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P.REIN. I 56 ( = W.CHREST. 419):
DIE ßI.AßOTAI UND DAS PROBLEM DER ADÄRATION
Die Adäration, d. h. die Ersetzung von Naturalleistungen durch Geldzahlungen, gehört bekanntlich zu den bevorzugt behandelten Themen innerhalb der spät- antiken Wirtschafts- und Sozialgeschichte, woran Santo Mazzarino massgebli- chen Anteil hat. Denn im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit der Arbeit von G.Mickwitz1 ) entwirft Mazzarino 2) das Bild einer spätrömischen Gesell- schaft, die vor allem von sozialen Konflikten geprägt war, für welche wiederum die Adäration ausgesprochen bedeutsam gewesen sei. Staatliche Beamte hätten nämlich - so Mazzarino - grundsätzlich die Umwandlung von Naturalleistungen in Geld zu einem möglichst hohen Tarif angestrebt, um dann auf dem Wege des Zwangskaufes ("coemptio") zu sehr niedrigen Tarifen einen erheblichen Profit zu erzielen, indem sie den Differenzbetrag ("interpretium") ihrer Privat- schatulle hätten zukommen lassen. Leidtragende seien die einfachen Steuer- zahler gewesen, in deren Interesse daher eine Naturalbesteuerung gelegen hätte.
Mazzarino hat die Bedeutung des Adärationsproblems jedoch zweifelsohne überschätzt. So kann A.Cerati nachweisen, dass die zunehmende Durchsetzung der Adäration im 4. Jh.n.Chr. mit der allgemeinen Tendenz zu einem primär auf Geld beruhenden Steuer- und Versorgungssystem zu erklären ist und dass im übrigen mit der Adäration keinesfalls prinzipiell Nachteile für den Steuer- zahler verbunden waren. 3) Uberdies vermögen auch zwei von Mazzarino als "testi fondamentali" betrachtete Abschnitte in der Historia Augusta 4 ) und dem Ano- nymus De rebus bellicis5 ) seine Interpretation nicht zu stützen. 6 ) Letzteres liegt nicht zuletzt darin begründet, dass der italienische Gelehrte zwischen
1) G.Mickwitz, Geld und Wirtschaft im römischen Reich des 4. Jh.n.Chr., Helsinki 1932; dazu und zum folgenden s. bes. F.Kolb, Finanzprobleme und soziale Konflikte aus der Sicht zweier spätantiker Autoren (Scriptores Histo- riae Augustae und Anonymus De rebus bellicis), in: Studien zur antiken Sozial- geschichte. Festschrift Friedrich Vittinghoff, Köln 1980, 497ff.; ders., Die Adäration als Korruptionsproblem in der Spätantike, in: W.Schuller (Hg.), Korruption im Altertum, München/Wien 1982, 163ff.
2) S.Mazzarino, Aspetti sociali del quarto secolo, Rom 1951.
3) A.Cerati, Caractere annonaire et assiette de l'impot foncier au Bas- Empire, Paris 1975, bes. 153ff.; s. auch Kalb, Adäration (o.A. 1), 166; K.L.
Noethlichs, Spätantike Wirtschaftspolitik und Adaeratio, Historia 34,1985, 102ff., der freilich (108. 115) zu Unrecht vom "prinzipiellen Festhalten" an Naturalbesoldung und -besteuerung spricht; richtig dagegen auch C.Vogler, La remuneration annonaire dans le Code Theodosien, Ktema 4,1979, 293ff., bes. 310.
4) SHA Claud. 14, 2-15.
5) Anonymus De rebus bellicis (ed. E.A.Thompson, Oxford 1952), Kap. IV.
6) Zu den SHA s. Kalb, Finanzprobleme (o.A. 1), 499ff.; ders., Adäration (o.A. 1), 164ff.; zum Anonymus De rebus bellicis s. demnächst Verf., Unter- suchungen zu den Reformvorschlägen des Anonymus 'De rebus bellicis' (Diss.
Kiel 1986).
https://doi.org/10.20378/irbo-51981
den zwei Formen der Adäration nicht sorgfältig genug differenziert: der Steueradär.ation (Geldzahlung statt Naturalienabgabe seitens der Steuerzahler) und der Verteilungsadäration (Besoldung der Beamten und Militärs in Form von Geld statt in Naturalien).?)
