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Leben und psychotherapeutisch Arbeiten in der Corona-Krise - eine subjektive Bestandsaufnahme im Frühjahr Ursula Baldt-Kolbesen

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Academic year: 2022

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Leben und psychotherapeutisch Arbeiten in der Corona-Krise - eine subjektive Bestandsaufnahme im Frühjahr 2020

Ursula Baldt-Kolbesen

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Abschlussarbeit für die fachspezifische Ausbildung in Existenzanalyse

Datum der Einreichung: 17.06.2020

eingereicht von Mag. Ursula Baldt-Kolbesen

eingereicht bei Mag. Doris Fischer-Danzinger

eingereicht bei Dr. Franz Scheßl

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Inhaltsverzeichnis

Überblick - Abstract S. 2

Einleitung S. 3

I. Das Corona-Virus – eine Pandemie: S. 3

II. Ausbreitung und Folgen der Corona-Pandemie S. 4

II.1. Der Beginn der weltweiten Verbreitung des Virus II.2. Der Übertritt des Virus von Asien auf Europa und die USA

II.3. Die unmittelbaren Folgen der Pandemie auf die lokalen Gesundheitssysteme Europas

III. Die aktuelle Situation in Österreich S. 7

III.1. Die einschneidenden Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung der Pandemie III.2. Fake News, Hamsterkäufe und Verschwörungstheorien

IV. Die Pandemie und ihre (vergebliche) Bekämpfung als kollektive Trauma-Erfahrung S. 11 IV.1. Die Situation in Italien als potenzieller Auslöser für ein länderübergreifendes Trauma-Erleben

IV.2. Trauma als kollektives Erleben und krankhafte Verfestigung im Menschen IV.3. Die Corona-Krise und Beispiele ihrer konkreten traumatischen Auswirkungen IV.4. Die Trauma-Wirkung aus existenzanalytischer Sicht

V. Umgangsformen mit der Bedrohung und diverse Auswirkungen der Corona-Krise S. 15 V.1. Die Corona-Pandemie als Auslöser einer mehrfachen gesellschaftlichen Krise

V.2. Kunst und Musik als mögliche positive Bewältigungsstrategien der Corona-Krise V.3. Der Humor als Coping Strategie im Umgang mit Bedrohung und Bedrängnis V.4. Neue Raumvermessung: Distanz und Nähe in Zeiten der Corona-Krise V.5. Menschliche Grundbedürfnisse und Werte sind in Gefahr

VI. Meine persönliche Erfahrung mit der therapeutischen Arbeit in der aktuellen Krise S. 21 VI.1. Reaktion verschiedener Patientengruppen auf die Ausgangsbeschränkungen

VI.2- Handlungsempfehlungen bei psychotherapeutischer Arbeit in der Corona-Krise VI.3. Persönliche Anforderungen für Psychotherapie über das Telefon oder das Internet VI.4. Datenschutz

VI.5. Telefonische Psychotherapie VI.6. Psychotherapie über das Internet

VII. Der Fragebogen zur Überprüfung meiner eigenen Erfahrungen S. 29

VIII. Rückmeldungen zum Fragebogen S. 32

VIII.1. Therapiepause oder welches Ersatzmedien für Psychotherapie?

VIII.2. Erfahrungen mit unterschiedlichen Patientengruppen

VIII.3. Eindrücke der neuen Erfahrung von Therapie per Telefon oder Internet VIII.4. Auswirkungen der Corona-Krise auf das Therapiegeschehen

VIII.5. Weshalb werden psychische Leiden durch diese Krise verstärkt?

IX. Kurzbefragung und Antworten der KollegInnen zum letzten Stand der Entwicklungen S. 36

X. Die Corona-Krise im Spiegel der Existenzanalyse – eine persönliche Rückschau S. 40

Resümee und Ausblick S. 42

Literaturverzeichnis S. 44

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Überblick:

Die vorliegende Arbeit entstand in den ersten 11 Wochen der Corona-Krise in Österreich unter dem Eindruck eines historisch einmaligen Lock downs beinahe der ganzen Welt und ist im ersten Teil als persönliche Beobachtung zu Ausbruch und Auswirkungen einer Krise zu lesen. Zunächst werden die Pandemie und die einschneidenden Maßnahmen der

österreichischen Regierung zur Bekämpfung der Ausbreitung vorgestellt bevor auf mögliche traumatische Auswirkungen der Krise, häufig auftretende Coping Strategien sowie subjektiv beobachtete gesellschaftliche Veränderungen eingegangen wird.

Der zweite Teil der Arbeit versucht den unmittelbaren Einfluss dieser Krise auf die Arbeit als Psychotherapeutin zu beschreiben, persönliche Erfahrungen mit neuen

Kommunikationswegen und unterschiedlichen Patientengruppen werden durch einen Fragebogen an existenzanalytische KollegInnen ergänzt.

Schlüsselwörter: Corona-Virus, Pandemie, kollektives Trauma, Existenzanalyse, Umgang mit Krisen, neue Wege der psychotherapeutischen Arbeit, Fragebogen, Auswirkungen der Corona-Krise auf PatientInnen;

Abstract:

The present thesis has been written during the first 11 weeks of the Corona-crisis in Austria under the impression of a historically unique lock-down of nearly the whole world. Its first part should be read as a personal observation of the outbreak and the impacts of a crisis. In the beginning the pandemic and the drastic policies of the Austrian government to control the spreading of the virus are presented, before going into possible traumatic effects of the crisis, some frequent coping strategies and a subjective perception of social changes.

The second part of the thesis tries to describe the immediate influence of this crisis on the work as a psychotherapist. Personal experiences with new means of communication and different groups of patients are completed by a questionnaire answered by collegues of Existential Analysis.

Key words: Corona virus, pandemic, collective trauma, Existential Analysis, handling of a crisis, new ways of psychotherapeutic work, questionnaire, effects of the Corona crisis on patients:

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Einleitung

Aus der Krise eine Chance machen – dieser Leitspruch hat mir beim Abfassen dieser Arbeit zweifach geholfen. Da ich bei Ausbruch der Pandemie intensiv mit der Themensuche beschäftigt war, fiel mein Augenmerk sehr schnell auf dieses vielseitige Thema, und ich begann mich von Anfang an intensiv für die Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen auf mich, meine Umgebung, meine Arbeit und meine PatientInnen zu interessieren. Sehr schnell wurde mir klar, dass diese mehrfache Krisensituation ein sehr spannendes Thema für eine Abschlussarbeit darstellen könnte, und ich beschloss, meine persönlichen Beobachtungen durch die Erfahrungen anderer ExistenzanalytikerInnen, die ich in einer Umfrage mittels Fragebogen erhoben habe, zu ergänzen. Die zweite Chance, die die Corona-Krise, diese ungewöhnliche, plötzlich über uns hereingebrochene Auszeit mit dem wochenlangen Stillstand beinahe jeglichen gesellschaftlichen Lebens mir bot, war ein ungewohntes Übermaß an Zeit, die ich perfekt zum Lesen, Sammeln und Schreiben meiner Arbeit verwenden konnte.

Wenn die Corona-Krise durch die vielen Toten und die große existenzielle Bedrohung vieler nicht so nachhaltig tragisch wäre, könnte man diese in dieser Form noch nie dagewesene Zeit auch wie ein gigantisches sozialpsychologisches Experiment sehen. Die Auswirkungen der Krise auf die Gesellschaft im Allgemeinen und Menschen in psychotherapeutischer Behandlung im Speziellen zu erforschen wird die Wissenschaft noch viele Jahre lang beschäftigen. Meine Beobachtungen sind rein subjektiv ausgewählten Themenbereichen gewidmet. So habe ich u.a. die medizinischen Fakten sehr verkürzt dargestellt, die

wirtschaftlichen Auswirkungen fast zur Gänze weggelassen und bewusst keine persönliche Stellungnahme zu (gesellschafts-)politischen Thematiken abgegeben. Das Thema ist zum einen schwer einzugrenzen, weil es aus vielen Perspektiven zu betrachten ist, vor allem aber ist die Thematik noch „sehr frisch“ und beschreibt im Grunde einen Prozess, der immer noch fortschreitet. Daher umschreibt die im Titel angegebene Zeitspanne von „Frühjahr 2020“

ziemlich exakt die Zeit zwischen 12. März 2020 bis 31. Mai 2020, viele Auswirkungen der Krise auch auf unsere PatientInnen lassen sich jedoch jetzt noch nicht einfangen, viele Studien werden sich wohl noch mit dieser Thematik befassen.

I. Das Corona-Virus – eine Pandemie

Als Pandemie wird eine Länder- und Kontinente übergreifende Ausbreitung einer Infektionskrankheit beim Menschen bezeichnet. Im Unterschied zur Epidemie ist eine Pandemie örtlich nicht beschränkt, es kann aber auch bei Pandemien Gebiete geben, die nicht von der Krankheit betroffen werden.

Das Wort Pandemie geht zurück auf das Altgriechische und setzt sich aus den zwei Worten für all, ganz, jeder und Volk zusammen, heißt also wörtlich das ganze Volk (betreffend).

Schon im Altertum und im Mittelalter gab es große Pandemien v.a. der Pest (auch“Der Schwarze Tod“ genannt) mit vielen Millionen Toten. Als besonders verheerend ist die

Spanische Grippe in die Geschichte eingegangen, sie forderte am Ende des ersten Weltkriegs bis zu 50 Millionen Tote. Seit etwa 1980 kennen wir die weltweite Ausbreitung von HIV/AIDS mit vielen Opfern aber mittlerweile schon wesentlich besseren Behandlungsmethoden.

