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STEUERGERECHTIGKEIT WAS WIR DAFÜR TUN KÖNNEN

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S TEUERGERECHTIGKEIT

W AS WIR DAFÜR TUN KÖNNEN

(2)

„Wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Werth mehr, daß

Menschen auf Erden leben.“

Immanuel Kant

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) 3. Aufl., Leipzig 1919, S. 159.

(3)

Inhalt

EINLEITUNG 7

TEIL I: DIE AUSGANGSSITUATION 15

1. Eine „Meisterleistung an Verschleierungskunst“ 15 2. „Der gesetzmäßige und gleichmäßige Vollzug der Steuergesetze ist

nicht mehr gewährleistet“

20

3. Die „Dummensteuer“ 27

3.1 Der Satz des Pythagoras 27

3.2 Unverdientes Vermögen 29

3.3 Eine Liste an Absurditäten 34

TEIL II: FUTURE – MADE BY HISTORY 38

1. Steuern im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit 39 2. Steuerrechtfertigung und Steuergerechtigkeit bis zur Mitte des

17. Jahrhunderts 40

3. Die Entwicklung der Steuergerechtigkeitsideen und -prinzipien von

Mitte des 17. bis Ende des 18. Jahrhunderts 41

4. Die neue Grundlagenphilosophie von 1789 und die Versuche ihrer Verwirklichung in den Steuerordnungen der deutschen Staaten 46 5. Die Entwicklung der Steuergerechtigkeitsideen und -prinzipien ab

Mitte des 19. Jahrhunderts und ihre Realisierung in den Steuer-

reformen bis in das frühe 20. Jahrhundert 48

6. Die Anpassung des Steuerrechts in der Weimarer Republik 51 7. Die Steuerpolitik als Mittel zur Durchsetzung der nationalsozialis-

tischen Ziele 55

8. Die wesentlichen Entwicklungen seit dem 16./17. Jahrhundert 58

(4)

TEIL III: EIN STEUERGERECHTIGKEITSKONZEPT ALS NOR- MATIVER MASSSTAB

62

1. Steuergerechtigkeit durch Gleichbelastung 62

2. Steuergerechtigkeit durch sachgerechte Prinzipien 63 2.1 Der Grundsatz der Allgemeinheit der Besteuerung 64 2.2 Der Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung 65 2.3 Das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit 66 3. Der Grundsatz der steuerlichen Umverteilung von Einkommen und

Vermögen 68

TEIL IV: VERFASSUNGSRECHTLICHE GRUNDLAGEN 70 1. Zum Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung 73 2. Zum Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit 76

2.1 Verfassungsrechtliche Begründung des Leistungsfähigkeits-

prinzips 76

2.2 Zulässigkeit progressiver Besteuerung 77

2.3 Die Berücksichtigung der persönlichen Lebensbedingungen 78 3. Zum Grundsatz der steuerlichen Umverteilung von Einkommen und

Vermögen

79 3.1 Umverteilung mithilfe eines progressiven Einkommensteuer-

tarifs 80

3.2 Umverteilung durch die Besteuerung des Vermögens 80 3.3 Umverteilung durch Erbschaftsteuerbelastung 81

TEIL V: DIE STEUERPOLITIK IN DER BUNDESREPUBLIK

DEUTSCHLAND 84

1. Die Steuerpolitik in der Wiederaufbauphase ab 1948 85 2. Das Keynesianische Konzept der Globalsteuerung ab 1967 87

3. Neoklassisch-liberale Steuerpolitik ab 1982 88

4. Wiedergeburt der antizyklischen Finanz- und Steuerpolitik nach 2009 90

(5)

TEIL VI: REFORMVORSCHLÄGE UND REFORMPERSPEKTI-

VEN 92

1. Steuern auf das Einkommen und Vermögen 93

1.1 Reformvorschläge und Perspektiven zur Besteuerung des Ein-

kommens 93

1.1.1 Reformmodelle zur Besteuerung von Einkommen 93 1.1.2 Reformmodelle zur Verwirklichung der Rechtsform-

neutralität der Unternehmensbesteuerung 97 1.1.2.1 Reformvorschläge bei Aufgabe des dualen

Systems 98

1.1.2.2 Reformvorschläge bei Beibehaltung des dua-

len Systems 101

1.1.2.3 Die Reform der Kommunalsteuern 103 1.1.3 Das „Bundessteuergesetzbuch“ von Paul Kirchhof 104 1.1.3.1 Der Reformvorschlag von Paul Kirchhof 104 1.1.3.2 Kritische Würdigung zum Reformvorschlag

der Steuern auf das Markteinkommen 107 1.1.4 Die Ertragsteuerreform der Kommission „Steuergesetz-

buch“ 115

1.1.4.1 Der Reformvorschlag der Kommission

„Steuergesetzbuch“ 115

1.1.4.2 Kritische Würdigung 118

1.2 Reformvorschläge und Perspektiven der Erbschaft- und

Schenkungsteuer 123

1.3 Dogmengeschichte und Perspektiven der Besteuerung des Ver-

mögensbestandes 129

1.3.1 Vermögensteuer 129

1.3.2 Grundsteuer 136

(6)

2. Steuern auf die Verwendung von Einkommen und Vermögen 140

2.1 Reformvorschläge zur Umsatzsteuer 140

2.1.1 Reformansätze zum geltenden Recht 140

2.1.2 Europarechtliche Vorgaben 145

2.2 Besondere Verkehr-, Verbrauch- und Aufwandsteuern 148

2.2.1 Besondere Verkehrsteuern 148

2.2.2 Besondere Verbrauch- und Aufwandsteuern 150 3. Ursachen für den Reformstau und Reformperspektiven 153

3.1 Ursachen für den Reformstau 153

3.2 Reformperspektiven 158

TEIL VII: AUSWIRKUNGEN DES STAATENWETTBEWERBS

AUF DIE STEUERGERECHTIGKEIT 163

1. Privilegierte Besteuerung mobiler Einkünfte 164

2. Internationale Steuergestaltung 166

2.1 Die Unterkapitalisierungsmethode 166

2.2 Gewinnverlagerungen mithilfe der Nutzung von Patenten,

Marken oder Urheberrechten 166

2.3 Manipulationen durch interne Verrechnungspreise 167

3. Internationale Steuerhinterziehung 168

4. Reformvorschläge und Reformperspektiven 174

FAZIT: STEUERGERECHTIGKEIT JETZT! 179

1. Die Vorrangstellung der Steuergerechtigkeit 180

2. Die Vorrangstellung der Politik 182

Literaturverzeichnis 185

(7)

EINLEITUNG

Bereits im Jahre 1808 veröffentlichte der Heidelberger Professor Heinrich Eschenmayer sein damals Aufsehen erregendes Werk „Vorschlag zu einem einfachen Steuer-Systeme“, mit dem er die „Finanz-Regierung“ auf die Willkür und Zufälligkeit des Steuersystems seiner Zeit aufmerksam machen wollte.1 Und zweihundert Jahre später, im Jahr 2010, ist es wieder ein Professor aus Heidelberg, der ehemalige Verfassungsrichter Paul Kirchhof, der beklagt: „Ich kann ein Recht nicht als gerecht verstehen, wenn ich das Recht nicht verstehe.“2

Es sind aber nicht nur Professoren, die die mangelnde Gerechtigkeit des Steuerrechts beklagen, es sind im Grunde genommen alle Bundesbürger/innen, die ihren steuerlichen Verpflichtungen nachkommen müssen. Der Ruf nach einer durchgreifenden Vereinfachung des Steuerrechts wird überall laut. Selbst der Bundesrechnungshof, der die Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes prüft und im Rahmen seiner gesetzlichen Aufgaben den Deutschen Bundestag, den Bundesrat und die Bundesregierung bei ihren Entscheidungen unterstützt, stellte bereits im Jahr 2006 fest: „Der gesetzmäßige und gleichmäßige Vollzug der Steuergesetze ist nicht mehr gewährleistet.“3 (Teil I)

Was ist passiert? Wie konnte es so weit kommen, dass der Bundesrechnungshof als oberste Bundesbehörde und als unabhängiges Organ der Finanzkontrolle feststellt, dass es wegen der komplizierten und sich ständig ändernden Steuer- gesetzgebung selbst den zuständigen Sachbearbeitern kaum mehr möglich sei, sich einen Überblick über die jeweils geltende Rechtslage zu verschaffen?4

Schauen wir zunächst einmal in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zurück.

Die wachstumsorientierte Steuerpolitik der Nachkriegsjahre diente dem Wieder- aufbau der weitgehend zerstörten wirtschaftspolitischen Ordnung. Da der Gesetz- geber laut Abgabenordnung – „die Erzielung von Einnahmen kann Nebenzweck

1 Eschenmayer, Philipp Christoph Heinrich: Vorschlag zu einem einfachen Steuer-Systeme, Heidel- berg 1808.

2 Kistenfeger, Hartmut: Ein irrer Aufwand, in: Focus 31, 02.08.2010, auf:

http://www.focus.de/finanzen/steuern/wirtschaft-ein-irrer-aufwand_aid_536813.html (letzter Zugriff: 19.02.2017).

3 Bünder, Helmut: Rechnungshof will Radikalreform im Steuersystem. Steuergerechtigkeit ist nicht mehr gewährleistet. Mehr Kompetenzen für den Bund, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.08.2006, S. 9.