Neben den beiden genannten Quellen hat Mazzarino 8) noch ein drittes 'grund- legendes Zeugnis' herangezogen, um seine Argumentation zu untermauern. Es handelt sich dabei um einen Papyrus aus dem 4. Jh.n.Chr. (P.Rein. I 56 W.Chrest. 419): 9)
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7) Nach der Terminologie von Kolb, Adäration (o.A. 1), 163~ s. auch Noethlichs (o.A. 3), 105.
8) Mazzarino (o.A. 2), 136ff.
9) Textfassung nach W.Chrest. 419.
tlbersetzung:
P.Rein. I 56 ( W.Chrest. 419)
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(2.H.) 'Epp6ic5a.t CE EuxoµaL.
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"Achilleus grüsst seinen Bruder Pinution. Da Du mir schriebst von dem 'breve',lO) welches von dem 'rationalis 111 ) bezüglich der 'species annona- riae' geschickt worden ist, so bemühe Dich, dafür zu sorgen, dass wir als Verteiler (5ia.66•ai) für Wein oder Fleisch in unserem Heimatbezirk 12 l oder nur in Antinoopolis ernannt13) werden, damit wir in unserer Gegend bleiben und nicht in fremde Gebiete (reisen müssen). Denn wir wollen nicht die Spreu
(übernehmen), damit nicht die Gefahr besteht, dass sie nicht genommen wird und wir gezwungen sind, den Geldbetrag zu entrichten, wie es im Falle von Silvanus14 l passierte. Wir wollen Wein in Hermopolis oder Antinoopolis oder Fleisch (übernehmen), nur dies beides wollen wir. Und auf keinen Fall über- nimm Gerste. Ich wollte nicht heraufkommen, damit ich nicht dem Ratsdiener begegne und zurückgehalten werde, sondern vertritt mich wie auch sonst, bis Du das Schreiben bekommst.
(2.H.) Lebe wohl."
Bevor ich näher auf die Interpretation dieses Zeugnisses durch Mazzarino und die sich anschliessende Forschungsdiskussion eingehen kann, müssen zu- nächst einige erklärende Bemerkungen zur Erhebung und Verteilung der "annona"
sowie zu den oLaö6•ai erfolgen, denn die kontroverse Deutung des Papyrus be- ruht, wie wir sehen werden, nicht zuletzt auf ungenauen Vorstellungen von dem Ablauf des Steuer- und Besoldungsverfahrens sowie den dabei beteiligten Funk- tionsträgern.
10) Das "breve" (oder "brevis") ist hier die Anordnung zur Erhebung und Verteilung der "annona", vgl. O.Seeck, Art. 'Brevis', RE III, 1899, 832.
11) Es handelt sich dabei wohl nicht um den "rationalis rerum privatarum", wie M.Gelzer (Studien zur byzantinischen Verwaltung Ägyptens, ND v. 1909, Aalen 1974, Addendum zu p.41) und U.Wilcken (bei Gelzer, ebd.) meinen, sondern eher um den "rationalis summarum", s. J.Lallemand, L'administration civile de l'Egypte de l'avenement de Diocletien a la creation du diocese
(284-382), Brüssel 1965, 85 mit A. 2.
12) Hermopolis, s. Gelzer (o.A. 11), 50.
13) Zu 6voµaCEiv/6voµacta als 'terminus technicus' der Verwaltungssprache s. A.K.Bowman, The Town Councils of Roman Egypt (Amer.Stud.Pap. XI), Toronto 1971, 103; N.Lewis, The Compulsory Public Services of Roman Egypt (Pap.Flor.
XI), Florenz 1982, 62.
14) Mazzarino (o.A. 2), 138, und Cerati (o.A. 3), 162 A. 32, begreifen tnt CiA.ßavoü als Zeitangabe ("zu Zeiten des Silvanus") und sehen darin einen An- haltspunkt für die Datierung des Papyrus, da sie mit H.Hübner (Der Praefectus Aegypti von Diokletian bis zum Ende der römischen Herrschaft, München 1952, 109) in dem genannten Silvanus einen ihrer Meinung nach vor 324 amtierenden praef. Aeg. Silvanus vermuten. Letzteren, der von Hübner (ebd.) aus dem frag- mentarisch erhaltenen P.Amh. II 82 nur erschlossen worden ist, dürfte es hin- gegen kaum qegeben haben, s. C.Vandersleyen, Chronologie des prefets d'Egypte de 284 a 395, Brüssel 1962, 70f.; Lallemand (o.A. 11), 237f.