In Bezug auf die Influenza hat die Weltgesundheitsorganisation in ihren zuletzt im Mai 2017 überarbeiteten Leitlinien zum Pandemic Influenza Risk Management(WHO, 2017) festgelegt,

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dass die Ausrufung einer Pandemie – also der Übergang von einer Epidemie zur Pandemie – durch den Generaldirektor der WHO erfolgt. In dieser überarbeiteten Fassung wurde die 2005 von der WHO getroffene Einteilung in sechs voneinander trennbaren Phasen bis zur Ausrufung einer Pandemie durch ein zyklisches Kontinuum ersetzt, das heißt einen gleitenden Übergang von Phase 1 zu Phase 4 und danach erneut zu Phase 1.

Interpandemische Phase: Dies ist die Phase zwischen zwei Influenza-Pandemien, in der Vorbereitungen auf eine mögliche Pandemie getroffen werden können.

Bereitschaftsphase (Alert Phase): Ein neuer Influenza-Subtyp wurde beim Menschen nachgewiesen. Diese Phase ist gekennzeichnet durch erhöhte Wachsamkeit und sorgfältige Abschätzung möglicher Risiken auf lokaler, nationaler und globaler Ebene.

Falls die Beurteilung der Risiken ergibt, dass keine weltweite Ausbreitung zu erwarten ist, kann eine Deeskalation eingeleiteter Maßnahmen erfolgen.

Pandemische Phase: Aufgrund der Beobachtung virologischer, epidemiologischer und klinischer Befunde gilt als gesichert, dass sich der neue Subtyp weltweit ausbreitet und Maßnahmen ergriffen werden müssen. Der Wechsel von der interpandemischen Phase zur Bereitschaftsphase und zur Pandemiephase kann rasch oder allmählich erfolgen.

Übergangsphase (Transition Phase): Sobald sich das Infektionsgeschehen abschwächt, also eine Verbesserung der Lage eintritt, kann eine weltweite oder durch einzelne Staaten veranlasste Deeskalation eingeleiteter Maßnahmen erfolgen.

Interpandemische Phase: Dies ist die nächste Phase zwischen zwei Influenza- Pandemien.(WHO, 2017).

Am 30. Jänner dieses Jahres bezeichnete die WHO die durch das SARS-CoV-2-Virus seit Dezember 2019 zunächst im asiatischen Raum verursachte Ausbreitung von Corona Viren als internationale Gesundheitsnotlage, am 11. März dieses Jahres erklärte sie das weltweite Infektionsgeschehen zur Pandemie.

Seit einigen Jahren gibt es allerdings – ausgelöst durch Influenza-Epidemien wie der Schweine- und der Vogelgrippe, bei der 10-50 % einer Bevölkerung lokal infiziert wurden - vielerorts große Befürchtungen, es könne in Zeiten der Überbevölkerung und der

Globalisierung irgendwann zu einer Pandemie einer wesentlich pathogeneren Erkrankung, das heißt einer Erkrankung mit viel höherer Todesrate wie beispielsweise Ebola kommen.

Etliche Virologen und Mediziner sehen daher in der aktuellen Corona-Pandemie eine für die Gesellschaft und die nationalen Gesundheitssysteme zwar schwierige, aber dennoch

wichtige Übung für so einen Ernstfall. Jedenfalls wird die Corona-Pandemie diesbezüglich Auswirkungen haben und die Regierungen dazu zwingen, sich für ähnliche medizinische Ausnahmezustände in Zukunft besser zu rüsten.

II. Ausbreitung und Folgen der Corona-Pandemie

II.1. Der Beginn der weltweiten Verbreitung des Virus

Die Ausbreitung des Corona-Virus nahm im Dezember 2019 in Wuhan der Hauptstadt der chinesischen Provinz Hubei ihren Ausgang. Insgesamt wurden in China den offiziellen Zahlen zufolge mehr als 81.000 Erkrankungen mit dem Corona Virus bestätigt, ein Großteil davon in der zentralchinesischen Millionenmetropole Wuhan, wo sich mehr als 50.000 Menschen

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infizierten. Rund 3.300 Patienten und Patientinnen starben bis Ende März landesweit an den Folgen einer Corona-Infektion. Im Jänner wurde die 60 Millionen Einwohner zählende

Provinz gänzlich von der Außenwelt abgeschottet. Neben einer allgemeinen Ausgangssperre ordneten die chinesischen Behörden im Jänner die Schließung aller Schulen, Universitäten und Unternehmen an. In der Folge sank die Zahl der Neuinfektionen, und den

Gesundheitseinrichtungen wurde die dringend benötigte Zeit verschafft. Am 24. April wurde die über zwei Monate dauernde totale Isolation der Millionenstadt wieder aufgehoben und erste Lockerungen der extremen Maßnahmen erlaubt. Die beratenden Experten empfahlen den müden chinesischen Behörden allerdings dringend, darauf zu achten, dass die

Kontaktverbote nicht zu früh aufgehoben würden, da andernfalls ein zweiter Anstieg der Fallzahlen drohe. Denn es gilt als gesichert, dass die rasche Eindämmung des Virus ein großes Risiko eines Rückfalls mit sich bringt. Ziel der chinesischen Regierung war es daher, die Beschränkungen für die Bevölkerung von Wuhan nur allmählich zu lockern, damit ein abermaliger Anstieg verzögert und die Kurve, der am Virus Erkrankten abgeflacht werde.

II.2. Der Übertritt des Virus von Asien auf Europa und die USA

Ende Jänner 2020 wurden erste vereinzelte Ansteckungen mit SARS-CoV-2 in Europa bekannt, im Februar wurden aus Italien die ersten beiden Europäer gemeldet, die an den Folgen des Virus verstarben. In den darauffolgenden Wochen wurde Italien zunehmend zum neuen Zentrum der Pandemie. Am 19. März wurden hier erstmals mehr Todesopfer

registriert als in China. Im März entwickelte sich neben China Europa zum Zentrum der Pandemie mit den hauptbetroffenen Ländern Italien, Spanien, Frankreich, Schweiz,

Österreich und Deutschland. Aber auch in den USA stieg die Zahl der Corona-Erkrankungen rapid an, am 27. März wurden hier bereits über 100.000 Infizierte gemeldet. Mitte April wurde die USA zu einem der wesentlichen Epizentren der Pandemie, seine Medien setzten die Todesopfer mit vergangenen amerikanischen Traumata in Relation: Manche Tage

brächten an einem einzigen Tag mehr Tote als die Terroranschläge von 11. September 2001.

Insgesamt seien bereits über 100.000 Amerikaner gestorben, bei weitem mehr als im Vietnamkrieg, einem weiteren nationalen Trauma.

Bestätigte Tote (kumuliert) weltweit, davon in China bis 2. April 2020, nach Daten der WHO

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Waren am 2. April 2020 über eine Million Fälle von Infizierten in über 200 Ländern und Territorien bekannt, exklusive der großen Dunkelziffer, von der alle einschlägigen Experten ausgehen, so stiegen die Zahlen bis Ende Mai auf über 6 Millionen weltweit. International gesehen hat sich die Corona-Pandemie außerhalb Chinas mittlerweile neben der USA mit bereits über einer Million Erkrankten und Europa mit v.a. Großbritannien, Spanien und Italien als Hauptbetroffene speziell in Süd-Amerika, vor allem dem Hotspot Brasilien ausgebreitet, wo trotz geringer Testzahlen bereits eine halbe Million Erkrankter und fast 30.000 Tote zu beklagen sind. Während seit Mitte April das Interesse an der Covid-19- Berichterstattung weltweit abflaut, gehen wirtschaftliche und politische Erdbeben weiter.

Am 20. April stand für viele die Welt auf dem Kopf, denn der Ölpreis fiel erstmals unter 0 Dollar. Am 19. Mai drohte der amerikanische Präsident mit dem Austritt der USA aus der WHO und die Krise zwischen den Großmächten China und den USA spitzte sich weiter zu.

II.3. Die unmittelbaren Folgen der Pandemie auf die lokalen Gesundheitssysteme Europas

Die Corona-Krise offenbarte in vielen europäischen Ländern wie zu Beginn vor allem in Italien, später aber auch in Frankreich, Spanien und England große Mängel in den nationalen Gesundheitssystemen im allgemeinen und im konkreten die schlechte Vorbereitung auf unvorhergesehene medizinische Krisensituationen wie die aktuelle Corona-Pandemie. Die Produktionsmöglichkeiten und die Bevorratung von Schutzausrüstungen für medizinische Fachkräfte und Pflegepersonal wie Mund-Nasen-Masken und Schutzanzüge sowie

Desinfektionsmaterial und Testreagenzien waren in den meisten Ländern nicht im

ausreichenden Maße gegeben. Durch Transportprobleme wegen Grenzschließungen auch innerhalb der EU, Hamsterkäufen und dem brutalen Anstieg der Kosten durch das geringe Angebot bei erhöhter Nachfrage kam es hier von Anfang an in einigen Ländern zu massiven Engpässen, wodurch der Ausbreitung des Virus vor allem in Krankenhäusern und

Altersheimen keine wirksamen Maßnahmen entgegengesetzt werden konnten. Obwohl mittlerweile allerorten riesige Ressourcen freigesetzt wurden, um der weltweiten Forschung zu ermöglichen, Medikamente gegen das neuartige Virus zu finden, wird das Entwickeln, Erproben und Produzieren von effizienten Wirkstoffen selbst im allerbesten Fall wohl noch einige Monate dauern.

Auch Massenimpfungen kommen bei einer Pandemie für die erste Erkrankungswelle erfahrungsgemäß immer zu spät, da der Gipfelpunkt der ersten Erkrankungswelle meist schon zwei bis drei Monate nach dem Beginn der Pandemie erreicht wird und die akute Pandemiephase nach etwa vier Monaten beendet ist, stellen aber eine große Hoffnung für die weitere Bekämpfung einer Pandemie dar. Allerdings benötigt die Forschung mindestens ein bis zwei Jahre bis solche Impfungen auf den Markt kommen könnten. Im Oktober 2006 wurde auf einem Kongress zum Thema Influenza in Wien bekannt, dass zum damaligen Zeitpunkt mehr als 95 % aller Impfstoffe in nur neun Ländern der Welt produziert würden.