4 Ebd., S. 9.

(8)

sein“5 – die Möglichkeit hat, außerfiskalische Zwecke zu verfolgen, war der Staatszweck, dem das Steuerrecht jetzt angepasst wurde, Lenkung und Steuerung;

das Ziel der Umverteilung von Einkommen und Vermögen rückte in den Hintergrund. Die steuerlichen Anreize trugen zu einer Belebung der Wirtschaft bei, führten jedoch zu einer wachsenden Ungerechtigkeit bei der Einkommens- und Vermögensverteilung. In den folgenden Jahrzehnten wurde das deutsche Steuer- recht durch eine Fülle von Bevorzugungs- und damit zwangsläufig auch Benachteiligungssachverhalten erweitert, sodass es zu einem undurchschaubaren Dickicht wurde. In den meisten Fällen waren Beweggründe ebenso wie Effekte steuerlicher Ungleichbehandlung wirtschafts- und sozialpolitischer Natur, die den Fundamentalprinzipien der Besteuerung, dem Grundsatz der Gleichmäßigkeit und dem Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit widersprechen.

Um zu verstehen, wie es zu solch einer Entwicklung kam, in der der fiskalische Zweck, Steuern zu generieren, nicht mehr der allein bestimmende Faktor war, müssen wir in die Zeit bis zur Entstehung des Steuerrechts im 16. und 17. Jahr- hundert zurückblicken.6 Der Nationalökonom Wilhelm Roscher stellte schon 1863 fest: „Wer die Gegenwart seiner Wissenschaft recht verstehen und ihre Zukunft beherrschen will, der muss ihre Vergangenheit kennen.“7

Steuergerechtigkeitsverständnis und -empfinden sind nichts Absolutes. Sie unterliegen einem evolutionären Prozess, sind abhängig von Raum und Zeit, von Situation und Milieu und auch von gesellschaftlichen Verhältnissen einer Epoche.8 Steuergerechtigkeit wurde immer auf die Frage bezogen, nach welchem Maßstab festgelegt werden sollte, wie hoch der Anteil des Einkommens, Vermögens oder Konsums sein soll, den der Einzelne als Steuer abzuführen hat. Diese Frage wurde im Laufe der Geschichte jedoch selten anhand von Gerechtigkeitsüberlegungen beantwortet, sondern meist aufgrund der jeweiligen Macht- und Interessen- konstellationen gelöst.

5 § 3 Abs. 1 Halbsatz 2 der Abgabenordnung.

6 Vgl. hierzu die Dissertation des Autors, die im SpringerGabler Verlag erschienen ist: Sahm, Reiner: Theorie und Ideengeschichte der Steuergerechtigkeit. Eine steuertheoretische, steuerrechtliche und politische Betrachtung, Wiesbaden 2019. Große Teile des vorliegenden Buches gehen auf diese Arbeit zurück, in der sich weitere Belege zu den hier gemachten Ausführungen finden.

7 Roscher, Wilhelm: Ein grosser Nationalökonom des vierzehnten Jahrhunderts, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 19 (1863), S. 305–318, S. 305.

8 Tipke, Klaus: Die Steuerrechtsordnung, Bd. 1: Wissenschaftsorganisatorische, systematische und grundrechtlich-rechtsstaatliche Grundlagen, 2. völlig überarbeitete Aufl., Köln 2000, S. 241.

(9)

Bereits im 17. Jahrhundert hat der englische Philosoph Thomas Hobbes die wichtige finanzpolitische Beobachtung gemacht, dass die Menschen sich weniger durch die Steuerlast als solche, als vielmehr durch ihre ungleichmäßige Verteilung bedrückt fühlen.9 Die für die Verwaltung zuständigen hohen Beamten der deutschen Fürsten, die Kameralisten, haben in Kenntnis dieses Sachverhalts ab der Mitte des 17. Jahrhunderts die Fundamentalprinzipien der Allgemeinheit, der Gleichmäßigkeit und der Leistungsfähigkeit entwickelt, um den Inhalt und die Grenzen der staatlichen Rechte zu bestimmen. Mit dem Prinzip der Allgemeinheit forderten sie eine Besteuerung ohne Ansehung der Person, und mit dem Gebot der Gleichmäßigkeit, dass alle Bürger nach gleichen in ihrem Verhältnis zum Staat begründeten Maßstab belastet werden sollten. Es waren auch die großen Autoren der Aufklärung, die mit der Besteuerung nach der individuellen Leistungsfähigkeit ein eigenständiges Prinzip ausformulierten und mit den Vorschlägen der Steuer- progression und der Freilassung des Existenzminimums allgemeine Akzeptanz in der Öffentlichkeit gefunden haben. (Teil II)

Diese in den vergangenen Jahrhunderten entwickelten Prinzipien der Besteue- rung sind bis heute gültig und haben nach Ansicht von Wissenschaftlern eine Reife erreicht, denen an Umfang, Sorgfalt und Tiefe nichts Vergleichbares gegenüber- steht. Sie sind von besonderer Bedeutung für die Rechtsakzeptanz des Steuerrechts und erhöhen auf diese Weise die Rationalität des Besteuerungsprozesses.

Der deutsche Staatsrechtler und Staatsphilosoph Josef Isensee betont:

Mit der Gleichheit steht und fällt die Steuer. Da sie sich nun einmal nicht aus individuellem Interesse der Betroffenen rechtfertigen läßt, sondern allein aus dem Interesse der Allgemeinheit, akzeptiert sie der Bürger nur, wenn die Last alle nach gleichen Bedingungen trifft. Die allgemeine Lastengleichheit aber wird nur gewährleistet, wenn die jeweilige Steuer nach einsehbaren, konsistenten Prinzipien gesetzlich ausgestaltet ist.10

Das Ziel der Steuergerechtigkeit ist demnach nur zu erreichen, wenn sich der Gesetzgeber in der Ausgestaltung des Steuerrechts festen Prinzipien und Regeln

9 Hobbes, Thomas: Philosophical Elements of a True Citizen: Of Liberty (1658), in: The English Works of Thomas Hobbes of Malmesbury, hg. v. Sir William Molesworth, Bd. 2, ND Aalen 1966, S. 173 f.

10 Isensee, Josef: Vom Beruf unserer Zeit für Steuervereinfachung, in: Steuer und Wirtschaft 71 (1994), S. 3–14, S. 3.

(10)

unterwirft.11 Sachgerechte Prinzipien stellen dabei theoretisch eine gute Grundlage dar, um ein Steuersystem zu gestalten, „das einfacher, sozialer, transparenter und damit wieder gerechter sowie zugleich international wettbewerbsfähiger“ wäre.12 (Teil III)

Die Grundprinzipien des freiheitlich-sozialen Rechtsstaates Bundesrepublik Deutschland sind das Freiheitsprinzip (Art. 2, Art. 12, Art. 14 Grundgesetz), das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 3 Grundgesetz) und das Sozial- staatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 Grundgesetz), das den sozialen Aspekt der Gerechtigkeit betont. Diese Freiheit/Gleichheit/Solidarität-Trias hat ihre Wurzel in der französischen Erklärung der Rechte der Menschen und des Bürgers von 1789 („Freiheit/Gleichheit/Brüderlichkeit“).13 Aus dem in Art. 3 Abs. 1 Grund- gesetz kodifizierten Gleichheitssatz – „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“

– wird das Gebot der Steuergerechtigkeit hergeleitet,14 das besagt, dass die Steuerpflichtigen durch ein Steuergesetz rechtlich und tatsächlich gleich belastet werden müssen. (Teil IV)

In der Wiederaufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg nahm das Wirtschaftswachstum aufgrund der auf Selbstfinanzierung ausgerichteten Steuer- politik derart zu, dass sich die Steuereinnahmen von 1950 bis 1965 mehr als verdreifachten. Darüber hinaus wurde eine antizyklische Finanzpolitik durch- geführt; die nicht sofort benötigten Steuereinnahmen wurden bei der Bundesbank angesammelt, jedoch später durch großzügige Wahlgeschenke in Form von niedrigeren Steuern, höheren Subventionen und Sozialleistungen wieder aus- gegeben. In den Jahren zwischen 1957 und 1961 wurde die Kapitalbildung gezielt gefördert, und verteilungspolitische Motive rückten in den Vordergrund.

Die Wirtschaft glitt 1966 in die Rezession ab. Hervorgerufen wurde dies sowohl durch die Vermeidung antizyklischer, konjunkturpolitischer Maßnahmen als auch durch den fortschreitenden restriktiveren Kurs der Bundesbank. Erst die Große

11 Hey, Johanna: § 3 Steuersystem und Steuerverfassungsrecht, in: Tipke, Klaus/Lang, Joachim (Hrsg.): Steuerrecht, fortgeführt von Roman Seer u. a., 22. Aufl., Köln 2015, S. 63–137, S. 64.

12 Eilfort, Michael/Lang, Joachim: Steuerpolitisches Programm, in: Lang, Joachim/Eilfort, Michael (Hrsg.): Strukturreform der deutschen Ertragsteuern. Bericht über die Arbeit und Entwürfe der Kommission „Steuergesetzbuch“ der Stiftung Marktwirtschaft, München 2013, S. 51–110, S. 52.

13 Tipke: Die Steuerrechtsordnung, Bd. 1, S. 115 f.

14 Vgl. hierzu die bei Hey: § 3 Steuersystem und Steuerverfassungsrecht, S. 93 angeführte Recht- sprechung des Bundesverfassungsgerichtes; vgl. Tipke: Die Steuerrechtsordnung, Bd. 1, S. 290.

(11)

Koalition verhalf der „Fiscal policy“ 1967 zum Durchbruch und bekämpfte die Rezession mit Investitionsprogrammen.