Im übrigen könnte nach der hier gewählten Obersetzung ("im Falle von Sil-
vanus") letzterer ein Bekannter des Achilleus gewesen sein, der selbst ein-
mal als oia.66•nc amtiert hat (freundlicher Hinweis von D.Hagedorn).
Den Ausgangspunkt für den Brief des Achilleus bilden die von den staatli- chen Behörden ergangenen Anordnungen bezüglich der "annona militaris". Letzte- re bezeichnet grundsätzlich die Besoldung und Versorgung von Militärs und Zivilbeamten15 l mit Naturalien, in erster Linie Brotgetreide, Wein, Fleisch und Spreu (als Brennstoff sowie als Futter für die Tiere der Soldaten), also mit den in unserem Papyrus genannten Lebensmitteln. 16 ) Dieser Naturalver- sorgung, die sich spätestens im 3. Jh.n.Chr. in dieser Form durchgesetzt hatte, 17 ) entsprach auf der anderen Seite die Steuererhebung "in specie". Im Laufe des 4. Jhs.n.Chr. nun verstärkte sich, wie bereits gesagt, die Tendenz sowohl zur Steuer- als auch zur Verteilungsadäration, ohne dass jedoch das vorherige System gänzlich abgeschafft worden wäre. Die Form der Steuerzahlung
sowie der Besoldung hing vielmehr, wie vor allem Cerati gezeigt hat, 18 ) auch von lokalen Besonderheiten und aktuellen Gegebenheiten ab, wobei die Adäration
sowohl im Interesse des Fiskus wie des Steuerzahlers liegen konnte. So diente sie etwa im Rahmen der Besoldung zur Vermeidung von hohen Transportkosten oder erleichterte die Steuerentrichtung im Fall von Missernten und Lebens- mittelknappheit.
Herrscht hinsichtlich dieser grossen Entwicklungslinien weitgehend Klar- heit, so stellt sich die Steuer- und Versorgungsorganisation im einzelnen bisweilen noch recht undeutlich dar, zumal in (dem uns hier vornehmlich in- teressierenden) Ägypten, welches sich in dieser Hinsicht von den übrigen Reichsregionen zum Teil beträchtlich unterscheidet. 19 l In Ägypten oblag die Aufgabe der Erhebung und Verteilung der "annona" den Kurien der Städte, an welche die Aufforderung zur Steuerzahlung und -weiterleitung erging. Die Kurien ihrerseits bestimmten dann einzelne Liturgen, die etwa als EnLµEÄni:a(
sowie önoötxi:aL oder
~noötxi:aLdie Steuern (in Naturalien oder in Geld) ein- zogen. 20) Für die Verteilung (oLooocLc, "erogatio") der eingeforderten Güter
15) Auch diese gehören zur "militia", s. K.L.Noethlichs, Beamtentum und Dienstvergehen, Wiesbaden 1981, 20ff.
16) S. etwa CTh VII 4, 4. 6; Val. III., Nov. XIII 3f.; vgl. A.H.M.Jones, The Later Roman Empire 284-602, Oxford 1964, I 628. III 191f. A. 44; J.Kara- yannopulos, Das Finanzwesen des frühbyzantinischen Staates, München 1958,
99ff.; A.C.Johnson/L.C.West, Byzantine Egypt: Economic Studies, Princeton 1949, 220; Noethlichs, Adaeratio (o.A. 3), 104f.
17) Noethlichs, Adaeratio (o.A. 3), 105f.; zu weiteren Bestandteilen der
"annona militaris" s. Johnson/West (o.A. 16), 220.
18) S.o. A. 3.
19) So Jones (o.A. 16), I 456ff. III 124 A. 116; Cerati (o.A. 3), 117ff.;
zu Ägypten nenne ich daneben nur Gelzer (o.A. 11); Lallemand (o.A. 11); A.K.
Bowman, The Military Occupation of Upper Egypt in the Reign of Diocletian, BASP 15,1978,25ff.; J.-M.Carrie, L'Egypte au IVe siecle: fiscalite, economie, societe, in: Proceed. xvith Int. Congr. Papyrol., Chicago 1981, 431ff.
20) Jones (o.A. 16), I 456ff.; Gelzer (o.A. 11), 42ff.; Lallemand (o.A.
11), 205-219; Cerati (o.A. 3), 114ff.; A.Deleage, La capitation au Bas-Empire, Macon 1945,120ff. Zu weiteren an der Steuererhebung beteiligten Personen
(~no.Li:ni:o.C