Mittlerweile wurden die Produktionskapazitäten zwar erheblich ausgeweitet, allerdings bleibt auch hier eine große Abhängigkeit weiter Teile der Weltbevölkerung von einzelnen Ländern bestehen.

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III. Die aktuelle Situation in Österreich

Nach der in Kapitel I näher erläuterten Einteilung der WHO von 2017 befand sich Österreich zu Beginn des Verfassens dieser Arbeit Ende März/Anfang April in der „pandemischen Phase“, das heißt einer akuten, äußerst prekären Lage, in der die Ausbreitung des bis dahin nahezu unbekannte Virus in einer Exponentialkurve steil nach oben zu steigen begann und die Erkrankungen und Todesfälle in hohem Tempo zunahmen.

Bei Abschluss dieser Arbeit Ende Mai ließ sich die Situation in Österreich in die

„Übergangsphase“ einordnen, in der definitionsgemäß die schrittweise Deeskalation von behördlich verordneten Vorschriften und Einschränkungen im Kampf gegen die Pandemie erfolgt. Diese Phase wird von Experten als sehr heikel beschrieben, da ein zu schnelles Zurücknehmen von Verordnungen und ein zu rascher Übergang zum Normalbetrieb einer Gesellschaft möglicherweise zu einem Rückfall, einer sogenannten zweiten Welle führen könnte.

Beschrieben habe ich in dieser Arbeit in den nächsten Unterkapiteln vermehrt meine Eindrücke aus der pandemischen Phase. Im zweiten Teil der Arbeit (ab Kapitel VI), der sich mit der konkreten psychotherapeutischen Tätigkeit in der Corona-Krise beschäftigt, habe ich versucht die therapeutische Situation am Beginn meiner Schreibarbeit Anfang April und am Ende meiner Schreibarbeit Ende Mai zu untersuchen und zu beschreiben.

Den letzten offiziellen Status bei Beendigung dieser Arbeit soll folgende Grafik

veranschaulichen. Sie zeigt die Ansteckungszahlen im Verlauf der Zeit unter zeitlicher Angabe der Bekämpfungsmaßnahmen und deren schrittweiser Zurücknahme und legt den momentanen Reproduktionsfaktor des Virus mit 29. Mai auf 0,9 fest.

Stand in Österreich, 31.05.2020, 12.00 Uhr

16.638 positiv Getestete 448.534 durchgeführte Testungen 470 Kranke (inkl. Spital) 638 Verstorbene (EMS) 70 im Spital (ohne Intensiv) 27 Intensivpatienten

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Quelle: Gesundheitsministerium/EMS (Aktualisierung: Stündlich)

III.1. Der Beginn der einschneidenden Maßnahmen der österreichischen Regierung zur Bekämpfung der Pandemie

Am 25. Jänner 2020 erließ der österreichische Gesundheitsminister in Absprache mit den zuständigen EU-Behörden und der WHO eine Anzeigenpflicht gemäß dem österreichischen Epidemie-Gesetz für Verdachtsfälle, Erkrankungen und Todesfälle , die auf das Corona Virus zurückzuführen sind, und das Außenministerium sprach erste Reisewarnungen für die besonders betroffene zentralchinesische Provinz Hubei aus.

Am 10. März 2020 wurde die Grenze zu Italien weitgehend geschlossen und die Bevölkerung erstmals dazu aufgerufen soziale Kontakte so weit wie möglich zu reduzieren. Viele

Großveranstaltungen wurden in der Folge abgesagt, die Menschen zu häufigem Händewaschen und Abstand halten angehalten. Ich kann mich erinnern, dass etwa ab diesem Moment das Händeschütteln und Abbusseln bei Begrüßung und Abschied bei vielen bereits eingestellt wurde. Ich selbst hatte am Wochenende davor für mich beschlossen, meine Therapiesitzungen nicht mehr mit Handgeben zu eröffnen und zu beenden und meinen PatientInnen mein neues Verhalten zu erklären, kann mich aber erinnern, dass es mir und einer meiner Patientinnen am 11. März noch einmal „passiert ist“, dass wir uns beim Auseinandergehen wie automatisch die Hand gaben.

Am 12. März wurde in Österreich der erste Corona Tote gemeldet, am 13. März um 11h09 hörte und sah ich mir mit meinen Kindern in deren Studentenwohnung in Wien, wohin ich für zwei Supervisionen angereist war, sehr gespannt die erste Pressekonferenz von Teilen der österreichischen Bundesregierung an. Bei dieser Pressekonferenz, der später unter Beiziehung des Vizekanzlers noch viele folgen würden, sprachen der Kanzler und die Minister für Gesundheit und für Inneres in sehr ernstem Ton und forderten die Menschen in

Österreich zu oftmaligem Händewaschen und/oder desinfizieren und Abstand Halten auf.

Das soziale Leben solle auf ein Minimum reduziert werden, um die exponentielle Verbreitung des Virus einzudämmen. Als erste Maßnahme wurden bis auf weiteres alle größeren Veranstaltungen verboten, die Grenzen zu Italien geschlossen und einige Regionen in Tirol unter Quarantäne gestellt, der wenig später einige Bezirke in Salzburg und ein Ort in Kärnten folgten. Am 19. März beschloss Tirol selbst die völlige Abschottung des ganzen Bundeslandes und strenge Ausgangsregelungen innerhalb Tirols, eine Quarantäne, die bis 23.4. aufrecht blieb.

Ab Montag, den 16. März wurden in ganz Österreich alle Bildungseinrichtungen, sämtliche Geschäfte und Dienstleistungsbetriebe behördlich geschlossen mit Ausnahme der

Apotheken und Lebensmittelgeschäfte, die ab sofort nur mehr mit Gesichtsmasken oder einem Tuch vor dem Gesicht betreten werden durften. Die Bevölkerung wurde aufgefordert ihr zu Hause nur noch in dringendsten Fällen zu verlassen, um einkaufen für sich oder andere zu gehen, um zur Arbeit zu gehen falls Homeoffice nicht möglich ist oder um sich kurz die Füße zu vertreten. Keinesfalls sollte man mit Corona-Verdacht zum Arzt oder ins

Krankenhaus gehen, sondern eine bestimmte Hotline anrufen, die einem weiterhelfen werde. Dringend wurde davor gewarnt ältere Menschen zu treffen, Besuche in Altenheimen und Krankenhäusern wurden ausnahmslos verboten. In der Karwoche wurden die Menschen mehrmals am Tag über alle medialen Kanäle aufgefordert sich an die Beschränkungen zu

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Haushalt zusammenleben würden. Slogans aus dieser Zeit wie die folgenden werden mir und vielen anderen noch lange in Erinnerung bleiben:

So schützen wir uns - Schau auf dich, schau auf mich!

BLEIB zu Hause, HALTE Abstand zu Anderen, WASCHE deine Hände regelmäßig HUSTE in deine Armbeuge, BERÜHRE dein Gesicht nicht

Halten Sie Abstand – wir halten Sie auf dem Laufenden – So schaffen wir das!

Nach Ostern präsentierte die Regierung ihre Pläne für ein langsames Hochfahren der Systeme: Die Maskenpflicht wurde auf öffentliche Verkehrsmittel ausgedehnt und sollte in der Folge auch für die Öffnung der kleinen Geschäfte ab 14. April, alle Geschäfte und Dienstleister wie Friseure ab 1. Mai sowie Schulen in Schichtbetrieb und Gaststätten ab Mitte Mai (teilweise) gelten. Viele Branchen wie u.a. die Kindergärten, die stufenweise ab Anfang Mai wieder geöffnet wurden, haben bis heute große Schwierigkeiten mit dem komplizierten Regelwerk. Besuche in Altersheimen wurden zum Glück ab 4. Mai wieder teilweise ermöglicht, Branchen wie die Hotellerie und die Kultur mussten aber sehr lange auf Vorschriften für ihr langsames Hochfahren warten, was letztlich in Rücktritt und

Neubesetzung der Staatssekretärin für Kultur gipfelte. Für viele ÖsterreicherInnen war und ist diese Krise virulent und erfordert(e) große Anpassungsleistung. Ende Mai sind unter dem gestiegenen Druck der Bevölkerung recht plötzlich viele Erleichterungen in Aussicht gestellt worden, die Grenzen werden Zug um Zug geöffnet, die Masken werden zuletzt ausschließlich in Spitälern und Ordinationen verpflichtend getragen werden müssen.

III.2. Fake News, Hamsterkäufe und Verschwörungstheorien

Kurz vor der ersten mit Spannung erwarteten Pressekonferenz am 13. März 2020 waren fake news durch die sozialen Medien kursiert, die unter anderem davor warnten, dass Wien kurz vor einer kompletten Schließung stünde. Daraufhin brach bei vielen Menschen eine Art von Panik aus. Menschen verließen Hals über Kopf ihre Arbeitsstätten, Studierende wurden von ihren Eltern in einer Horuck-Aktion mit dem Auto nach Hause in die Bundesländer geholt, Lebensmittelgeschäfte und Apotheken wurden durch Hamsterkäufe teilweise leergekauft.

Eine leichte Entspannung nicht nur für die Wiener Bevölkerung trat nach der

Pressekonferenz ein, als sich herausstellte, dass es sich bei der bevorstehenden Schließung von Wien nur um fake news gehandelt hatte. Scherzkekse hatten sogar die Stimme des Finanzministers nachgemacht und in seinem Namen streng vertrauliche Informationen, unter anderem eben die komplette Abschottung der Bundeshauptstadt natürlich unter dem strengsten Siegel der Verschwiegenheit weitergegeben. Bei diesem Erlebnis stellte sich mir schon die Frage: Warum waren so viele, auch intelligente Menschen auf diese Nachricht hereingefallen? Dabei war das Gerücht nicht einmal sehr glaubwürdig, weil Wien zu diesem Zeitpunkt bei der gesicherten Zahl der Erkrankten und Toten in der Statistik bei weitem nicht auf den vordersten Rängen lag.