In der Steuerpolitik ab 1969 ging es darum, so viel soziale Gerechtigkeit wie irgend möglich zu verwirklichen; die Grund-, Vermögen-, Erbschaft-, Gewerbe- und insbesondere die Einkommensteuer wurden in der Steuerreform von 1974/75 umgestaltet. Erst in der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre wurden die wirtschafts- politischen den verteilungspolitischen Zielen vorgezogen, eine klare steuerpoliti- sche Linie war jedoch nicht zu erkennen.

„Leistung soll sich wieder lohnen“, so lautete die Zielsetzung der christ- demokratisch-liberalen Koalitionsregierung ab 1982. Mehrleistung sollte belohnt, der sogenannte Mittelstandsbauch, die Steuerflucht und die Schattenwirtschaft abgebaut werden.

Die schwarz-gelbe Koalition von 2009 wollte die Leistungsbereitschaft der Bürgerinnen und Bürger stärken und für Unternehmen Rahmenbedingungen schaffen, die diesen in Zeiten der Globalisierung eine starke Stellung ermöglichen sollten. Die vielen Vorschläge aus den Koalitionsfraktionen sind jedoch nicht umgesetzt worden. Auch in den folgenden Legislaturperioden ist es versäumt worden, ein Steuersystem zu schaffen, das den Gerechtigkeitsvorstellungen vieler Bürgerinnen und Bürger entspricht. (Teil V)

Ein Blick zurück in das 19. und 20. Jahrhundert zeigt, dass es auf deutschem Boden zwei fundamentale Steuerreformen gab, die die Gerechtigkeitsideale der Aufklärung in das deutsche Steuerrecht übernommen haben:

Der preußische Finanzminister Johannes von Miquel setzte mit der Einführung der ersten preußischen Einkommensteuergesetze von 1890/91 und 1892/93 in einem nicht unerheblichen Umfang grundlegende finanzpolitische Forderungen durch, wie sie – basierend auf den Erkenntnissen der Kameralisten – in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorgeschlagen worden waren. Er nannte seine Reform ein „Werk ausgleichender Gerechtigkeit“.15

Zur Zeit der Weimarer Republik initiierte der Reichsfinanzminister Matthias Erzberger – der sich als oberstes Ziel gesetzt hatte, „Gerechtigkeit im gesamten

15 Miquel, Johannes von: Die Reform der direkten Steuern. Rede vor dem Abgeordnetenhaus am 20.11.1890, in: Schultze, Walther/Thimme, Friedrich (Hrsg.): Johannes von Miquels Reden, Bd. 3, Halle an der Saale 1913, S. 303–329, S. 329.

(12)

Steuerwesen zu schaffen“16 – eine umfassende Reform der Finanzverfassung und des Steuersystems.17 Innerhalb von neun Monaten – in den Jahren 1919 und 1920 – wurden sechzehn Steuergesetze verkündet, darunter die Reichsabgabenordnung von 1919 und das Einkommensteuergesetz 1920, beides hervorragende Gesetze, die Vorbilder für Steuergesetze in vielen Ländern waren.

Die Systematik dieser ehemals international hoch angesehenen deutschen Steuergesetze ist in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland kontinuierlich verschlechtert worden.18 Dies zeigt sich u. a. am Beispiel des Einkommensteuer- gesetzes: Das Einkommensteuergesetz vom 29. März 1920 enthielt 53 Paragrafen, das Einkommensteuergesetz vom 21. Dezember 2019 hingegen wurde auf 195 Paragrafen aufgebläht und unzählige Male geändert. Nach den Feststellungen des Bundesrechnungshofes wurden im Einkommensteuergesetz, das für nahezu 27 Millionen Steuerpflichtige maßgebend ist, in den Jahren 2006 bis 2010 428 Bestimmungen durch 48 Gesetze geändert. „Dies bedeutet, dass das Ein- kommensteuergesetz im Durchschnitt alle fünf Wochen geändert wurde.“19 Wenn es einer dritten Steuerreform – einhundert Jahre nach der Erzberger- Reform – gelänge, fundamentale Änderungen im deutschen Steuersystem herbei- zuführen, wären der politische, wirtschaftliche und soziale Gewinn einzigartig.20 In Wissenschaft, Wirtschaft und Politik wurden Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts grundlegende Reformmodelle entworfen, deren Ziel es ist, das Steuerrecht systematisch auf Grundprinzipien aufzubauen, um Steuergerechtigkeit und Steuervereinfachung zu verwirklichen. Die wesentlichsten Reformvorschläge und Reformperspektiven werden hier skizziert. Übernehmen und akzeptieren die

16 Erzberger, Matthias: Reden zur Neuordnung des deutschen Finanzwesens vom Reichsminister der Finanzen Erzberger, Berlin 1919, S. 5.

17 Auf einer Gedenkveranstaltung im Jahr 2011 ehrte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble Matthias Erzberger aus Anlass dessen 90. Todestages und hob dessen „völlig einmalige, unglaub- liche“ Leistung hervor, denn mit seiner Steuerreform sei ihm ein „elementarer Umbruch“ gelungen;

vgl. o. V.: Reutlinger Generalanzeiger, 29.08.2011, auf:

http://www.gea.de/region+reutlingen/ueber+die+alb/+einsatz+fuer+kleine+leute.2164499.html (letzter Zugriff: 20.02.2017).

18 Eilfort/Lang: Steuerpolitisches Programm, S. 58 f.

19 Engels, Dieter/Rahm, Andreas: Bundesrechnungshof-Bericht nach § 99 BHO über den Vollzug der Steuergesetze, insbesondere im Arbeitnehmerbereich, 17.01.2012, auf:

https://www.bundesrechnungshof.de/de/veroeffentlichungen/produkte/sonderberichte/langfassung en/2012-sonderbericht-vollzug-der-steuergesetze-insbesondere-im-arbeitnehmerbereich [letzter Zugriff: 14.04.2020], S. 12.

20 Lang, Joachim: Arbeit und Programm der Kommission „Steuergesetzbuch“, in: Lang, Joachim/Eilfort, Michael (Hrsg.): Strukturreform der deutschen Ertragsteuern. Bericht über die Arbeit und Entwürfe der Kommission „Steuergesetzbuch“ der Stiftung Marktwirtschaft, München 2013, S. 31–41, S. 34.

(13)

Menschen in Deutschland als mündige Staatsbürger die grundgesetzlich abge- sicherten Prinzipien und Regeln in eine ähnlich angesehene Steuerrechtfertigung, wird sich nicht nur das Steuerrecht ändern, sondern auch die Steuermoral.21 (Teil VI)

Eines der wichtigsten Fundamente der Gesellschaft und jenseits der National- staaten ist das Recht. Es ist das verbindende Band der Länder und Kulturen und das Ergebnis einer langen Überlieferung.22 Dieses verbindende Band wird zerschnitten, wenn durch den Staatenwettbewerb unterschiedliche Steuerbelastungen entstehen.

Hier entstehen Gerechtigkeitsprobleme durch unterschiedliche staatliche Privi- legierungen, durch internationale Steuergestaltung sowie durch internationale Steuerhinterziehung.

Die Folgen der Steuervermeidung und Steuerhinterziehung haben sowohl reiche Staaten, als auch insbesondere Entwicklungsländer in den vergangenen Jahrzehnten erheblich belastet, ohne dass sich eine grundlegende Änderung abgezeichnet hat.

Eine weltweite Verhaltensveränderung erfolgte erst, als im Jahr 2009 US- amerikanische, britische und australische Steuerbehörden eine Festplatte mit einer Datensammlung aus einer anonymen Quelle angeboten bekamen. Es folgten 2014 die „Luxemburg Leaks“, und im Jahr 2016 wurde das größte Daten-Leak aller Zeiten unter der Bezeichnung „Panama Papers“ der Öffentlichkeit bekannt gemacht.

In der Folge entstanden internationale Initiativen, die zu einer gravierenden Änderung des internationalen Steuerrechts führen werden. Es besteht die be- gründete Hoffnung, einen globalen Konsens zur Bekämpfung von Steuer- vermeidung und Steuerverkürzung zu finden. Die G20 hat die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) beauftragt, eine konsensfähige Lösung für die Besteuerung der Digitalisierung der Wirtschaft zu erarbeiten. In der „Inclusive Framework on BEPS“ beraten mittlerweile 137 Staaten über die Reform der Weltsteuerordnung.23 Im Juli 2021 haben die G20 Staaten das

21 Vgl. Klein, Alexander: Steuermoral und Steuerrecht. Akzeptanz als Element einer steuerlichen Rechtfertigungslehre (Europäische Hochschulschriften, Reihe II: Rechtswissenschaft 2226), Frankfurt am Main u. a. 1997; vgl. im Einzelnen die bei Seer, Roman: § 1 Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung, in: Tipke, Klaus/Lang, Joachim: Steuerrecht, fortgeführt von Roman Seer u. a., 23.

Aufl., Köln 2018, S. 1–34, S. 2 angeführte Literatur zu „Besteuerungsmoral“ und „Steuermoral“.

22 Stolleis, Michael: Das verbindende Band, in: Rotary Magazin, Juni 2017, S. 40 f.

23 Bundesverband der Deutschen Industrie e. V.: Besteuerung der digitalisierten Wirtschaft (14.01.2020), auf: https://bdi.eu/artikel/news/besteuerung-der-digitalisierten-wirtschaft-birgt- gravierende-folgen-fuer-deutschland-und-die-industr-1/ (letzter Zugriff: 20.02.2020).

