Herzinfarkt in einer NRW-Versorgungsregion auf 36 von 38 Krankenhäuser (2016)
Verteilung der Fälle mit Schlaganfall in einer NRW-Versorgungsregion auf 37 von 38 Krankenhäuser (2016) Krebsfälle bundesweit in % (2015)
Busse R, Berger E (2018): Weniger (Standorte, Betten und Fälle) ist mehr (Zugang, Qualität und Ergebnisse) – Standpunkte der Gesundheitsökonomie. In: JANSSEND, AUGURSKYB(Hrsg.): Krankenhauslandschaft in Deutsch- land: Zukunftsperspektive –Entwicklungstendenzen – Handlungsstrategien. Stuttgart: Kohlhammer, S. 99-114
(3) Trotz Zentren & Stroke Units:
Viele Patienten werden in
X-beliebigen Krankenhäusern
behandelt (und oft auch nicht verlegt)
Computer- Kein Tomograph:
449 (34%) 56% 50%
39%
42% 41%
Keine Koronar- angiographie:
805 (61%) 64%
67% 66%
63%
66%
Stat. Bundesamt, Fs. 12, Reihe 6.1.1, 2018
(3) Aber viele Krankenhäuser sind strukturell ungeeignet
(Basis: 1329 Allg. Plan-Krankenhäuser 2017)
Nimptsch U, Mansky T (2017): Hospital volume and mortality for 25 types of inpatient treatment in German hospitals: observational study using complete national data from 2009 to 2014 BMJ Open 2017;7:e016184. doi: 10.1136/bmjopen-2017-016184
-27% -31%
763 KHs. mit durchschnittlich
<50 Pat./ Jahr
54 KHs. mit durchschnittlich
~ 600 Pat./ Jahr
492 KHs. mit durchschnittlich
~ 20Pat./ Jahr
71 KHs. mit durchschnittlich
~ 140Pat./ Jahr -20% -26%
RESULTAT: Auch bei unumstrittenen Fällen gibt es große Qualitätsunterschiede im Abhängigkeit von den Fallzahlen
Sterblichkeit
Lesehilfe: angegeben sind Zahlen für Bund; für Niedersachsen dürften sie bei jeweils 1/10 liegen (d.h. es sind 76 Kh. zu erwarten, die durchschnittlich
<50 Fälle mit Herzinfarkt behandeln)
Das dürfte auch unsere schlechte Position im internationalen Vergleich
erklären!
Platz 24 /34 -50%
Ggü. etwa
Dänemark
hängen wir 10
Jahre hinterher
(und 4%-Punkte
sind 7.000 Tote)!
Platz
9/32 Dänemark hat
uns seit 2010/11 deutlich
überholt!
Platz 4/32
-25%
0 2 4 6 8 10
2006 2007 2008 2009 2010 2011 2013 2015
30- Tage Sterblichkeit nach Aufnahme bei ischämischem Schlaganfall (je 100 Patienten, verfügbare Datenjahre)
Dänemark Deutschland
Quelle: eigene Darstellung, basierend auf OECD Health Statistics 2018, Dataset: Health Care Quality Indicators; Anmerkungen: alters- und geschlechtsstandardisierte Rate, ab 45 Jahre
Sterblichkeit an ischämischem
Schlaganfall im Krankenhaus
Platz 9/22
Dänemark war vor 10 Jahren schon besser als
wir heute!
Platz 2/22
Initiierung der Op nach
Oberschenkelhalsfraktur
5-Jahres-Überleben bei Krebs: Dänemark holt stark auf/ überholt
+2,1% +0,3% +0,4% +1,2% +0,5% +8,9% +6,7% +6,4% -2,9% +5,5%
2007/09 Einführung nationaler Krebs-Leitlinien und Zentralisierung der Versorgung (für Ovar-Ca z.B. auf jetzt 4 Kh.) +5,8% +6,5% +6,6% +22% +8,4% +11,9% +13,2% +10,7% +9,7% +3,6%
8 : 2
5 : 5
4 : 6
Qualitätsvariation: bei relevanten Outcomes (z.B. Re-Ops, 30-Tage-Mortalität) steigen die Unterschiede
Pross C, Busse R, Geissler A (2017): Hospital quality variation matters - a time-trend and cross- section analysis of outcomes in German hospitals from 2006-2014. Health Policy 121(8): 842-852
>1100 Kh.
>1200 Kh.
>1100 Kh.
>1100 Kh.
1000 Kh.
Wir haben die Wahl (hier am Beispiel der Herzinfarktversorgung):
Kleine, schlechte Krankenhäuser „um die Ecke“ oder größere mit höherer Qualität ein paar Minuten weiter weg!
Grundlage: ca. 500 Patienten mit Herzinfarkt in Deutschland
(+ 100 Verlegungen; in Niedersachsen ca. 50!) = 1 Patient/ 160.000 Einwohner Wir haben fast 1200 Krankenhäuser, in denen Patienten mit Herzinfarkt
behandelt werden, d.h. im Schnitt 0,4/ Tag (= 3/ Woche = 150/ Jahr)
dafür lohnt sich keine Kardiologie oder keine Koronarangiographie Grundüberlegung: je mehr Patienten in technisch und personell gut
ausgestatteten Krankenhäuser, desto besser!
Ca. 2/3 der Kh.
>20% der Patienten Keine geeignete
technische und personelle Ausstattung
Zumeist < 20min. < 30min. Ggf. länger (< 45min.)
Ca. 30% der Kh.
Ca. 60% der Patienten Geeignete technische
Ausstattung, aber
Fachärzte nur in Bereitschaft
<5% der Kh. in DE/ 100% in DK
<20%/ 100% der Patienten Geeignete technische
Ausstattung, Fachärzte 24/7 10 min.
Assistenzarzt
<30 min. Oberarzt (Rufbereitschaft)
Entscheidung zur Verlegung
Ca. 30 min. Verlegung (aber ggf. zu spät für adäquate Therapie) Qualitativ
schlechte Therapie
10 min.
Assistenzarzt
<30 min. Oberarzt (Rufbereitschaft)
Adäquate Therapie
10 min.
Facharzt Adäquate
Therapie
Eigene Darstellung
Sterblichkeit nachts/ am
Wochenende + 60% + 40% + 90%
Warum ist 24/7-Anwesenheit von Personal so wichtig?
(hier Daten des Berliner Herzinfarkt-Registers 2004-2007)
Maier B, Behrens S, Graf-Bothe C et al. (2010) Time of admission, quality of PCI care, and outcome of patients with ST-elevation myocardial infarction. Clin Res Cardiol 99: 565–72
<5% der Kh.
<20% der Patienten Geeignete technische
Ausstattung, Fachärzte 24/7
10 min.
Facharzt Adäquate
Therapie
Ca. 2/3 der Kh.
>20% der Patienten Keine geeignete
technische und personelle Ausstattung
Zumeist < 20min. < 30min. Ggf. länger (< 45min.)
Ca. 30% der Kh.
Ca. 60% der Patienten Geeignete technische
Ausstattung, aber
Fachärzte nur in Bereitschaft
<5% der Kh.
<20% der Patienten Geeignete technische
Ausstattung, Fachärzte 24/7 10 min.
Assistenzarzt
<30 min. Oberarzt (Rufbereitschaft)
Entscheidung zur Verlegung
Ca. 30 min. Verlegung (aber ggf. zu spät für adäquate Therapie) Qualitativ
schlechte Therapie
10 min.
Assistenzarzt
<30 min. Oberarzt (Rufbereitschaft)
Adäquate Therapie
10 min.
Facharzt Adäquate
Therapie
Eigene Darstellung