Fake news können unter bestimmten Umständen auf einen besonders fruchtbaren Boden fallen und so äußerst erfolgreich sein. Besonders zu Beginn der Corona-Krise hatte jeder an sich wissbegierige interessierte Mensch ein großes Problem. Man war bis dato eher

uninformiert bzw. kannte sich in der Vielzahl der veröffentlichen Meinungen nicht aus. Es war in der Flut der teils sehr widersprüchlichen Informationen, dem auf allen Kanälen verbreiteten Halbwissen (selbsternannter) Experten nahezu unmöglich, sich selbst ein

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eigenes Bild der Realität machen. Dass “der Feind“ in diesem Fall ein bislang unbekanntes, unsichtbares kleines Virus war, das überall und vor allem in Kontakt mit jedem unserer Mitmenschen auf uns lauern könnte, unterhöhlte unser Vertrauen und machte Angst. Angst wiederum kann zu panischem Verhalten führen. Wir kennen die Flucht (Arbeitsstätte, -ort fluchtartig verlassen) als eine typische Reaktion auf Angst, Hamsterkäufe und „letzte Erledigungen“ würden dem Kampf-Reflex entsprechen. Der ohnehin von der Regierung verordnete Rückzug in die eigenen vier Wände (Homeoffice, Sperre der öffentlichen Räume) stellt die dritte Möglichkeit dar, auf großen Stress zu reagieren.

Mittlerweile hat die WHO einen eigenen Begriff, nämlich den der „Infodemie“ geprägt, der sehr treffend den Tsunami an fake news bezeichnet. Die wildeste Phase der Infodemie war für mich in der Zeit um den 13. März zu beobachten, bevor die genauen Inhalte der strengen Maßnahmen der Regierung bekannt wurden. In dieser Phase der extremen Unsicherheit spiegelten sich in den meist per Whats App kursierenden Kettenbriefen mit teils absurden Mutmaßungen vor allem die großen Ängste wider vor den möglichen Folgen eines

kompletter Lock downs. Nachdem die heute in Österreich lebenden Generationen eine Maßnahme wie eine Ausgangssperre oder Ähnliches noch nie selbst erlebt haben, ist es mehr als verständlich, dass in Bezug auf ein solches unbekanntes Geschehen viele Ängste vorhanden sind.

Im Verlauf der Corona-Pandemie wandelten sich die Falschmeldungen inhaltlich. In der zweiten Phase der „Infodemie“ wurden fatalerweise sehr viele falsche Gesundheitstipps verbreitet. Das berühmteste Beispiel kam vom Präsidenten der USA höchstpersönlich, der auf einer Pressekonferenz intravenös verabreichtes Desinfektionsmittel als

Präventionsmittel gegen das Corona-Virus ins Spiel brachte. Neben der medialen

Verbreitung diverser Heilmittel wie Kokain, Bleichmittel, Methylalkohol oder Vulkanasche begann in der letzten, aktuellen Phase mehr und mehr das Thema der Schuldzuweisung an Brisanz zu gewinnen und weltumspannende Verschwörungstheorien blühten auf. Vom (von den Chinesen, dem CIA, der Pharmaindustrie, etc.) absichtlich ausgesetzten Virus bis zu einer Weltverschwörung durch Bill Gates, der mit seiner wohltätigen Stiftung nicht die

medizinische Forschung zur Corona-Bekämpfung fördere, sondern eine absolute

Machtergreifung beabsichtige reichte, hier die große Palette verwegener Theorien, und sie fallen teilweise immer noch auf fruchtbaren Boden.

Ich denke, dass vor allem Menschen mit geringem Selbstwert oft auf solche

Verschwörungstheorien hereinfallen, weil sie sich mit der festen Überzeugung als einzige die

„echte Wahrheit“ zu kennen und der Weitergabe derselben selbst erhöhen können. Gerade in unsicheren Zeiten sind Verschwörungstheorien sehr attraktiv. Für viele Menschen ist das Eingeständnis, derzeit vieles nicht zu wissen äußerst schwierig und eine subjektive

Gewissheit daher sehr verlockend. Ähnlich wie ein Virus verbreiten sich Falschmeldungen und Verschwörungstheorien in unserem digitalen Zeitalter sehr schnell, auch weil fanatisch überzeugte Menschen immer versuchen, andere von ihren Ideen zu überzeugen.

Eine große Gefahr der sich immer mehr verbreitenden Verschwörungstheorien bestand nicht nur für ängstliche Menschen im Allgemeinen, sondern im Speziellen für Menschen mit paranoiden Zügen, die sich in ihrem Verfolgungswahn (endlich) bestätigt sahen. Diese Verstärkung neurotischen, wahnhaften Erlebens wurde noch durch die Tatsache verstärkt, dass Kontakte zu Bezugspersonen mit intaktem Realitätssinn im persönlichen Umkreis, aber auch zu ÄrztInnen und TherapeutInnen in den Zeiten der Corona-Krise häufig vermindert oder gar ganz abgebrochen waren.

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IV. Die Corona-Pandemie und ihre (vergebliche) Bekämpfung als mögliche kollektive Trauma-Erfahrung

IV.1. Die spezielle Situation in Italien als potenzieller Auslöser für länderübergreifendes Trauma-Erleben

Im Gegensatz zu Österreich ist die medizinische Versorgung der Menschen in einigen

Ländern im Zuge der Corona-Pandemie an ihre äußersten Grenzen gekommen bzw. teilweise komplett zusammengebrochen. Besonders betroffen waren Teile von Nord-Italien, von wo wir in Österreich Mitte März beinahe täglich im Fernsehen furchtbare Bilder von

Geisterstädten, in Zelten auf Feldbetten zusammengepferchten PatientInnen, überforderten ÄrztInnen und dem Abtransport hunderter Särge aus der Region gesehen und Interviews mit verzweifelten Angehörigen von Schwerkranken und Toten sowie völlig abgekämpftem medizinischen Personal gehört haben. Zuzüglich zur Information über die immense Zahl an Toten auch unter den helfenden Berufen wie medizinischem Personal, Polizisten, etc. waren diese Bilder und Worte sehr eindrücklich für mich und wohl die meisten ÖsterreicherInnen.

Während uns in Österreich die ersten Meldungen und die ebenfalls verheerenden Bilder vom Kampf gegen das Virus aus dem fernen China vergleichsweise viel weniger berührten, hatten die Eindrücke aus Italien auf viele ÖsterreicherInnen viel stärkere Auswirkungen, besonders hier im Süden Österreichs, wo wir - meine PatientInnen und ich - wohnen und arbeiten. Aus der Trauma-Forschung wissen wir, dass der Grad der Identifizierung das

wesentliche Kriterium ist, ob Menschen eine sekundäre Traumatisierung erleiden oder nicht.

Nach A. Kühner (2008) würden Ländergrenzen dabei keine Rolle spielen. Im Prinzip hänge der Grad der Identifizierung vielmehr davon ab, wie sehr sich jemand mit einem Ereignis identifiziere oder ob er das Gefühl habe: „Das hätte mir auch passieren können“. Italien ist für mich wie für viele KärntnerInnen nicht nur ein beliebtes Urlaubsland. Wie viele andere KärntnerInnen spreche ich die Sprache und habe viele persönliche Kontakte und Freunde in Italien, teilweise gerade aus der betroffenen Region, von denen ich immer wieder

schreckliche, verzweifelte Nachrichten bekommen habe. Italien hat schon immer eine große Rolle in meinem Leben gespielt. Wenn ich einem Menschen aus Übersee beschreibe, wo ich wohne, verwende ich häufig Italien als Bezugspunkt und sage in etwa „eine halbe Stunde von der Grenze zu Italien und 2,5 Stunden von Venedig entfernt“. Das italienische

Lebensgefühl, das Temperament, die gute Küche, das berühmte „Dolce fa niente“ sind mir sehr vertraut, und ich machte mir während der letzten Wochen sehr oft darüber Gedanken, wie die ItalienerInnen dieses kollektive Trauma-Erlebnis überstehen würden.

IV.2. Trauma als kollektives Erleben und krankhafte Verfestigung im Menschen

Unter Trauma versteht man ein schädliches Ereignis, das „außerhalb der üblichen Menschen Erfahrung“ liegt (Vermetten etal. 2000, S.67), also ein Erlebnis von außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophalen Ausmaß. Es löst bei vielen Menschen Hilflosigkeit, Angst oder Verzweiflung aus. Für eine mögliche psychische Folgewirkungen ist ein nicht selbst durchlebtes, sondern nur bezeugtes Trauma, eine sogenannte sekundäre Traumatisierung bereits ausreichend. Da in der Corona-Krise durch die von den Regierungen gesetzten Maßnahmen (totaler Lock down des gesellschaftlichen Lebens, Besuchsverbote bei älteren

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Menschen,…) für viele das „disclosure“, die zwischenmenschliche Einbettung und Kommunikation über das Erlebte wegfiel, und somit die Möglichkeit fehlte, das selbst erlebte oder auch nur mitgefühlte traumatische Leid mit emphatischen Mitmenschen zu besprechen und in den Lebenskontext einzuordnen - könnte es manchen Betroffenen passieren, dass sie das Ereignis langfristig nicht verarbeiten können. Vor allem Menschen - aber nicht ausschließlich solche - mit „prädisponierenden Faktoren wie bestimmte, z.B.

zwanghafte oder asthenische Persönlichkeitszüge oder neurotische Krankheiten in der Vorgeschichte“ (ICD10, F43.1) könnten eine posttraumatische Belastungsstörung entwickeln mit wiederholtem Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen, sogenannten flashbacks, erhöhter Erregbarkeit, Schlafstörungen, Albträumen, Freud- oder

Teilnahmslosigkeit als typischen Symptomen.