(14)

von der OECD erarbeitete Zwei-Säulen Konzept angenommen. Die Reform soll möglichst im Jahr 2023 in Kraft treten. Der Erfolg der Mindeststeuer hängt davon ab, ob ein globaler Konsens erzielt werden wird. (Teil VII)

Alle seit 1950 unternommenen Steuerreformversuche in Deutschland sind mehr oder weniger gescheitert oder missglückt. Die Regierungen scheiterten an den Wünschen der Wähler, der Anliegen der Interessenverbände und zuletzt an der Opposition, die bestrebt war, den jeweiligen Regierungen keinen Reformerfolg zukommen zu lassen. Dies wirkte so abschreckend, dass selbst Große Koalitionen sich nicht mehr an eine Steuerreform heranwagten.

Da Reformen Wertentscheidungen sind, kann und sollte eine Reform nur gelingen, „wenn die Wertvorstellungen in der Reformdiskussion vollständig offengelegt werden und die politische Mehrheit von den Wertvorstellungen und Folgewirkungen überzeugt ist.“24 (Fazit)

24 Desens, Marc: Einkommensbegriffe und Einkunftsarten. Wie kann eine Reform gelingen, in:

Jachmann, Monika (Hrsg.): Erneuerung des Steuerrechts, 38. Jahrestagung der Deutschen Steuer- juristischen Gesellschaft e. V., Berlin, 9. und 10. September 2013 (Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft 37), Köln 2014, S. 95–135, S. 97.

(15)

TEIL I: DIE AUSGANGSSITUATION

1. Eine „Meisterleistung an Verschleierungskunst“

Mit seinem 1808 veröffentlichten „Vorschlag zu einem einfachen Steuer-Systeme“

wollte Heinrich Eschenmayer auf die Willkür und Zufälligkeit des damaligen Steuersystems aufmerksam machen:

Man kann nicht bestimmt rechnen, wie viel solche Steuern jährlich abwerfen, und auf welche Zeit sie eingehen; man kann nicht bey allen darauf zählen, ob sie, wenn sie erhoben worden sind, gesetzmäßig erhoben, ob nicht mehr erhoben, und ob die erhobenen wirklich alle auch verrechnet worden sind. […] Ueber Steuern, die von der Willkür und dem Zufalle abhängen, kann keine Finanz-Regierung die gehörige Uebersicht haben. […] Einfachheit und Uebersicht fehlen in dem Systeme solcher Steuern ganz, und dieses sind doch zwey wesentliche Eigenschaften. Diese Eigenschaften, worein ich die Güte eines Steuer- Systemes setze, sind es, welche mich bestimmten, einen Versuch zur Vereinfachung der Steuer-Systeme zu wagen, um die Finanz- Regierungen auf die Verwirrungen und Vielseitigkeiten, welche die Menge so heterogener Steuer-Gegenstände verursachet, aufmerksam zu machen.1

Die Willkür und Unübersichtlichkeit des Steuersystems haben seit damals nicht abgenommen. Im Jahr 2011 stellt Paul Kirchhof in seinem Reformentwurf zur Erneuerung des Steuerrechts, dem „Bundessteuergesetzbuch“, fest:

Ein unverständliches Gesetz ist nicht ordnungsgemäß beschlossen (Art. 78 GG Abs. 1 Satz 1 GG) und nicht ordnungsgemäß zustande gekommen (Art. 78 GG), weil weder die Abgeordneten des Bundestages noch die Mitglieder des Bundesrates ihren Entscheidungsgegenstand verstehen, das Staatsvolk somit nicht im Wissen, deshalb auch nicht im Willen vertreten konnten […]. Vor allem aber verlangt das aus Art. 20 Abs. 3 GG folgende rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot, dass der Betroffene aus dem Gesetz die Rechtslage erkennen und nach ihr sein

1 Eschenmayer: Vorschlag zu einem einfachen Steuer-Systeme, S. III–V.

(16)

Verhalten ausrichten kann […], zudem die steuerlichen Aufklärungs- pflichten strafbewehrt sind, der Steuerpflichtige also im vorhinein nach Art. 103 Abs. 2 GG die an ihn gestellten Anforderungen erkennen können muss.“2

Der Vorsitzende Richter des X. Senats des Bundesfinanzhofes, Prof. Dr. Heinrich Weber-Grellet, hatte im Jahr 2007 in dieselbe Richtung argumentiert, denn „das Parlament ist an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gelangt; die Vertreter sind nicht und können nicht in der Lage sein, all das zu verstehen, und zwar verantwortlich zu verstehen, über das sie beschließen müssen.“3

Als ein besonders eklatantes Beispiel für die Unverständlichkeit eines Gesetzes- textes für denjenigen, der ihn zu befolgen hat, und damit für die Verletzung des Grundsatzes der Normenklarheit gilt die Regelung über die Mindestbesteuerung im Einkommensteuergesetz.

Unter Federführung des damaligen Finanzministers Oskar Lafontaine hatte der Gesetzgeber 1999 beschlossen, dass steuerliche Verluste nur zum Teil von den Einkünften abgezogen werden können. Damit verblieb dem Fiskus in der Regel ein Mindestgewinn, den er der Versteuerung unterwerfen konnte. Diese Regelung der Mindestbesteuerung sollte verhindern, dass das Einkommensteueraufkommen weiter wegbrach.4 So hieß es in dem Steuerentlastungsgesetz vom 24. März 1999:

Bei der Ermittlung der Summe der Einkünfte sind zunächst jeweils die Summen der Einkünfte aus jeder Einkunftsart, dann die Summe der positiven Einkünfte zu ermitteln. Die Summe der positiven Einkünfte ist, soweit sie den Betrag von 100 000 Deutsche Mark übersteigt, durch negative Summen der Einkünfte aus anderen Einkunftsarten nur bis zur Hälfte zu mindern. Die Minderung ist in dem Verhältnis vorzunehmen, in dem die positiven Summen der Einkünfte aus verschiedenen Einkunftsarten zur Summe der positiven Einkünfte stehen. Übersteigt die Summe der negativen Einkünfte den nach Satz 3 ausgleichsfähigen

2 Kirchhof, Paul: Bundessteuergesetzbuch. Ein Reformentwurf zur Erneuerung des Steuerrechts, Heidelberg 2011, S. 6.

3 Weber-Grellet, Heinrich: Strukturwandel des Steuerstaats, in: Der Betrieb 32 (2007), S. 1717–

1720, S. 1719; vgl. auch die einschlägigen Ausführungen von Towfigh, Emanuel Vahid:

Komplexität und Normenklarheit – oder: Gesetze sind für Juristen gemacht, in: Der Staat 48 (2009), S. 29–73.

4 Weber-Grellet: Strukturwandel, S. 1717 unter Bezug auf: BFH-Beschluss vom 09.05.2001 – XI B 151/00, BStBl. II 2001, S. 552 = DB 2001, S. 1460.

(17)

Betrag, sind die negativen Summen der Einkünfte aus verschiedenen Einkunftsarten in dem Verhältnis zu berücksichtigen, in dem sie zur Summe der negativen Einkünfte stehen. Bei Ehegatten, die nach den

§§ 26, 26b zusammen veranlagt werden, sind nicht nach den Sätzen 2 bis 5 ausgeglichene negative Einkünfte des einen Ehegatten dem anderen Ehegatten zuzurechnen, soweit sie bei diesem nach den Sätzen 2 bis 5 ausgeglichen werden können; können negative Einkünfte des einen Ehegatten bei dem anderen Ehegatten zu weniger als 100 000 Deutsche Mark ausgeglichen werden, sind die positiven Einkünfte des einen Ehegatten über die Sätze 2 bis 5 hinaus um den Unterschiedsbetrag bis zu einem Höchstbetrag von 100 000 Deutsche Mark durch die noch nicht ausgeglichenen negativen Einkünfte dieses Ehegatten zu mindern, soweit der Betrag der Minderungen bei beiden Ehegatten nach den Sätzen 3 bis 6 den Betrag von 200 000 Deutsche Mark zuzüglich der Hälfte des den Betrag von 200 000 Deutsche Mark übersteigenden Teils der zusammengefaßten Summe der positiven Einkünfte beider Ehegatten nicht übersteigt …5

In einem viel beachteten Beschluss des Bundesfinanzhofes vertrat der erkennende Senat am 6. September 2006 die Auffassung, dass diese Regelungen „wegen Ver- letzung des Grundsatzes der Normenklarheit verfassungswidrig“ seien.6

Der Senat begründete seine Auffassung damit, dass es nicht ausreiche,

dass sich die Rechtsfolgen einer Norm allenfalls Experten erschließen […]. Ebenso wie sich der Steuerpflichtige persönlich durch unrichtige oder unvollständige Angaben strafbar macht, muss er grundsätzlich anhand des ihm zugehenden Steuerbescheids dessen Rechtmäßigkeit beurteilen können.

Zum Gebot der Klarheit führte der Bundesfinanzhof aus:

Diese fordert für die Voraussehbarkeit und Berechenbarkeit der Steuerlasten eine Einfachheit und Klarheit der gesetzlichen Regelung, die es dem „nicht steuerrechtskundigen Pflichtigen“ (Beschluss in

5 § 2 Abs. 3 Sätze 2 bis 8 EStG in der Fassung des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002.