Dieses paradoxe Erleben des Seins hebt die Verankerung der Existenz aus den Angeln der existentiellen Grundbezüge und lähmt die Ich-Strukturen, was mit einer Blockade der Prozessebene verbunden ist. Das macht sowohl die Entstehung einer

Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) als auch die Persönlichkeitsveränderung verständlich. (Längle, 2007, S.109)

Bleibt eine solche PTBS über viele Jahre unbehandelt kann sie sich chronifizieren und zu einer andauernde Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung (ICD10, F.62.0) entwickeln, die zu einem eingeschränkten Weltbezug und einem eingeschränkten

Selbstbezug führen. Die misstrauisch-feindliche Haltung der Welt gegenüber führt häufig zu sozialem Rückzug. Aber auch in sich selbst findet der Betroffene nur Leere und

Hoffnungslosigkeit, er leidet unter chronischer Nervosität, und das Gefühl ständigen Bedroht-Seins führt allmählich zur Entfremdung. Mit diesem breiten Rückzug aus der Welt geht unter dem Schatten von anhaltender Angst ein Selbstverlust mit innerer Leere und Entfremdung einher.

Wenn wir im Falle der Corona-Krise von einer möglichen kollektiven Traumatisierung sprechen können, so handelt es sich nicht um ein um das Zehnfache gravierender wirkende man-made-disaster oder interpersonales Trauma, also eine von Menschenhand ausgelöste Trauma-Erfahrung, sondern um ein akzidentelles Trauma ähnlich einer Naturkatastrophe.

Erschwerend könnte allerdings hinzukommen, dass die traumatisierenden Erlebnisse

möglicherweise länger anhalten und in Form einer 2. oder 3. Welle wiederkommen könnten und so zu dem langfristig wirkenden und somit schwerwiegenderen Typ-II-Trauma mutieren könnten. (nach Kühner, 2008)

Traumatische Erfahrungen machen besonders im Rückblick immer auch Angst, lösen aber in der traumatischen Situation selbst primär ein Entsetzen aus, ein „fassungsloses

Unverständnis vor etwas Fremden, dessen Vorhandensein als unmöglich angesehen wurde“.

(Länge, 2007) Beim Anblick der traumatischen Bilder aus Italien oder Spanien reagierten auch in Österreich viele Menschen mit Fassungslosigkeit und Unverständnis und fragten sich: „Ist das wirklich möglich?“ Der sichtbare Zusammenbruch des staatlichen

Gesundheitssystems zivilisierter Länder erschütterte für manche das Vertrauen in das Dasein in dieser Welt schwer. Die Verbindung zum Hier und Jetzt und der Verlust von Kontakt mit der uns umgebenden Welt sind typische Merkmale einer Traumatisierung. Im Fernsehen hörten viele Menschen erstmals den Begriff der “Triage“, ein medizinischer Sachterminus

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aus dem Französischen mit dem Stammverb “trier“, also „auswählen, aussortieren, aussuchen“.

Triage bezeichnet ursprünglich die Sichtung oder Einteilung bei der Priorisierung von vorwiegend medizinischer Hilfeleistung, insbesondere bei unerwartet hohem

Aufkommen an Patienten bei objektiv unzureichenden Ressourcen, wie das etwa in Kriegszeiten oder bei Großunfällen vorkommen kann. Triage ist somit ein aus der Militärmedizin übertragener Begriff für die ethisch schwierige Aufgabe, etwa bei einem Anfall von vielen Verletzten rasch darüber zu entscheiden, wie knappe personelle und materielle Ressourcen auf die Betroffenen aufzuteilen sind. Eine solche aufgeschobene bzw. abwartende Hilfe ist in einem solchen Fall unvermeidlich, denn ohne eine strukturierte Triage besteht die Gefahr einer rein zufälligen und somit unethischen Selektion. (Stangl, 2020)

IV.3. Die Corona-Krise und Beispiele ihrer konkreten traumatischen Auswirkungen

Nach ersten Erfahrungen aus der Lombardei, wo alle Erkrankten in die Spitäler gekommen waren und so die Ausbreitung des Virus über medizinisches Personal direkt im Krankenhaus stattgefunden hatte, wurden im Fall der Corona-Pandemie Menschen mit Covid-19 mit mittleren und leichten Symptomen ab etwa März in allen Staaten aufgefordert, sich nach Möglichkeit zu Hause ins Bett zu legen und selbst gesund zu pflegen. Erst im Fall von

größeren Komplikationen wie hohem Fieber und großer Atemnot wurden PatientInnen von SanitäterInnen mit Masken und Schutzanzügen abgeholt und in Krankenhäuser bzw. in mit Feldbetten zu notdürftigen Lazaretten umgebaute Hallen gebracht, wo sich im

Katastrophenfall die Frage ergab, welchen Menschen mittels Beatmungsgerät geholfen werde und wen man auf Grund der mangelnden Ressourcen sterben lassen müsse.

Nach Kühner (2008) steht die Auseinandersetzung mit dem Tod - dem eigenen oder dem von nahen Menschen - im Zentrum eines Traumas. Während bei der Trauma-Diagnose nach DSM IV „jedwede Art von auch indirekter Konfrontation mit dem Tod gemeint sein kann, wurden Menschen im Kontext kollektiver Traumata meist nicht nur mit der Möglichkeit des eigenen oder fremden Todes konfrontiert, sondern haben das Sterben von vielen anderen

miterlebt.“ (S.56). Dass eine solch dramatische Situation in Europa - in Ländern wie Italien und Spanien - überhaupt möglich sein konnte, war nicht nur für die unmittelbar Beteiligten und Betroffenen, sondern auch für viele aus dem Nachbarland Zusehenden zuvor

unvorstellbar gewesen. Bei manchen betagteren Menschen kamen Erinnerungen an die Kriegszeit zurück. Die Aussage unseres Bundeskanzlers am 30. März 2020, dass bald jeder in Österreich jemanden kennen werde, der an Corona gestorben sei, trug das Ihrige dazu bei, bei vielen Menschen Ängste zu erzeugen oder zu vergrößern. Zudem muss durch die hohe Infektionsgefahr des Virus jede/r Erkrankte verständlicherweise von der Außenwelt komplett isoliert werden. Auch Menschen mit hoher Resilienz überkam beim Gedanken an das

Sterben ihrer v.a. älteren Lieben eine große Traurigkeit. Sehr früh war klar, dass für

Erkrankte nicht nur jeglicher zwischenmenschliche Kontakt zu medizinischem Pflegepersonal auf das allernötigste Minimum reduziert würde und dass selbst todkranke und sterbende Patienten mit Corona nicht von ihren Angehörigen besucht werden könnten. Die Vorstellung eines einsamen isolierten Sterbens ist für uns alle sehr furchterregend, und die durch das strikte Besuchsverbot hervorgerufene Vorstellung eines gezwungenen „Im-Stich-Lassens“

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seiner schwerkranken oder sterbenden Eltern oder Großeltern hat auf viele ebenfalls sehr belastend gewirkt.

Einer meiner Bekannten lag als etwa 75-jähriger in der Anfangszeit der Corona-Pandemie 10 Tage lang fälschlicherweise als Covid-19-Patient in einem Kärntner Krankenhaus und

berichtete mir von seinem traumatischen Erleben dieser extremen Isolierung. Er habe 10 Tage lang - wenn überhaupt - nur Menschen gesehen, die in ihren Schutzanzügen und Masken bedrohlich und wie Marsmenschen ausgesehen hätten, sich ihm nur äußerst zögerlich genähert hätten und ihm die Thrombosespritze zur Selbstinjektion nahezu aus einem Meter Entfernung aufs Bett geworfen hätten. Am vorletzten Tag stellte sich heraus, dass dieser Mann nicht an Covid-10, sondern an einer normalen Lungenentzündung gelitten hatte. Er wurde zwar körperlich gesund aus dem Spital entlassen, seine Psyche hatte

allerdings großen Schaden erlitten: Dieser zuvor voll im Leben stehende Mensch ist stark verängstigt und misstrauisch, sperrt sich zu Hause ein, leidet unter Alpträumen und

Flashbacks, und seine Frau und die ganze Familie leiden mit ihm noch immer an den Folgen.

A. Camus beschreibt in seinem Roman „Die Pest“ diese alles überschwemmende Gefühle wie folgt.

Aber in Wahrheit konnte man zu dieser Zeit, Mitte August, sagen, daß (sic!) die Pest alles überschwemmt hatte. Da gab es keine Einzelschicksale mehr, sondern nur mehr ein gemeinschaftliches Erleben: das der Pest und der von allen empfundenen Gefühle.

Das größte war die Trennung und die Verbannung, mit allem, was sie an Angst und Auflehnung mit sich brachte. (Camus, 1959, S.110)

IV.4. Die Trauma-Wirkung aus existenzanalytischer Sicht

Traumatische Erlebnisse – ob selbst erlebt oder nur miterlebt - können sich gravierend auf die grundlegende Struktur der Existenz auswirken, alle vier existenzanalytischen

Grundmotivationen sind gefährdet: das Sein-Können (1. GM), die Beziehung zum Leben inklusive des vitalen Wertgefühls und des Beziehungslebens (2. GM), die Ich-Integrität, mit Selbstbild, Identität und Selbstwert (3. GM) und der Glaube an eine Zukunft und die Sinnhaftigkeit des Daseins (4. GM). Der traumatische Stress zeigt sich in der Unfähigkeit, unter diesen Bedingungen überhaupt zu einem Leiden zu kommen. Als Symptome der verlorenen Verankerung in den vier Grundstrukturen der Existenz zeigen sich

1. Erschütterung, 2. Verlustgefühl, 3. Schmerz und 4. kontextuale Unbegreiflichkeit. (nach Längle 2007) Neben der existentiellen Struktur sind in der traumatischen Situation und der PTBS aber auch der individuelle Prozess und die Verarbeitungskapazitäten des Menschen gestört. Die grenzbildende und Dialog-ermöglichende Selbst-Wahrnehmung, die

(annehmende und distanzierende) Selbst-Beurteilung und die Selbst-Wertschätzung als Fundament des Selbstwerts sind Voraussetzungen, um reife Ich-Funktionen auszubilden und einzusetzen, die unser Selbstsein begründen.

Die Wirkung des Traumas hat im existenzanalytischen Theoriemodell eine doppelte Topographie. Es findet sich durch die Intensität des Geschehens eine markante Veränderung auf der Strukturebene der existentiellen Verankerung des Erlebens sowie eine persistierende Blockade der Prozessfunktion im Existenzvollzug. … Im Trauma ist das eigene Handeln gelähmt oder es steht so im Schatten der Ereignisse, dass es keine Bedeutung mehr für das Subjekt hat. Damit fehlt die Abrundung der

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Selbst-Bildung, was die Gefühle der Leere und der Entfremdung noch verstärkt.

(Längle, 2007, S.111)

V. Umgangsformen mit der Bedrohung und diverse Auswirkungen der Corona-Krise auf die Gesellschaft im allgemeinen

Während man in einigen von der Pandemie extrem stark betroffenen Ländern wie Italien mit Sicherheit von einer kollektiven Traumatisierung sprechen kann, wird von der Corona-

Pandemie weltweit meist als Corona-Krise gesprochen und geschrieben, weshalb ich mir zunächst den Terminus „Krise“ näher anschauen will.

V.1. Die Corona-Pandemie als Auslöser einer mehrfachen gesellschaftlichen Krise Verena Kast (2014) charakterisiert Krisen als „Lebenssituationen, in denen die

Anforderungen des Lebens und die Möglichkeiten, sie zu bewältigen, in einem krassen Widerspruch stehen. (…) Die emotionale und oft auch instrumentale Einengung sowie der subjektiv empfundene Verlust der Fähigkeit, Leben gestalten zu können, bewirken große Angst und Panik.“ (ebenda, S.19/20). Um als Krise zu gelten, muss die entstandene Gleichgewichtsstörung „schwer, zeitlich begrenzt sein und durch die dem jeweiligen

Individuum normalerweise zugänglichen Gegenregulationsmaßnahmen nicht zu bewältigen sein“ (Kast, ebd. nach G.Caplan, 1964)). Für mich ist zudem für eine Krise, die durch ein traumatisches Ereignis ausgelöst wird, typisch, dass sie eine scharfe Zäsur darstellt, es für die Betroffenen immer ein Vorher und Nachher gibt. In der „Corona-Krise“ können sich ähnlich wie bei anderen durch kollektive Bedrohung ausgelösten gesellschaftlichen Krisen (z.B.

Black-Friday als Auslöser der Weltwirtschaftskrise, 9/11, …) die meisten betroffenen Menschen genau daran erinnern, wo sie sich zum Zeitpunkt, als sie von der Bedrohung erfuhren, aufhielten und womit sie gerade beschäftigt waren. Eine bewältigte Krise wird in der Nachschau als eine Art Wendepunkt erlebt, das Leben danach gestaltet sich meist um und findet nie mehr in der genau gleichen Form statt wie zuvor. Die große Unsicherheit, die viele Menschen in dieser Krise erfasst hat, macht chronischen, negativen, angstbesetzten Stress, der von Psychoneuroimmunologen wie u.a. G. Hüther als einer der stärksten

krankmachenden Faktoren nachgewiesen wurde. „Je unüberschaubarer das Leben wird und je weniger Regeln es gibt, die unsere Entscheidungen erleichtern, um so eher werden Menschen mit Angst reagieren.“ (Kast, 2014, S.16)

Die sehr schnell von jedermann weltweit als „Corona-Krise“ bezeichnete Krise war zunächst als Gesundheits-Krise wahrnehmbar, einem potenziellen Anschlag eines bis dahin

weitgehend unbekannten Virus auf die Gesundheit und das Leben der Menschen, was für viele mit großer Angst verbunden war. Mit der Zeit zeigten die von der Regierung

getroffenen Bekämpfungsmaßnahmen jedoch Erfolg, und man erkannte Zug um Zug, dass das durch das Erreichen der Kapazitätsgrenzen des österreichischen Gesundheitssystems befürchtete „Worst-case-scenario“ mit vielen Intensivpatienten und Toten bei weitem nicht eintreffen würde, womit die reale Gefahr für das physische Überleben auch in der

Wahrnehmung der Bevölkerung immer mehr abnahm. Die Ausnahmesituation blieb dennoch sehr bedrohlich, denn sie entwickelte sich durch das plötzliche Herunterfahren jeglichen gesellschaftlichen Lebens und den sich zunehmend existentiell-materiell auswirkenden Bekämpfungsmaßnahmen der Pandemie zu einer wirtschaftlichen Krise, deren Auswirkungen viele Menschen noch lange als Bedrohung, einige als existentielle Bedrohung spüren werden. Die Corona-Krise führte sehr deutlich unsere große Abhängigkeit

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von unseren Mitmenschen im Kleinen und die hohe Anfälligkeit global vernetzter Systeme im Allgemeinen vor Augen. Im Interesse des Gemeinwohls und der Solidargemeinschaft musste der Einzelne im Zuge der verordneten Maßnahmen vorübergehend auf Freiheit und individuelle Lebensgestaltung verzichten. Der Unmut von Teilen der Bevölkerung über die Handhabung der Krise wächst, die Diskussionen, Schuldzuschreibungen und Aggressionen nehmen aktuell zu, was die Krise schließlich auch zu einer politisch-gesellschaftlichen Krise werden lässt, die uns als Nachwehen wohl ebenfalls noch lange beschäftigen wird.

V.2. Kunst und Musik als mögliche positive Bewältigungsstrategien der Corona-Krise

Nach meiner eigenen Erfahrung zählt die Kunst im weitesten Sinn zu den möglichen

positiven Bewältigungsstrategien negativer Ereignisse und Situationen, indem sie uns Zugang zu unseren Emotionen bietet, und sich unsere Kreativität Ausdruck verschaffen kann. Im Zuge der Corona-Krise gab es viele Aufrufe seine Empathie in dieser besonderen Zeit in der jeweils eigenen Form von Kreativität der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen, und es entstanden beispielsweise die Regenbogen-Bilder, die von England ausgehend weite Teile der Welt eroberten. Auch für schreibende Kreative wurden in den sozialen Medien viele Initiativen gestartet, u.a. die Mutmacher-Community auf story.one, wo kleine (mutmachende) Geschichten veröffentlicht werden können. Interessant fand ich, dass Albert Camus Roman „Die Pest“ bereits in der ersten Phase der Krise als vergriffen galt, und ich beschloss, meine vergilbte Ausgabe ebenfalls im Bücherregal zu suchen und habe den Roman mit Vergnügen und Interesse wieder einmal gelesen.

Besonders ins Auge fielen mir von Anfang an die vielen musikalischen Beiträge aller Art - spontane Balkonkonzerte, selbst komponierte Familiensongs, Straßenkonzerte oder aus einzelnen Orchestermusikern zusammengeschnittene große klassische Konzerte - erfreuten sich seit dem Ausbruch der Krise in Europa überall größter Beliebtheit. Man sang, spielte und tanzte, um seine Solidarität und sein Mitgefühl mit stark betroffenen Ländern wie Italien auszudrücken, um seine Lebenslust zu zeigen und diese miteinander beim Musizieren zu stärken, um einander Mut, Ausdauer und Durchhalteparolen „zuklingen“ zu lassen, um Gemeinsamkeit zu erleben und nach außen zu transportieren. Die national individuelle Ausgestaltung zeigte sich auch im Singen und Spielen von offiziellen oder inoffiziellen Nationalhymnen wie des Gefangenenchors aus „Nabucco“ als heimlicher Hymne der

Italiener oder Reinhard Fendrichs „We are from Austria“, das in den ersten Wochen der Krise täglich um 18h für die Polizisten Österreichs erklang.

Nach Rolando Villazón („Gedanken zum Tag - über die Macht der Musik“, 5. 4. 2020, Ö1) habe die Musik große Macht über den Menschen und seine Entscheidungen. Sie brächte in uns Menschen Emotionen zum Vorschein, inspiriere uns, umarme uns und sei immer präsent in uns. Musik habe keine Grenzen, begleite uns in allen wichtigen Momenten unseres

Lebens. Sie sei auch ein Teil unserer Biografie, bringe uns zurück in verschiedene Situationen, erzähle uns, wer wir sind. Nach Villazón sei die Musik ein Ort voll Licht und Schatten, wie eine Brücke, zwei Hände, die zusammenkämen. Sie sei ein Ort, an den ich immer kommen könne, um zu lachen, um zu träumen, um ernst mit mir zu sein. Sie sei wie ein Spiegel und zeige mir, wie ich als Mensch bin. Für ihn sei Musik wie das Herz, das wir alle in der Brust trügen. Es schlage in unterschiedlichem Rhythmus, spreche aber eine universelle Sprache, die uns alle zusammenbringe.