6 Bezogen auf § 2 Abs. 3 Sätze 2 bis 8 und § 10d Abs. 1 Sätze 2 bis 4 und Abs. 2 Sätze 2 bis 4, Satz 5 Halbsatz 2 und Abs. 3 EStG Az.: R 26/04, in: BStBl II 2007, S. 167–177; DB 2006, S. 2439–2440.

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BVerfGE 99, 216, 243) erlaubt, seinen Erklärungspflichten nachzu- kommen. Der Betroffene muss anhand der gesetzlichen Regelung die Rechtslage so erkennen können, dass er sein Verhalten danach auszurichten vermag (Beschlüsse in BVerfGE 113, 348, und BVerfGE 112, 304, m. w. N.).

Seinen Entschluss begründete er:

Allein in § 2 Abs. 3 Sätze 2 ff. EStG kumulieren sämtliche Merkmale einer dem Gebot der Klarheit widersprechenden Norm: Eine gehäufte Verwendung sprachlich kaum abgrenzbarer unbestimmter Rechts- begriffe, eine umfangreiche Textlänge, ein unübersichtlicher Gesetzes- aufbau, ein unklarer Satzbau, eine Häufung und Stufung von Regel- Ausnahme-Techniken, Mehrfachverweisungen und widersprüchliche Rechtsfolgeanordnungen.

Fernerhin verwies der erkennende Senat auch auf die ausnahmslos im Schrifttum vertretene Auffassung, „dass die Mindeststeuerregelung unverständlich, wider- sprüchlich, unpraktikabel und nicht mehr justiziabel ist. Der ‚chaotische‘ Wortlaut sei ein ‚Paradebeispiel‘ für die Verletzung des Gebots der Normenklarheit, eine

‚Meisterleistung an Verschleierungskunst‘.“

Nach Ansicht des Bundesfinanzhofes muss also eine Rechtsnorm von Verfassung wegen so klar sein, dass sie für Verwaltung und Gerichte nachvoll- ziehbar und für die Steuerpflichtigen vorhersehbar ist. Dies sollte anschließend vom Bundesverfassungsgericht geklärt werden. Im Rahmen einer Normenkontrolle (Art.

100 Abs. 1 GG) wurde ihm vom Bundesfinanzhof die Frage vorgelegt, ob in den von ihm beanstandeten Regelungen zur Beschränkung des Verlustausgleichs tatsächlich ein Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Gebot der Normenklarheit zu sehen sei.7

Das Bundesverfassungsgericht hat diese Vorlage mit Beschluss vom 12. Oktober 2010 als unzulässig verworfen. Nach seiner Auffassung „fehlt es im Vorlagebeschluss an einem Versuch, deren Regelungsgehalt konkret zu

7 Haufe Online Redaktion: Gesetzeswirrwarr: Auffassungsunterschiede zwischen BFH und BVerfG (BFH), 27.05.2011, auf: https://www.haufe.de/steuern/rechtsprechung/gesetzeswirrwarr- auffassungsunterschiede-zwischen-bfh-und-bverfg_166_74248.html (letzter Zugriff: 14.04.2020).

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erschließen“; der Vorlagebeschluss gehe auf die „rechensystematische Grund- struktur nicht in der gebotenen Weise ein, obwohl erst auf dieser Grundlage eine sachgerechte Prüfung der Klarheitsproblematik möglich ist.“8 Dem Bundesfinanz- hof ist es nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts also nicht gelungen, die Schwierigkeiten beim Verständnis des Gesetzestextes hinreichend darzulegen.

Obwohl die Bestimmtheit und Verständlichkeit der Steuergesetze offenkundig essenzielle Voraussetzungen von Planungssicherheit sind, nimmt die Unbestimmt- heit und Unverständlichkeit der Steuergesetze permanent zu, und mit seinem Beschluss vom 12. Oktober 2010 hat das Bundesverfassungsgericht alle Hoffnungen zerstört, dass dem die Grundsätze der Verstehbarkeit und Vollzugs- tauglichkeit missachtenden Steuergesetzgeber verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt werden könnten. Es hat die Anforderungen an die Erläuterung der Anwendungsschwierigkeiten so hoch geschraubt, dass es in der Zukunft kaum möglich sein dürfte, überhaupt nur die Zulässigkeitshürde einer Verfassungsbeschwerde zu nehmen.9 Damit ist dem Gesetzgeber die Möglichkeit gegeben, den Dialog mit dem Steuerpflichtigen zu verweigern, sodass dieser den Eindruck gewinnen muss, er solle sich dem Gesetz unterwerfen, ohne es verstehen zu können.10

Ein kurzer Blick zurück in die Geschichte zeigt uns, dass „Chaos“ oder

„Dschungel“ bei der Steuergesetzgebung auch Methode haben können: Der als wahnsinniger Gewaltherrscher beschriebene römische Kaiser Caligula (12 n. Chr.–

41 n. Chr.) soll Steuergesetze „teils gar nicht, teils an unzugänglichen Stellen“

veröffentlicht haben, „um sie der Aufmerksamkeit der Steuerpflichtigen möglichst zu entziehen und Steuerbußen auf Grund der infolgedessen entstehenden Versäum- nisse erheben zu können.“11

Wenn die heutigen Steuergesetze nicht mehr klar und verständlich sind, so hat das den gleichen Effekt, als wenn sie „teils gar nicht, teils an unzugänglichen Stellen“ nach Caligulas Vorbild veröffentlicht worden wären.

8 BVerfG Beschluss vom 12.10.2010 2 BvL 59/06, BFH/NV 2010, S. 2387. Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

9 Hey: § 3 Steuersystem und Steuerverfassungsrecht, S. 126.

10 Kirchhof: Bundessteuergesetzbuch, S. 6 f.

11 Pirnat, Karl: Dämon Steuer, München 1956, S. 204.

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2. „Der gesetzmäßige und gleichmäßige Vollzug der Steuergesetze ist nicht mehr gewährleistet“

Der auf dem Gebiet des internationalen Steuerrechts profilierte Rechtswissen- schaftler Klaus Vogel (1930–2007) kennzeichnete 1998 den Zustand des deutschen Steuerrechts wie folgt: Es

sind die Rechtsprinzipien, die unseren Steuergesetzen zugrunde liegen, besser: zugrunde liegen sollten, weithin nicht mehr wahrzunehmen […].

Sie sind durch eine Vielzahl von Änderungen und Ergänzungen, von Ausnahmen und wieder Ausnahmen zu diesen Ausnahmen so überlagert und entstellt, dass sie für die Betroffenen nicht mehr als Versuche einer gerechten Lastenverteilung zu erkennen sind. Gewiss ist das Steuerrecht schon seit langem, spätestens aber seit dem Ersten Weltkrieg, ein kompliziertes, für den Laien schwer überschaubares Rechtsgebiet. Heute kann aber auch ein Fachmann dieses Gebiet kaum noch überblicken […].

Schon seit den siebziger und achtziger Jahren mehren sich deshalb die Äußerungen von hohen Richtern, Anwälten und Wissenschaftlern, die das geltende Steuerrecht als „Chaos“, „Dschungel“ oder gar

„Perversion“ bezeichnen. In diesem Chaos gelingt es den Hochverdie- nenden, die sich eine teure Steuerberatung leisten können, ihre Steuerpflichten legal zu vermindern. Die Geringverdienenden haben diese Möglichkeit nicht; sie zahlen, wie dies ein namhafter Betriebswirt ausgedrückt hat, eine „Dummensteuer“. […] Dieser Zustand ist, ich möchte das mit aller Deutlichkeit sagen, von Politikern aller demokratischen Parteien zu verantworten.12

Der Gesetzgeber und insbesondere die Finanzverwaltung haben das Steuersystem zugunsten des Staates immer weiter vervollständigt und durch Nichtanwendungs- erlasse von Urteilen des Bundesfinanzhofes und durch Jahressteuergesetze die Rechtsprechung unterlaufen. Die sich daraus ergebenden Lücken im System

12 Vogel, Klaus: Verfassungsrechtsprechung zum Steuerrecht. Vortrag gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 16. September 1998 (Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin 160), Berlin/New York 1999, S. 9–11; Isensee formuliert es so: „Die Kenner des Steuerrechts konstatieren einmütig, daß hier Wildwuchs und Willkür herrschen, Hypertrophie der Normen, Änderungshektik ohne Änderungskonzept, Okkupation durch disparate steuerfremde Zwecke […]

Die vielen Sonderrechte überlagern das allgemeine Recht. Der Systemgedanke wird zugedeckt durch ein Konglomerat von Ausnahmetatbeständen.“ Isensee, Josef: Vom Beruf unserer Zeit, S. 4.

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werden von den steuerberatenden Berufen zugunsten ihrer Mandantschaft genutzt, sodass die Gesetzgebung wiederum gezwungen ist, diese Löcher durch neue Regelungen zu flicken. Die Folge sind immer schnellere Regeländerungen, die keine Planungssicherheit mehr gewährleisten, als ungerecht empfunden werden und jeden Leistungsgedanken im Keim ersticken.

Paul Kirchhof mahnte 2004, der deutsche Steuerstaat „stolpert und wird stürzen, wenn wir ihn nicht bald grundlegend erneuern“,13 und stützte sich dabei auf das Argument, dass der Staat sich nicht nur die Mittel beschaffe, die er zur Erfüllung seiner Aufgaben benötige, sondern auch den Bürger durch immer mehr Regelungen zu einem bestimmten Verhalten dränge. Damit habe sich die Steuer von einem Instrument der Finanzierung zu einem Werkzeug der Steuerung entwickelt.

Laut dem Institut der deutschen Wirtschaft Köln gab es im Jahr 2004 „nicht weniger als 118 gültige Steuergesetze, 87 Rechtsverordnungen und fast 4.000 dazugehörende Papiere vom Bundesfinanzministerium.“14 Noch ausgefallener als die deutsche Regelungswut ist ihr Ergebnis: Im weltweiten Vergleich ist das deutsche Steuersystem nach dem „Global Competitiveness Report 2009–2010“ des World Economic Forum weit abgeschlagen. Die deutsche Besteuerung landete in der Kategorie „Extent and effect of taxation“ auf Platz 106 von 133 Ländern.15 Darüber hinaus umfasste zum selben Zeitpunkt die Liste der potenziell EU- rechtswidrigen Normen des deutschen direkten Steuerrechts 47 Seiten mit mehr als 250 Regelungen, von denen niemand sagen kann, ob sie rechtens sind oder nicht.16 Wie aber sollen Bürger Steuergesetze akzeptieren, bei denen Sachverständige ernst- hafte verfassungs- oder europarechtliche Bedenken vortragen? Dies führt dazu, dass die Bürger kein Vertrauen in die Steuerpolitik und damit den Eindruck haben, nicht gerecht behandelt zu werden.

In einem Gutachten verlangte der Bundesrechnungshof 2006 eine durch- greifende Vereinfachung des Steuerrechts und führte aus: „Der gesetzmäßige und gleichmäßige Vollzug der Steuergesetze ist nicht mehr gewährleistet“, und

13 Kirchhof, Paul: Der sanfte Verlust der Freiheit, München/Wien 2004, S. 1.

14 Institut der deutschen Wirtschaft Köln: Ein modernes Steuersystem für Deutschland. Vier Vor- schläge auf dem Prüfstand, Köln 2004, S. 8 f.

15 World Economic Forum (2009): The Global Competitiveness Report 2009−2010, auf:

http://www3.weforum.org/docs/WEF_GlobalCompetitivenessReport_2009–10.pdf (letzter Zugriff 16.02.2017), S. 153.

16 Vgl. Beck, Hanno/Prinz, Aloys: Zahlungsbefehl von Mord-Steuern, Karussell-Geschäften und Millionärs-Oasen, München 2010, S. 2 f.

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begründete dies damit, dass es wegen der komplizierten und sich ständig ändernden Steuergesetzgebung den Bearbeitern in Deutschland kaum mehr möglich sei, sich einen Überblick über die jeweils geltende Rechtslage zu verschaffen.17

Darüber hinaus darf die Steuerpflicht bestimmter Einkünfte nicht nur auf dem Papier stehen, denn „Das Verfahrensrecht muss […] so ausgestaltet sein, dass es die gleichmäßige Umsetzung der durch eine materielle Steuernorm bestimmten Belastung in der regulären Besteuerungspraxis gewährleistet. Die Form der Steuererhebung und – in Ergänzung des Deklarationsprinzips – das behördliche Kontrollinstrumentarium haben somit der materiellen Steuernorm regelmäßig so zu entsprechen, dass deren gleichheitsgerechter Vollzug im Massenverfahren der Veranlagung möglich ist, ohne unverhältnismäßige Mitwirkungsbeiträge der Steuerpflichtigen oder übermäßigen Ermittlungsaufwand der Finanzbehörden zu fordern.“18

Sogenannte Steuerreformen führen seit Hunderten von Jahren den Kern- gedanken des Steuerrechts, Einnahmen zu erzielen, ins Absurde: Die Komplexität der Steuergesetze wurde stets erhöht. Allein in der 16. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages (2005–2009) sind von diesem mehr als 50 Gesetzentwürfe beschlossen worden, mit denen das Steuerrecht geändert und komplizierter wurde.19

Schon der römische Senator Casparius äußerte sich sarkastisch zur

„Steuerreform“ des hohen Finanzbeamten Scaefarius unter Kaiser Hadrian (76–

103 n.Chr.):

Zu loben ist diese deine Steuerreform vor allen Steuerreformen, die da waren, sind oder kommen werden. Sie ist modern, gerecht, erleichternd und kunstvoll. Modern, weil jede der alten Steuern einen neuen Namen trägt. Gerecht, weil sie alle Bürger des Römischen Reiches gleich benachteiligt. Erleichternd, weil sie keinem Steuerzahler mehr einen

17 Bünder: Rechnungshof will Radikalreform, S. 9.

18 BVerfG-Urt. vom 9. 3. 2004 – 2 BvL 17/02, Fn. 41, S. 122ff.; vgl. auch Seer, Roman:

Vereinfachung des Steuerrechts – Postulat des Rechts oder nur steuerpolitisches Lippenbekenntnis?, Warschau 2019, S. 456-474, S. 466.

19 Bundessteuerberaterkammer: Steuergerechtigkeit, Planungssicherheit, Praktikabilität. Empfeh- lungen an den Steuergesetzgeber, Berlin 2010, S. 6.

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vollen Beutel lässt. Kunstvoll, weil in vielen Worten versteckt wird, […]

dem Bürger zu nehmen, was des Bürgers ist.20

2010 forderte der damalige Präsident des Bundesfinanzhofs Wolfgang Spindler die Bundesregierung auf, „das Steuerrecht auf seine originäre Aufgabe zurück[zu]- führen – nämlich Staatseinnahmen zu generieren. Im Laufe der Jahre hat der Gesetzgeber das Steuerrecht immer mehr zweckentfremdet“, was dazu geführt habe, „dass wir ein hoch kompliziertes, streitanfälliges, undurchschaubares und am Ende auch ein ungerechtes Steuerrecht bekommen haben.“ Allein Paragraf 3 des Einkommensteuergesetzes „enthält insgesamt 70 Nummern, die fast alle Aus- nahmen von der Regelbesteuerung beschreiben.“ Auch bei der Umsatzsteuer sei der Streit vorprogrammiert: „Lasst die Hände weg von solchen Ausnahmen! […] Ich bin für eine Gleichmäßigkeit der Besteuerung.“21

Der ehemalige Richter des Bundesverfassungsgerichtes von 2001 bis 2011 und ehemalige Präsident des Bundesfinanzhofes von 2011 bis 2020, Rudolf Mellinghoff, stellte in 2018 fest, dass „die ursprünglichen Grundprinzipien einzelner Steuergesetze kaum noch erkennbar sind. Sie sind durch ergänzende Belastungs- und Entlastungsentscheidungen verfremdet und durch Lenkungsnormen verfälscht.“22 Am Beispiel der Gewerbesteuer aber auch an der Erbschaftsteuer zeigt Mellinghoff auf, wie schwierig die Frage der Allgemeinheit eines Gesetzes23 im Steuerrecht zu beantworten ist,

wenn der Gesetzgeber zwar einen generellen und allgemeingültigen Belastungsgrund in einem Steuertatbestand definiert, sodann aber durch zahlreiche Subventions-, Lenkungs- und Entlastungsregelungen den

20 Zitiert nach: Lang, Joachim/Eilfort, Michael (Hrsg.): Strukturreform der deutschen Ertragsteuern.

Bericht über die Arbeit und Entwürfe der Kommission „Steuergesetzbuch“ der Stiftung Markt- wirtschaft, München 2013, S. 3.

21 Spindler, Wolfgang: „Weg mit den Ausnahmen im Steuerrecht!“. Interview von Handschuk, Konrad/Ramthun, Christ, in: Wirtschaftswoche, 27.03.2010, Nr. 13; auf:

http://www.wiwo.de/politik/deutschland/bundesfinanzhof-praesident-spindler-weg-mit-den- ausnahmen-im steuerrecht/5243376.html (letzter Zugriff: 16.02.2017).

22 Mellinghoff, Rudolf: § 5 Identifikation von Regel und Ausnahme im Steuerrecht, in: Kube, Hanno/Reimer, Ekkehart (Hrsg.): Ausnahmen brechen die Regel, Heidelberger Beiträge zum Finanz- und Steuerrecht, Berlin 2019, S. 103-129, S. 106.

23Kirchhof führt hierzu aus: „Jedes Gesetz hat allgemein zu sein. In diesem Verallgemeinerungsauftrag sind Privilegien und Sondernachteile ausgeschlossen, Ausnahmen rechtfertigungsbedürftig, Rechtsstrukturen auf Folgerichtigkeit und Widerspruchsfreiheit angelegt.“

Kirchhof, Paul: § 6 Schlusswort, in: Kube, Hanno/Reimer, Ekkehart (Hrsg.): Ausnahmen brechen die Regel, Heidelberger Beiträge zum Finanz- und Steuerrecht, Berlin 2019, S. 131-134, S. 132.