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Der Opernsänger äußerte in seiner blumigen Sprache einige Gedanken, die ich hier nur in Annäherungen zitiert habe, die jedoch meiner Meinung nach sehr schön die wesentlichen Funktionen und Wirkungen von Musik zur Sprache bringen. Bei den allermeisten Menschen ist Musik in der Lage Emotionen zu wecken, Verbindungen zu Werten herzustellen und zu verstärken. Die Beziehung zu sich, seinem Innersten und zu anderen Menschen aber auch zu Situationen, Gegenständen und Umständen kann durch Musik gefördert und einzigartig werden. Die meisten von uns verbinden einschneidende und emotional wesentliche Ereignisse mit bestimmter Musik: beispielsweise haben Liebespaare sehr oft ein

gemeinsames Lied, ich weiß noch genau, welchen Song ich hörte, als ich auf dem Weg zu meiner sterbenden Großmutter war, etc. Viele (musikalische) Menschen erleben ein Zusammengehörigkeitsgefühl beim gemeinsamen Singen, Musizieren und Tönen. Ich selbst habe in der aktuellen Corona-Krise ein verstärktes Bedürfnis gespürt (bestimmte) Musik zu hören und (gemeinsam) zu singen und habe auch von vielen Menschen in meinem

persönlichen Umfeld von ähnlichen Erfahrungen gehört. Gerade als wir durch die

einschneidenden Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie vieler Möglichkeiten beraubt waren, Nähe zu empfinden, stellte gemeinsames Musizieren für viele Menschen eine sehr gute Möglichkeit dar, sich mit anderen – auch praktisch Fremden – zu verbinden.

Auch mir sind bei vielen musikalischen Solidaritätskonzerten wie „Va pensiero“ aus

„Nabucco“ für Italien oder dem wieder mehr denn je aktuellem Hit “We are the world, we are the children…”, der 1985 von den größten Popstars der damaligen Zeit für die

Hungernden in Afrika als Chorgesang mit Solo-Parts aufgenommen worden war, immer wieder die Tränen gekommen, und Musik ist für mich persönlich ein gutes Mittel zu mir und meinen tiefen Emotionen zu kommen.

V.3. Der Humor als Coping Strategie im Umgang mit Bedrohung und Bedrängnis

Voltaire sagte, der Himmel habe uns zum Gegengewicht gegen die vielen

Mühseligkeiten des Lebens zwei Dinge gegeben: die Hoffnung und den Schlaf. Er hätte noch das Lachen dazu rechnen können; (Kant, 1790, S.203)

Seit Beginn der Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie in Österreich habe ich neben der vielfachen Berichterstattung einen gewaltigen Anstieg an humorvoller Auseinandersetzung mit der Corona-Krise festgestellt. In allen Medien, in vielen Kunstrichtungen, in privaten Postings und zwischenmenschlichem Austausch jeglicher Art wurde ich mit vielen

humoristischen Texten, Bildern, Filmen und ähnlichem konfrontiert, ja geradezu überhäuft, die sich mit dem Corona-Virus selbst, aber auch mit dem unterschiedlichen Umgang diverser Nationen mit der Krise sowie der – teilweise äußerst kreativen – Ideen zur Umsetzung der strengen Maßnahmen der Regierung zur Eindämmung der Pandemie auseinandersetzten.

Vielen Menschen hilft hier der Humor. Er ist eine wundervolle Möglichkeit, zur

Selbstdistanzierung zu kommen. Denn er nimmt der Bedrängnis das Erdrückende. Die vielen kleinen Videos und Witze, die gerade vermehrt kursieren, haben diese Funktion.

Wir merken, es tut gut, wenn wir von Herzen lachen können. (Kolbe, 2020, S.2)

Mich brachten viele dieser humorvollen Umgangsformen mit Corona ebenfalls zum Lachen, was mir definitiv guttat. Zum einen führte das Schmunzeln oder Lachen immer wieder zu einer Auflockerung einer im Grunde bedrückenden Situation, wirkte befreiend und

(20)

entspannend und führte zu mehr Gelassenheit. Zum anderen verband mich das Lachen über humorvolle Erzeugnisse anderer mit meinen Mitmenschen, die mir diese Texte, Bilder, Filme, etc. zusandten. Auch habe ich einige für mich besonders lustvolle Postings selbst über Whats App weitergeleitet. Ich bin damit wiederum mit mir speziell wichtige Menschen in Beziehung getreten (2.GM) und konnte sie möglicherweise ebenfalls damit aufheitern (1.+

4.GM). Im Sprichwort „Lachen ist gesund“ steckt, wie die in den letzten Jahren immer wichtiger werdende Humorforschung belegt, viel Wahrheit. Rein physiologisch ist Lachen nicht nur ein Atmungsphänomen: die Einatmung wird vertieft und verlängert und in der verkürzten, aber intensiveren Ausatmung passiert eine vollständige Luftentleerung in der Lunge, was zu einem gesteigerten Gasaustausch und damit einer erhöhten Blutzufuhr im Gehirn führt. Dem Lachen folgt aber auch eine spürbare Muskelentspannung, womit es zu

„einem höchst wirksamen Mittel für den Stressabbau im allgemeinen und Herzbeschwerden, Kopfschmerzen und chronischer Angst im besonderen“ (Titze, M.1995, S.245) wird.

Was aber ist es genau, was Humor in angstmachenden Situationen für unsere Psyche vermag? Nicht nur meine persönliche Erfahrung zeigt, dass Humor hilft, den Umgang mit schwierigen Situationen zu erleichtern und negative Emotionen zu regulieren. Humor rettet nicht vor negativen Ereignissen, kann aber bei deren Bewältigung helfen. Er vermag

angstmachende Situationen in einen neuen Kontext, einen neuen Rahmen zu setzen und durch dieses reframing eine Selbstdistanzierung zu schaffen. Denn Humor kann uns

emotional berühren und aufrütteln und uns veranlassen die eigene Position zu verlassen und somit die Perspektive zu wechseln.

Nichts lässt den Patienten von sich selbst so sehr distanzieren wie der Humor. Der Humor würde verdienen, ein Existential genannt zu werden. Nicht anders als die Sorge (M.Heidegger) und die Liebe (L.Binswanger). (Frankl, 1959, S.164)

Auch eine therapeutisch-empathische Intervention der Provokation lässt sich mit Humor besser einsetzen, denn manchmal äußert sich Empathie auch darin, einem Patienten etwas zuzumuten, von dem er selbst nicht glaubt, es zu können. In der Zumutung liegt die

Annahme von Stärke und Fähigkeiten, welche die PatientInnen selbst vergessen haben oder aus Bequemlichkeit und Angst ignorieren. Das Einschätzen der Humorfähigkeit des

Gegenübers ist allerdings eine hohe Kunst und erfordert viel Gefühl, denn Humorfähigkeit setzt neben einem gewissen Maß an Intelligenz, um die Pointe auch zu verstehen, und dem sozialen Austausch auch ein Mindestmaß an Vertrauen und Halt (1.GM), eine emotionale Schwingungsfähigkeit (2.GM) und zumindest ein wenig Freiheit (3.GM) voraus. Aus eigener Erfahrung kann ich bezeugen, dass die Fähigkeit und die Möglichkeit über sich selbst und seine Ängste und Nöte mittels eines überzeichnenden Cartoons oder Ähnliches herzlich lachen zu können zu einem gesteigerten Selbstgefühl und einer optimistischeren Einstellung zum Leben führen können.

V.4. Neue Raumvermessung: Distanz und Nähe in Zeiten der Corona-Krise

Im Kampf gegen Corona wurde uns nun ein neues allgemeingültiges maximales Maß körperlicher Nähe vorgegeben. Eineinhalb bis zwei Meter gilt als quasi individueller Antivirusschutzschild. Für soziale Wesen wie den Menschen, dessen Überleben und

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sind, erweist sich das ständige obligate Abstand-Halten oft als sehr schwierig. Im Grunde sind ständige absichtsvolle Berührungen wie Händeschütteln und Umarmungen, auf die Schulter Klopfen und Bussi-Bussi-Begrüßungen ebenso wie das gelegentliche Drängeln, Schieben und Schupfen als geliebte und Jahrzehnte lang gelebte Gewohnheiten in uns eingefleischt. Wir sind es gewöhnt, auf Tuchfühlung zu gehen, wollen betasten, angreifen, streicheln und fühlen, auch um uns selbst zu spüren. Durch die Bekämpfung des Corona- Virus werden Nähe und Distanz von Beziehungen neu definiert, im Privaten wie auch im Beruflichen. Wie viel Entfernung wird als steif und abgehoben oder gar misstrauisch und ängstlich wahrgenommen? Ab wann wird Nähe als übergriffig und bedrängend empfunden?

In gewisser Weise wird unser Leben gerade neu vermessen. Fälschlicherweise wird von den Medien übernommen landläufig von „social distancing“ gesprochen. Genaugenommen sollte man eigentlich „physical distancing“ sagen, weil es hier nicht um eine soziale Distanzierung, sondern um eine räumliche Distanzierung von (möglicherweise) infizierten zu nicht

infizierten Personen geht.

Auch das nun in allen öffentlichen (Innen-)Räumen vorgeschriebene Tragen eines Mund- Nasen-Schutzes ist im Gegensatz zu vielen asiatischen Ländern in unseren Breiten nicht gelebtes Kulturgut. Für mich persönlich ist diese Verhüllung eines Teils unseres Gesichts im Supermarkt und anderen Geschäften, bei Bank-, Amts- und Arztbesuchen und in öffentlichen Verkehrsmitteln nicht nur unangenehm, weil möglicherweise heiß, rutschend, kratzend oder nicht vorhanden, weil vergessen oder verschmutzt, sondern auch, weil ich offensichtlich ein Mensch zu sein scheine, der vorwiegend lächelnd durch das Leben geht. Von vielen meiner Mitmenschen und auch PatientInnen wurde mir Zeit meines Lebens mein „sonniges Gemüt“

rückgemeldet, und mein Lächeln hat sehr oft auch bei meinem Gegenüber einen zumindest freundlichen Gesichtsausdruck ausgelöst, was ich als Empfängerin wiederum als sehr angenehm empfand. Über das Lächeln werden erwiesenermaßen positive Emotionen hervorgerufen, es scheint „eine direkte und zentrale Verbindung zwischen der

Muskelaktivität und den entsprechenden Hirnzentren“ (Titze, 1995, S.245) zu geben.