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Kreis der Betroffenen derart reduziert, dass nur noch ein kleiner Ausschnitt der vom allgemeinen Tatbestand erfassten Steuerpflichtigen überhaupt steuerlich belastet wird. Die rechtfertigende Belastungsidee wird in ihrer Allgemeinheit nicht mehr verwirklicht.24

Zur Identifikation von Regel und Ausnahme im Steuerrecht legt er dar, dass diese auf besondere Schwierigkeiten stößt, „wenn der Regel eines Steuertatbestandes einen Ausnahmetatbestand entgegengesetzt wird, dieser Ausnahmetatbestand jedoch wieder mit einer Rückausnahme versehen wird.“25 Besonders exemplarisch für Rückausnahmen von der Ausnahme führt er als Beispiel das Außensteuergesetz an:

Die Hinzurechnungsbesteuerung geht von dem tatbestandsbegründenden Merkmal aus, dass die ausländische Zwischengesellschaft sog. passive Einkünfte erzielt. Anstatt schädliche passive Einkünfte allgemein zu kennzeichnen oder im Gesetz zu benennen[,] hat sich der Gesetzgeber für ein überaus komplexes System der ‚-Regel-Ausnahme-Rückausnahme-Ausnahme von der Rückaus- nahme-‘ entschieden. So wird in § 8 Abs. 1 AStG zunächst ein Katalog aktiver Tätigkeiten normiert. Dieser hat ganz grundsätzlich zur Folge, dass sämtliche Einkünfte […] als passiv qualifizieren, soweit sie nicht ausdrücklich einer der dort aufgelisteten Tätigkeiten zugeordnet werden können. Ergänzt werden dann die im Aktivkatalog aufgeführten Tätigkeiten überwiegend mit Ausnahme-, teils auch Rückausnahme- und Ausnahme von der Rückausnahme-Bestimmungen, die die Hinzurechnungsbesteuerung für den Steuerpflichtigen alles andere als intuitiv verständlich machen. So sind etwa Einkünfte aus dem Handel […] zwar zunächst grundsätzlich aktiv (‚-Regel-‘), können aber als passiv qualifizieren, wenn es sich um eine Einkaufs- oder Verkaufsgesellschaft handelt […] (‚-Ausnahme-‘). Gleichwohl sind solche Einkäufe wiederum aktiv, wenn die Zwischengesellschaft nachweislich über einen in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetrieb unter Teilnahme am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr unterhält (‚-Rückausnahme-‘). Aber selbst dann gelten die Einkünfte als passiv, wenn der inländische unbeschränkt steuerpflichtige

24 Mellinghoff, Rudolf: § 5 Identifikation, S. 109.

25 Ebd., S. 116.

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Anteilseigner oder eine ihm nahe[]stehende Person schädlich an den Tätigkeiten der Zwischengesellschaft mitgewirkt hat (‚-Ausnahme von der Rückausnahme-‘).26

Die letzten umfassenden Finanz- und Steuerreformen in Deutschland sind mit den Namen von zwei Politikern verbunden: dem preußischen Finanzminister Johannes von Miquel, der 1890/91 und 1892/93 das Steuersystem grundsätzlich reformierte, und dem Finanzminister der jungen Weimarer Republik, Matthias Erzberger, der 1919/20 die Grundlagen für das heute vorhandene deutsche Steuersystem legte.

Seit der Erzberger’schen Reform und ihrer Fortführung durch Johannes Popitz von 1925 hat es in Deutschland keine durchgreifende Steuerreform mehr gegeben.

Alle in den vergangenen Jahrzehnten von der Politik angekündigten großen Reformen des deutschen Steuerrechts haben sich als Trugbilder herausgestellt.

Immer wieder hieß es, das Ziel sei ein rationales, gerechtes und einfaches Steuersystem: Die Steuerreformen von 1953 und 1954/55 sollten zwar eine grund- legende Neuorientierung des Steuersystems bewirken, doch wurde die Chance für eine „organische Steuerreform“ vertan.27 In seiner Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 kündigte Willy Brandt an, ein „gerechtes, einfaches und über- schaubares Steuersystem“ zu wollen.28 Auch mit der Steuerreform 1990 wurde hervorgehoben: „Ziel ist ein gerechtes und einfacheres Steuersystem.“29 Und im Koalitionsvertrag vom 26. Oktober 2009 zwischen der CDU/CSU und der FDP wurde erneut herausgestellt: „Wir werden das Steuerrecht spürbar vereinfachen und von unnötiger Bürokratie befreien.“30 Selbst in der Großen Koalition zwischen CDU, CSU und SPD wurde im Koalitionsvertrag vom 16. 12. 2013 festgestellt:

Steuervereinfachung ist eine Daueraufgabe. Es ist ein wichtiges politisches Ziel, hier Schritt für Schritt voranzukommen und dabei insbesondere auch die technischen Möglichkeiten der modernen Datenverarbeitung zu nutzen. Von diesem dauerhaften Prozess

26 Ebd., S. 117.

27 Vgl. Ullmann, Hans-Peter: Das Abgleiten in den Schuldenstaat: Öffentliche Finanzen in der Bundesrepublik von den sechziger bis zu den achtziger Jahren, Göttingen 2017, S. 34.

28 Plenarprotokoll Nr.: 06/5 vom 28.10.1969, S. 24.

29 BT-Drucks. 11/2157, S. 116.

30 o. V.: Wachstum. Bildung. Zusammenhalt. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP, 17.

Legislaturperiode (26.10.2009), unter: https://www.kas.de/c/document library/get_file?uuid=83dbb842-b2f7-bf99-6180-e65b2de7b4d4&groupId=252038 (letzter Zugriff:

18.02.2020), S. 12.

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profitieren alle an der Besteuerung beteiligten Gruppen: die Steuerzahler, die Verwaltung und die steuerberatenden Berufe.31

Im Ergebnis jedoch muss festgehalten werden, dass von all den angekündigten Reformen nichts Grundlegendes umgesetzt wurde: Das heutige Steuerrecht ist durch eine Fülle von Bevorzugungs- und damit zwangsläufig auch von Benachteiligungsregelungen gekennzeichnet; es ist undurchschaubar, verwirrend und widersprüchlich.

Zwar wurden seit den 1960er-Jahren zahlreiche kleinere Reformen, wie z. B. im Umsatzsteuer- und Körperschaftsteuerrecht, durchgeführt, doch hat die Verletzung fundamentaler Besteuerungsprinzipien durch den Gesetzgeber zu einem großen Bedürfnis nach einer Fundamentalreform der Ertragsteuern geführt. Ziel einer solchen Reform wäre es, die lenkungs- und verteilungspolitischen Maßnahmen aus dem Steuerrecht herauszunehmen und sich auf eine Ordnung des Steuerrechts zu besinnen, welche die Steuerlasten gleichmäßig allen Bürgerinnen und Bürgern nach Maßgabe ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zuweist.32

Das bestehende Umsatzsteuerrecht lässt eine innere Ordnung vermissen; die Steuerbefreiungen lassen keine Systematik erkennen, und die Liste der dem ermäßigten Steuersatz unterliegenden Gegenstände folgt keiner erkennbaren Regel.33

Unabhängig davon bestimmen der Zustand und die Rechtsanwendung des deutschen Steuerrechts wesentlich die Steuermoral der Bundesbürger; denn

„Menschen sind umso steuerehrlicher, je mehr sie glauben, dass das Steuersystem gerecht ist.“34 „Nur mit transparenten und gerechten Steuern sowie mehr direktem Einfluss auf Steuerverwendungsentscheidungen wird man dauerhaft die Steuermoral der Deutschen verändern.“35

31 Deutschlands Zukunft gestalten. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 18.

Legislaturperiode, S. 64, unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/ 194886/696f36f7 95961df200fb27fb6803d83e/koalitionsvertrag-data.pdf (letzter Zugriff: 31.12. 2020).

32 Eilfort/Lang: Steuerpolitisches Programm, S. 44.

33 Kirchhof: Bundessteuergesetzbuch, S. 813; vgl. hierzu Teil I, 3.3 Eine Liste an Absurditäten.

34 Beck/Prinz: Zahlungsbefehl, S. 10.

35 Ebd., S. 20.

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3. Die „Dummensteuer“

Den Begriff der „Dummensteuer“ hat Gerd Rose geprägt, der darunter Steuerlasten versteht, „die nicht entstanden wären, wenn der Steuerpflichtige das gleiche wirtschaftliche Ziel unter klugem Einsatz der vorhandenen Gestaltungs- möglichkeiten anders erreicht hätte.“36 Mit dieser Definition trägt Rose dem Tat- bestand Rechnung, dass Laien nicht in der Lage sind, die Lücken und Privilegien der hochgradig widersprüchlichen, inkonsistenten und intransparenten Steuer- gesetze zu nutzen.37

Erschreckend ist, dass auch die Finanzämter im Paragrafendschungel gefangen sind und sich nicht mehr in der Lage sehen, das Steuerrecht anzuwenden.38 Steuerbeamte würden jedoch zu Unrecht „zu Sündenböcken für eine kranke Steuer- politik“39 gemacht, denn das Steuerrecht, so die Deutsche Steuer-Gewerkschaft schon im Jahr 1999, sei zu einem „unbeherrschbaren Monstrum verkümmert“.40

„Dummensteuern“, die zur „Chaotisierung des Steuerrechts“ (Friedrich Merz) geführt haben, sollen an wenigen Beispielen des Einkommen-, des Erbschaft- und Schenkung- und des Umsatzsteuerrechts aufgezeigt werden.

3.1 Der Satz des Pythagoras

„Der Satz des Pythagoras umfasst 24 Worte, das Archimedische Prinzip 67, die Zehn Gebote 179, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung 300 – und allein Paragraph 19a des deutschen Einkommensteuergesetzes 1862 Worte.“ Dieser Ausspruch wird in Zitatensammlungen dem CSU-Politiker Erwin Huber zugeschrieben.41 Auch wenn die Zahlen nicht genau stimmen und Paragraf 19a des

36 Rose, Gerd: Über die Entstehung von „Dummensteuern“ und ihre Vermeidung, in: Lang, Joachim (Hrsg.): Die Steuerrechtsordnung in der Diskussion. Festschrift für Klaus Tipke, Köln 1995, S. 153–

164, S. 153.