Bei meinen ersten Einkäufen im Supermarkt mit Gesichtsmaske habe ich bei mir selbst festgestellt, dass ich begonnen hatte, die Menschen, die ich nun in der zufälligen Begegnung nicht mehr anlächeln konnte, überhaupt nicht mehr anzuschauen. Ich ging gesenkten Kopfes durch die Gänge des Supermarktes, fühlte mich als Ganzes unwohl und war bestrebt, so schnell wie möglich wieder aus dem öffentlichen Raum in mein Auto und mein Haus oder meinen Garten zu entkommen. Die negativen Emotionen, die vor allem in den Anfangszeiten der Corona-Krise in der Begegnung mit Menschen auch für mich sehr spürbar waren, hatten auch bei mir sämtliche Körpersysteme in einen stressbedingten Alarmzustand versetzt, und ich musste erst lernen, mit der Vermummung zu leben, mit meinen verhüllten Mitmenschen trotzdem in Begegnung zu gehen und zu versuchen, mehr mit den Augen zu sprechen.

Herausgefordert wurden wir als Familie ebenfalls, als meine Tochter nach einer akuten Blinddarmoperation am Karsamstag zwei Tage nach ihrer Entlassung die Nachricht bekam, dass die Krankenschwester, die sie im Krankenhaus versorgt und gepflegt hatte, jetzt Corona-positiv getestet worden war, und meine Tochter sich in Quarantäne begeben sollte.

Unsere frisch operierte Tochter allein in ihre Studentenwohnung nach Wien zu schicken kam für uns nicht in Frage. Da wir die Nachricht früh genug erhalten hatten, um uns und ihren Bruder mit Hilfe von erweiterten Schutzmaßnahmen zu schützen, und mein Mann als Arzt

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weiterhin arbeiten gehen wollte, mussten wir zu Hause zwei Wochen lang die strenge Distanzierung von unserer Tochter durchhalten, und ich kann bezeugen, wie schwierig es ist, jemanden zwei Wochen lang wie eine Aussätzige oder Pestkranke behandeln zu müssen.

Eine weitere gravierende Veränderung im Distanz-Nähe-Verhältnis zeigte sich in der Digitalisierung allerorten. Nicht nur im Kultur- und Freizeitbereich, sondern vor allem auch im beruflichen Alltag passierte auf Grund der einschneidenden Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie weltweit ein enormer Digitalisierungsschub. Plötzlich wurde es möglich, ärztliche Überweisungen und Rezepte digital vorzunehmen, SchülerInnen und Studierende sowie deren Lehrende waren gezwungen auf Homeschooling umzustellen, vielfach wurde Arbeit ins Homeoffice verlagert, viele Arbeitsmeetings fanden über das Internet statt, etc.

Auf der einen Seite stellen einige dieser Änderungen große Errungenschaften dar, die Krise zwang den Gesetzgeber und viele Arbeitgeber zum Umdenken und ermöglichte eine neue Kreativität. Die eingeschränkte Mobilität der Menschen ließ Autos in den Garagen und Flugzeuge am Boden, und die Natur dankte es mit einer sichtbaren Erholung. Andererseits gab es nicht nur zu Beginn der Maßnahmen, sondern vor allem mit dem Fortschreiten der Dauer der Einschränkungen allerorten große Überforderung. Allein mit der Organisation des Alltags, als betreuende Großeltern, Krippen, Kindergärten und Schulen wegfielen, waren viele Familien stark ge- oder auch überfordert. Die Kinder zu Hause neben ihrer eigenen Arbeit zu beaufsichtigen, zu unterrichten bzw. ihnen beim Homeschooling zu helfen, war für viele Eltern nicht nur eine große technische und intellektuelle Herausforderung. Häufig entstand neben einem Zeit- auch ein immenses Raum-Problem, als mehrere Personen auf beschränktem Platz arbeiten und leben mussten, was große Aggressionen entstehen lassen konnte.

V.5. Menschliche Grundbedürfnisse und Werte sind in Gefahr

Litten manche Menschen in Corona-Zeiten unter zu viel Nähe der eigenen Familie und zu wenig Raum zum Rückzug gab es auf der anderen Seite viele Menschen, die alleine oder in einem Altersheim leben und unter zu wenig Nähe, Einsamkeit und Isolation zu leiden hatten.

Mich hat der Ausspruch einer in “normalen Zeiten“ häufig ihren 2-jährigen Enkel

betreuenden Großmutter, sie würde lieber sterben als ihr Enkelkind nicht zu sehen, sehr berührt. Dennoch wurde auch ihr von ihrer Tochter der Kontakt mit dem für sie

lebenswichtigen Kleinkind für einige Wochen komplett untersagt.

Mit der Dauer des strengen Herunterfahrens allen öffentlichen Lebens wurde immer mehr klar, dass die Corona-Pandemie eine ungeahnte weltweite Wirtschaftskrise hervorrufen werde. Schon Mitte April schnellte die Zahl der Arbeitslosen nicht nur in Österreich gewaltig in die Höhe, und mit dem Verlust des Arbeitsplatzes war für sehr viele Menschen eine weitere große Bedrohung entstanden. Erwerbsarbeit als Grundlage der materiellen Existenzsicherung bedeutet für den Menschen aber nicht nur Einkommen, sondern auch Anerkennung und Wertschätzung und erfüllt eine wesentliche identitäts- und sinnstiftende Funktion. Die Erfahrung aufgrund der Corona-Krise keine Arbeit mehr zu haben senkte bei vielen Betroffenen das Selbstwertgefühl und ließ Gefühle von Perspektivenlosigkeit und Ohnmacht entstehen. Zudem herrschte im Fall der Corona-Krise in vielen Branchen eine große Ungewissheit vor, wie es in der Zukunft weitergehen werde. Als entlastend konnte

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hier in manchen Fällen die Tatsache wirken, dass mit der Pandemie sehr viele Menschen weltweit ihren Arbeitsplatz verloren und man mit dieser belastenden Situation nicht allein dastand. Denn auf der persönlichen Ebene bedeutet Arbeitslosigkeit auch den Verlust einer von außen vorgegebener Zeitstruktur und des gewohnten Alltagsrhythmus. Im Gegensatz zu anderen Zeiten kam die Arbeitslosigkeit durch Corona für viele sehr unvermittelt mitten in wirtschaftlich blühenden Zeiten und traf sie daher völlig unvorbereitet. Der Verlust der Arbeitsstelle führt meist zu einer großen Einschränkung bis zum totalen Erliegen von Sozialkontakten und Außenbeziehungen, was durch die vorgeschriebenen

Ausgangsbeschränkungen und dem von oben verordneten Leben in Distanz im Fall der Corona-Krise nochmals verstärkt wurde. Häufig nehmen in einer solchen Stress-Situation soziale Spannungen zu, Konflikte in den Familiensystemen können sich verstärken.

Wesentliche menschliche Grundbedürfnisse wie genug Raum und Zeit für sich selbst, die Möglichkeit, selbstgewählte berufliche und private Sozialkontakte im direkten Kontakt zu (er)leben, die Freiheit unmaskiert und „ungetrackt“ in die (weite) Welt hinauszugehen und eine jedenfalls existenzsichernde, im besten Fall auch sinnvolle Arbeitsstelle zu haben sind im Moment für viele Menschen weltweit verloren gegangen oder in großer Gefahr. Viele erleben sich in dieser Krise daher als unfrei.

Im existenzanalytischen Zugang wird Freiheit jedoch nicht als Freiheit von Bedingungen verstanden, sondern vielmehr als Freiheit, sich den vorherrschenden Bedingungen zu stellen und mit diesen bestmöglich umzugehen und wie Frankl trotzdem Ja zum Leben zu sagen.

Die Corona-Pandemie und die getroffenen Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung sind sicherlich für alle Menschen eine große Zumutung, bei einigen konnte die Krise schlummernde Ängste und Zweifel sichtbar machen, wie der Präsident der GLE International Kolbe treffend

beschreibt: „Es kann die grundlegende Angst vor der Sicherheit der Existenz auftreten, es kann die tiefe Verletzung und Beschneidung des eigenen Freiheitsraumes als Bedrohung erfahren werden oder es kann der aktuelle Verlust von Nähe den grundlegenden Zweifel einer Zugehörigkeit und Verbundenheit aktivieren.“ (2020) An uns TherapeutInnen liegt es, unseren PatientInnen dazu zu verhelfen, aus der Ohnmacht herauszutreten und selbst immer mehr zu Gestaltern ihres Lebens, ihrer Existenz zu werden, auch in Zeiten der Corona- Pandemie.

VI. Meine persönliche Erfahrung mit der psychotherapeutischen Arbeit in der aktuellen Krise

Im folgenden zweiten Teil meiner Arbeit möchte ich mich im nächsten Kapitel mit den konkreten Erfahrungen beschäftigen, die ich mit mir und meinen PatientInnen in Ausübung meiner beruflichen Tätigkeit als Psychotherapeutin (in Ausbildung unter Supervision) gemacht habe. Um abschließend ein etwas breiteres Spektrum zu bekommen und meine eigenen Erfahrungen zu ergänzen und zu hinterfragen, habe ich Ende März 2020 etliche existenzanalytische PsychotherapeutInnen (zum Teil ebenfalls noch in Ausbildung unter Supervision) gebeten, einen Fragebogen zu beantworten, der einige ihrer Erfahrungen in den ersten Wochen der Corona-Krise wiederspiegeln soll. Meinen Fragen und den

Rückmeldungen der KollegInnen, für die ich mich bei dieser Gelegenheit bei allen Beteiligten herzlich bedanken will, widme ich die letzten Kapitel (VII – IX) dieser Arbeit.

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