37 Beck/Prinz: Zahlungsbefehl, S. 2.

38 Schäfers, Manfred: Das Steuerrecht überfordert die Finanzämter, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.11.2009, auf: https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/deutsche-gesetze-das-steuerrecht- ueberfordert-die-finanzaemter-1884596.html (letzter Zugriff: 31.01.2020).

39 Deutsche Steuer-Gewerkschaft, in: DStG, Oktober 1999, S. 121.

40 Ebd., S. 117.

41 Z. B. https://gutezitate.com/zitat/172704 (letzter Zugriff: 31.01.2020); dass er ihn tatsächlich gesagt hat, ist nicht nachzuweisen. Es handelt sich um eine Abwandlung eines Zitates von Alwin Münchmeyer, damals Präsident des Bundesverbandes deutscher Banken, zu einer fiktiven EG- Verordnung zur Einfuhr von Karamelbonbons; Münchmeyer, Alwin, Zitat, in: Der Spiegel 29/1974, auf: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41700599.html (letzter Zugriff: 31.01.2020).

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Einkommensteuergesetzes (Überlassung von Vermögensbeteiligungen an Arbeitnehmer) inzwischen wieder abgeschafft wurde, so zeigt dies doch die Komplexität des für die Bürger wichtigen Steuergesetzes, des Einkommen- steuergesetzes, das zwischen 1964 bis zum Jahr 2010 mehr als zweihundertsechzigmal geändert wurde.42

Dabei wurden auch innerhalb einer Legislaturperiode Vorschriften mehrfach geändert, wie sich aus einer 2003 gestellten Anfrage der Opposition im Deutschen Bundestag ergab: „Gibt es Vorschriften im Einkommensteuergesetz, die in der 14.

Legislaturperiode mehrfach geändert wurden, und falls ja, welche?“ – Die Antwort der Bundesregierung vom 16. September 2003 lautete:

Ja, mehrfach geändert wurden folgende Vorschriften: § 1a, § 2, § 2a, § 3, § 3c, § 4, § 4d, § 5, § 5a, § 6, § 6a, § 6b, § 7, § 7g, § 8, § 9, § 9a, § 9b,

§ 10, § 10a, § 10b, § 10c, § 10d, § 12, § 13, § 14a, § 15, § 16, § 17, § 18,

§ 19, § 19a, § 20, § 21, § 21a, § 22, § 23, § 26a, § 31, § 32, § 32a, § 32b,

§ 32c, § 33, § 33a, § 33b, § 33c, § 34,§ 34b, § 34c,§ 34 f, § 34g, § 35, § 36, § 37, § 38a, § 38c, § 39, § 39a, § 39b, § 39c, § 39d, § 40, § 40a, § 41,

§ 41a, § 41b, § 41c, § 42b, § 42d, § 43, § 43a, § 43b, § 44, § 44a, § 45a,

§ 45b, § 45c, § 45d, § 46, § 48, § 48b, § 49, § 50, § 50a, § 50c, § 50d, § 51, § 51a, § 52, § 55, § 66, § 67, § 70, § 72, § 74, § 76, § 79, § 80, § 82,

§ 86, § 89, § 90, § 90a, § 91, § 93, § 94, § 95, § 99 sowie die Anlagen 2, 3, 4, 4a, 5 und 5a.43

Fraglich ist dabei immer – sowohl für den steuerlichen Berater als auch für den Steuerbeamten –, für welchen Zeitraum die einzelnen Paragrafen anzuwenden sind.

Ein Beispiel zu den Anwendungsvorschriften des Einkommensteuergesetzes, die dort in Paragraf 52 mit seinen 76 Absätzen (Veranlagungszeitraum 2020) geregelt sind, soll genügen, um dem Leser eine Vorstellung von dem Paragrafendschungel und der Schnelllebigkeit des Steuerrechts zu geben. So heißt es in Absatz 28:

1 Für die Anwendung des § 20 Absatz 1 Nummer 4 Satz 2 in der am 31. Dezember 2005 geltenden Fassung gilt Absatz 25 entsprechend.

42 Bundessteuerberaterkammer: Steuergerechtigkeit, S. 11.

43 BT-Drucks. 15/1548 vom 16.09.2003, S. 3.

(29)

2 Für die Anwendung von § 20 Absatz 1 Nummer 4 Satz 2 und Absatz 2b in der am 1. Januar 2007 geltenden Fassung gilt Absatz 25 entsprechend.

3 § 20 Absatz 1 Nummer 6 in der Fassung des Gesetzes vom 7. Septem- ber 1990 (BGBl. I S. 1898) ist erstmals auf nach dem 31. Dezember 1974 zugeflossene Zinsen aus Versicherungsverträgen anzuwenden, die nach dem 31. Dezember 1973 abgeschlossen worden sind.

4 § 20 Absatz 1 Nummer 6 in der Fassung des Gesetzes vom 20. Dezem- ber 1996 (BGBl. I S. 2049) ist erstmals auf Zinsen aus Versicherungs- verträgen anzuwenden, bei denen die Ansprüche nach dem 31. Dezember 1996 entgeltlich erworben worden sind.

5 Für Kapitalerträge aus Versicherungsverträgen, die vor dem 1. Januar 2005 abgeschlossen worden sind, ist § 20 Absatz 1 Nummer 6 in der am 31. Dezember 2004 geltenden Fassung mit der Maßgabe weiterhin anzuwenden, dass in Satz 3 die Wörter „§ 10 Absatz 1 Nummer 2 Buchstabe b Satz 5“ durch die Wörter „§ 10 Absatz 1 Nummer 2 Buchstabe b Satz 6“ ersetzt werden …44

Näher braucht hier auf das Steuerchaos im Einkommensteuerrecht nicht einge- gangen werden, denn das kennt jeder, der jährlich eine Einkommensteuererklärung abzugeben hat.

3.2 Unverdientes Vermögen

Lars P. Feld ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen, was ihn nicht an der Aussage hindert:

Die Erbschaftsteuer ist die größte Dummensteuer, die wir in Deutschland haben. Denn sie trifft denjenigen eher, der ein Vermögen von zwei Millionen Euro vererbt und nicht gestalten kann, als jemanden, der ein Erbe von 100 Millionen übertragen will.45

44 Hier werden nur die Sätze 1–5 des § 52 Abs. 28 zitiert. Danach folgen die Sätze 6–24 mit den zu berücksichtigenden Sachverhalten.

45 Feld, Lars P.: „Erbschaftsteuer ist die größte Dummensteuer“, in: Die Welt, 20.01.2013, auf:

https://www.welt.de/112900149 (letzter Zugriff: 31.01.2020).

(30)

Feld steht mit dieser Meinungsäußerung nicht allein da. Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages haben am 21. Februar 2019 zu der Frage, ob das geltende Erbschaft- und Schenkungsteuergesetz (ErbStG)46 verfassungsgemäß ist, auf die aktuelle rechtswissenschaftliche Kritik verwiesen:47

So urteilt Thomas Wachter zum Paragraf 13a ErbStG (Steuerbefreiung für Betriebsvermögen, Betriebe der Land- und Forstwirtschaft und Anteile an Kapitalgesellschaften): „Die Verfassungsmäßigkeit des neuen ErbStG erscheint in mehrfacher Hinsicht zweifelhaft. Die gilt nicht nur für zahlreiche Einzelfragen, sondern auch für die gesetzliche Regelung insgesamt.“48

Hermann-Ulrich Viskorf, ehemaliger Vorsitzender Richter und Vizepräsident des Bundesfinanzhofs, äußert sich zu der Frage der Verfassungsmäßigkeit wie folgt:

Auch die derzeitige Rechtslage bietet eine ganze Reihe verfassungs- rechtlicher Angriffspunkte. An der Grenzlinie zwischen der (viel zu) hohen Belastung mit Steuersätzen von 30 bis 50 Prozent beim Erwerb selbst kleinerer nicht begünstigter Vermögen (Eingangssteuersatz der St.-Klasse III: 30 Prozent) und der vollständigen Freistellung selbst größter Betriebsvermögen gibt es am Maßstab der Leistungsfähigkeit und am Gleichheitssatz gemessen keine überzeugende und verfassungs- rechtlich tragfähige Lösung.49

Auch der Rechtsanwalt und Steuerberater Florian Oppel erwartet eine erneute Vorlage beim Bundesverfassungsgericht: „Der Gesetzgeber hat hier ein neues gleichheitsrechtliches Problem geschaffen. Sicher ist vor diesem Hintergrund, dass

46 Das Gesetz zur Anpassung des Erbschaft- und Schenkungsteuergesetzes an die Rechtsprechung des BVerfG vom 04.11.2016 wurde von Bundestag und Bundesrat beschlossen und trat rückwirkend zum 01.07.2016 in Kraft.

47 Dokumentation der Wissenschaftliche Dienste im Bundestag: WD4 – 3000 – 010/19.

48 Wachter, Thomas: § 13a ErbStG, in: Fischer, Michael/Pahlke, Armin/Wachter, Thomas: ErbStG Kommentar. Komplettes Praxiswissen zur Erbschaftsteuer und Schenkungsteuer mit Bewertungsrecht, 6. Aufl., München 2017, Rz. 47.

49 o. V.: Die Zukunft des Erbschaftsteuerrechts. Interview mit Hermann-Ulrich Viskorf vom 08.11.2017, auf: nwb-experten-blog.de/die-zukunft-des-erbschaftsteuerrechts-interview-mit- hermann-ulrich-viskorf/ (letzter Zugriff: 26.04.2019).

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